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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

sich einmal den deutschen Bauern ohne die Kunst des Lesens und Schreibens,
sein Haus als eine Erdhöhle, seinen Hof ohne Stallungen und Scheunen, sein
Zugvieh als verhungerte Kühe, seine Maschinen als ein paar elende Holzpflüge,
so hat man ungefähr den anatolischen Bauern. Nun denke man sich, einige
Fremdlinge, die nicht einmal seine Sprache sprächen, versuchten es, ihn oder
vielmehr hunderttausend seinesgleichen von der ausgedehntesten Bräche zum
Fruchtwechsel, vom Durchhungern des Viehs im Winter zur Stallfütterung,
von der Weidewirtschaft zum Wiesenbau, von seinem Holzpflug zu mannig¬
faltigen Saat- und Erntemaschinen zu überreden -- wieviel Jahrzehnte oder
Menschenalter würden wohl dazu nötig sein? Es ist durch mannigfaltige Er¬
fahrung bekannt, wie schwer es schon ist, deutsche Bauern zum Aufgeben des
Gewohnten und Hergebrachten zu bewegen. Darf man dem anatolischen Bauern
eine so viel größere Sprungkraft zutrauen und so viel Lernbegier dem, der
doch die fränkische Kultur gewiß nur mit Mißtrauen kommen sieht?

Nun giebt es freilich auch Großgrundbesitzer, die sehr wohl begreifen,
was hohe Getreidepreise für sie bedeuten, die Lust und auch Kapital genug
haben, einen großen europäischen Betrieb anzufangen. Aber wie sollen sie das
machen? Zunächst reden sie nur davon. Es hat noch keiner einen nennens¬
werten Anfang gemacht, obwohl Eskischehir nun schon sechs Jahre Bahnverkehr
hat. Ich glaube, daß ein deutscher Professor der orientalischen Sprachen mit
Hilfe eines Konversationslexikons leichter in einen modernen Landwirt umzu¬
wandeln wäre, als diese Grundbesitzer von zwei- bis dreitausend Hektar Land,
auf deren sogenannten Landgütern außer einem baufälligen, zweistöckigen Wohn¬
haus und drei bis vier Bäumen geradezu alles fehlt, und deren unbeholfne
Versuche in zehn Jahren das nicht erreichen werden, was ein europäischer
Landwirt in zwei Jahren schafft. Diese Leute sind zum Teil reich. Man
erzählt von manchem, daß er zwanzigtausend Mark bar zahlen kann. Sie
wollen auch gern nach europäischer Art wirtschaften, Maschinen kaufen und
den Getreidebau ausdehnen, während bisher ihre Ernte zum größten Teil in
Heu bestand. Aber nach der Ansicht der dort lebenden Europäer wäre es
falsch, von ihnen Erfolge zu erwarten. Sie werden bei einigen Ankäufen ihr
Geld zusetzen und dann die Finger davon lassen. Es ist schon für einen
Europäer eine sehr schwierige Aufgabe, dort eine rentable Wirtschaft zusammen¬
zubauen, geschweige für so einen armen, unwissenden Orientalen. Man wird
aber in wenig Jahren aus einem Orientalen kein Europäer, zumal wenn
man gar keine Lust dazu hat. Vor allem fehlt allen Orientalen eins, was
die eigentliche und vielleicht einzige Virws des Europäers im neunzehnten
Jahrhundert ausmacht: die Lust zur Arbeit. Anfangen können sie wohl, aber
durchsetzen und vollenden nicht, es müßte denn ein Dreitagewerk sein. Sie
halten das Nichtsthun für gesünder, als die Jagd nach dem Gold, und mögen
darin recht haben. Nur soll man von solchen Leuten keine Leistungen erwarten.


Was ist uns Anatolien?

sich einmal den deutschen Bauern ohne die Kunst des Lesens und Schreibens,
sein Haus als eine Erdhöhle, seinen Hof ohne Stallungen und Scheunen, sein
Zugvieh als verhungerte Kühe, seine Maschinen als ein paar elende Holzpflüge,
so hat man ungefähr den anatolischen Bauern. Nun denke man sich, einige
Fremdlinge, die nicht einmal seine Sprache sprächen, versuchten es, ihn oder
vielmehr hunderttausend seinesgleichen von der ausgedehntesten Bräche zum
Fruchtwechsel, vom Durchhungern des Viehs im Winter zur Stallfütterung,
von der Weidewirtschaft zum Wiesenbau, von seinem Holzpflug zu mannig¬
faltigen Saat- und Erntemaschinen zu überreden — wieviel Jahrzehnte oder
Menschenalter würden wohl dazu nötig sein? Es ist durch mannigfaltige Er¬
fahrung bekannt, wie schwer es schon ist, deutsche Bauern zum Aufgeben des
Gewohnten und Hergebrachten zu bewegen. Darf man dem anatolischen Bauern
eine so viel größere Sprungkraft zutrauen und so viel Lernbegier dem, der
doch die fränkische Kultur gewiß nur mit Mißtrauen kommen sieht?

Nun giebt es freilich auch Großgrundbesitzer, die sehr wohl begreifen,
was hohe Getreidepreise für sie bedeuten, die Lust und auch Kapital genug
haben, einen großen europäischen Betrieb anzufangen. Aber wie sollen sie das
machen? Zunächst reden sie nur davon. Es hat noch keiner einen nennens¬
werten Anfang gemacht, obwohl Eskischehir nun schon sechs Jahre Bahnverkehr
hat. Ich glaube, daß ein deutscher Professor der orientalischen Sprachen mit
Hilfe eines Konversationslexikons leichter in einen modernen Landwirt umzu¬
wandeln wäre, als diese Grundbesitzer von zwei- bis dreitausend Hektar Land,
auf deren sogenannten Landgütern außer einem baufälligen, zweistöckigen Wohn¬
haus und drei bis vier Bäumen geradezu alles fehlt, und deren unbeholfne
Versuche in zehn Jahren das nicht erreichen werden, was ein europäischer
Landwirt in zwei Jahren schafft. Diese Leute sind zum Teil reich. Man
erzählt von manchem, daß er zwanzigtausend Mark bar zahlen kann. Sie
wollen auch gern nach europäischer Art wirtschaften, Maschinen kaufen und
den Getreidebau ausdehnen, während bisher ihre Ernte zum größten Teil in
Heu bestand. Aber nach der Ansicht der dort lebenden Europäer wäre es
falsch, von ihnen Erfolