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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Line Zwickauer Dramaturgie

die neuen Zeitgedanken, die mühsam nach Worten suchten, und die neuen
Worte, in denen sie sich offenbarten, so gut es ging zu erHaschen und festzu¬
halten, und da, wo ich beide am reinsten und unverfälschtesten vorfand, griff
ich hastig zu, unbekümmert, ob darüber vielleicht ein andrer Dichter, der es
ebenso verdient hätte, in den Hintergrund geschoben wurde." So aber, wie
sich der Zwickauer Dramaturg in tendenziöser Leidenschaft und Einseitigkeit ab¬
schließt, darf kein Kritiker verfahren, dessen Buch sich durch den dogmatischen
Ernst seiner Gedanken, die Wucht seiner Gesellschaftskritik, die Prophetie seiner
Zukunftsverheißungen von der sensationellen Augenblickskritik unterscheidet.

Wenn Steiger unter der Losung "laßt uns Männer schaffen" alles bei¬
seite schiebt, was sich seinem Pathos nicht anschließt, und die Gefallnen von
Gravelotte und Sedan, wie alle vaterländisch Gesinnten, allenfalls nur für
"Knechte," nicht für "Männer" gelten läßt, wenn er "in Darwins furchtbarem
Gesetz der Vererbung und der Anpassung" das antike Schicksal neu geboren
sieht, so weiß er doch sehr wohl, daß, wie auch die Zukunft Deutschlands falle,
dem wirklichen Dichter die Bevorzugung andrer Aufgaben als sozialpolitischer
in seinem Sinne nicht verübelt werden kann, und daß, wenn dereinst Darwins
Gesetz oder vielmehr dessen falsche Anwendung überwunden sein wird, dessen
Nachglanz in echten Dichtwerken nicht mehr zu bedeuten haben wird als der
Nachglanz Schellingscher Naturphilosophie in etwelchen Romantikern. Steiger
spitzt das für die Dichtung als Voraussetzung geforderte moderne Naturerkennen
daraufhin zu, daß er meint, "wo man ehedem auch in der Kunst ganz gemütlich
von einer bestimmten Tugend, von einem bestimmten Laster, von einem be¬
stimmten Gefühl redete, da sieht der moderne Dichter ein ganzes Chaos
streitender Empfindungen. So wird das Seelenleben gewissermaßen ganz von
selbst in seinen unscheinbarsten Regungen dramatisch zugespitzt. Wir leben im
Zeitalter des Mikroskops, das dürfen wir nicht vergessen. -- So viel auch über
den Darwinismus in der Kunst geschrieben wurde, an das kleine unscheinbare
Instrument, das in unsern Tagen die ganze Welt der Wissenschaft revolutionirte,
hat noch niemand gedacht. Und doch wird ein künftiger Geschichtschreiber den
innern Zusammenhang zwischen dem Mikroskop und den mikroskopischen Augen
der modernen Künstler klarlegen müssen, um den dramatischen Charakter unsers
Kunstlebens als eine geschichtliche Notwendigkeit nachzuweisen." Hierdurch
aber liefert er seinen Gegnern die stärkste Waffe in die Hand. Denn dagegen,
daß auch der größte Physiolog seine Kinder im Traum zeugt, daß, wie dem
Liebestrunknen alle Einzelheiten und Reize der Gestalt zu dem Einen zusammen¬
gehen müssen, was dann der Nüchterne in Gottes Namen Sinnentäuschung
heißen mag, daß wir immer und immer wieder vom Künstler und Dichter
Ganzheit des Lebens zu fordern haben, ist eben nicht auszukommen. Und der
Zwickauer Dramaturg weiß das auch ganz gut und verrät es an hundert
andern Stellen seines Buches.


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die neuen Zeitgedanken, die mühsam nach Worten suchten, und die neuen
Worte, in denen sie sich offenbarten, so gut es ging zu erHaschen und festzu¬
halten, und da, wo ich beide am reinsten und unverfälschtesten vorfand, griff
ich hastig zu, unbekümmert, ob darüber vielleicht ein andrer Dichter, der es
ebenso verdient hätte, in den Hintergrund geschoben wurde." So aber, wie
sich der Zwickauer Dramaturg in tendenziöser Leidenschaft und Einseitigkeit ab¬
schließt, darf kein Kritiker verfahren, dessen Buch sich durch den dogmatischen
Ernst seiner Gedanken, die Wucht seiner Gesellschaftskritik, die Prophetie seiner
Zukunftsverheißungen von der sensationellen Augenblickskritik unterscheidet.

Wenn Steiger unter der Losung „laßt uns Männer schaffen" alles bei¬
seite schiebt, was sich seinem Pathos nicht anschließt, und die Gefallnen von
Gravelotte und Sedan, wie alle vaterländisch Gesinnten, allenfalls nur für
„Knechte," nicht für „Männer" gelten läßt, wenn er „in Darwins furchtbarem
Gesetz der Vererbung und der Anpassung" das antike Schicksal neu geboren
sieht, so weiß er doch sehr wohl, daß, wie auch die Zukunft Deutschlands falle,
dem wirklichen Dichter die Bevorzugung andrer Aufgaben als sozialpolitischer
in seinem Sinne nicht verübelt werden kann, und daß, wenn dereinst Darwins
Gesetz oder vielmehr dessen falsche Anwendung überwunden sein wird, dessen
Nachglanz in echten Dichtwerken nicht mehr zu bedeuten haben wird als der
Nachglanz Schellingscher Naturphilosophie in etwelchen Romantikern. Steiger
spitzt das für die Dichtung als Voraussetzung geforderte moderne Naturerkennen
daraufhin zu, daß er meint, „wo man ehedem auch in der Kunst ganz gemütlich
von einer bestimmten Tugend, von einem bestimmten Laster, von einem be¬
stimmten Gefühl redete, da sieht der moderne Dichter ein ganzes Chaos
streitender Empfindungen. So wird das Seelenleben gewissermaßen ganz von
selbst in seinen unscheinbarsten Regungen dramatisch zugespitzt. Wir leben im
Zeitalter des Mikroskops, das dürfen wir nicht vergessen. — So viel auch über
den Darwinismus in der Kunst geschrieben wurde, an das kleine unscheinbare
Instrument, das in unsern Tagen die ganze Welt der Wissenschaft revolutionirte,
hat noch niemand gedacht. Und doch wird ein künftiger Geschichtschreiber den
innern Zusammenhang zwischen dem Mikroskop und den mikroskopischen Augen
der modernen Künstler klarlegen müssen, um den dramatischen Charakter unsers
Kunstlebens als eine geschichtliche Notwendigkeit nachzuweisen." Hierdurch
aber liefert er seinen Gegnern die stärkste Waffe in die Hand. Denn dagegen,
daß auch der größte Physiolog seine Kinder im Traum zeugt, daß, wie dem
Liebestrunknen alle Einzelheiten und Reize der Gestalt zu dem Einen zusammen¬
gehen müssen, was dann der Nüchterne in Gottes Namen Sinnentäuschung
heißen mag, daß wir immer und immer wieder vom Künstler und Dichter
Ganzheit des Lebens zu fordern haben, ist eben nicht auszukommen. Und der
Zwickauer Dramaturg weiß das auch ganz gut und verrät es an hundert
andern Stellen seines Buches.


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[0620] Line Zwickauer Dramaturgie die neuen Zeitgedanken, die mühsam nach Worten suchten, und die neuen Worte, in denen sie sich offenbarten, so gut es ging zu erHaschen und festzu¬ halten, und da, wo ich beide am reinsten und unverfälschtesten vorfand, griff ich hastig zu, unbekümmert, ob darüber vielleicht ein andrer Dichter, der es ebenso verdient hätte, in den Hintergrund geschoben wurde." So aber, wie sich der Zwickauer Dramaturg in tendenziöser Leidenschaft und Einseitigkeit ab¬ schließt, darf kein Kritiker verfahren, dessen Buch sich durch den dogmatischen Ernst seiner Gedanken, die Wucht seiner Gesellschaftskritik, die Prophetie seiner Zukunftsverheißungen von der sensationellen Augenblickskritik unterscheidet. Wenn Steiger unter der Losung „laßt uns Männer schaffen" alles bei¬ seite schiebt, was sich seinem Pathos nicht anschließt, und die Gefallnen von Gravelotte und Sedan, wie alle vaterländisch Gesinnten, allenfalls nur für „Knechte," nicht für „Männer" gelten läßt, wenn er „in Darwins furchtbarem Gesetz der Vererbung und der Anpassung" das antike Schicksal neu geboren sieht, so weiß er doch sehr wohl, daß, wie auch die Zukunft Deutschlands falle, dem wirklichen Dichter die Bevorzugung andrer Aufgaben als sozialpolitischer in seinem Sinne nicht verübelt werden kann, und daß, wenn dereinst Darwins Gesetz oder vielmehr dessen falsche Anwendung überwunden sein wird, dessen Nachglanz in echten Dichtwerken nicht mehr zu bedeuten haben wird als der Nachglanz Schellingscher Naturphilosophie in etwelchen Romantikern. Steiger spitzt das für die Dichtung als Voraussetzung geforderte moderne Naturerkennen daraufhin zu, daß er meint, „wo man ehedem auch in der Kunst ganz gemütlich von einer bestimmten Tugend, von einem bestimmten Laster, von einem be¬ stimmten Gefühl redete, da sieht der moderne Dichter ein ganzes Chaos streitender Empfindungen. So wird das Seelenleben gewissermaßen ganz von selbst in seinen unscheinbarsten Regungen dramatisch zugespitzt. Wir leben im Zeitalter des Mikroskops, das dürfen wir nicht vergessen. — So viel auch über den Darwinismus in der Kunst geschrieben wurde, an das kleine unscheinbare Instrument, das in unsern Tagen die ganze Welt der Wissenschaft revolutionirte, hat noch niemand gedacht. Und doch wird ein künftiger Geschichtschreiber den innern Zusammenhang zwischen dem Mikroskop und den mikroskopischen Augen der modernen Künstler klarlegen müssen, um den dramatischen Charakter unsers Kunstlebens als eine geschichtliche Notwendigkeit nachzuweisen." Hierdurch aber liefert er seinen Gegnern die stärkste Waffe in die Hand. Denn dagegen, daß auch der größte Physiolog seine Kinder im Traum zeugt, daß, wie dem Liebestrunknen alle Einzelheiten und Reize der Gestalt zu dem Einen zusammen¬ gehen müssen, was dann der Nüchterne in Gottes Namen Sinnentäuschung heißen mag, daß wir immer und immer wieder vom Künstler und Dichter Ganzheit des Lebens zu fordern haben, ist eben nicht auszukommen. Und der Zwickauer Dramaturg weiß das auch ganz gut und verrät es an hundert andern Stellen seines Buches.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/620>, abgerufen am 01.09.2024.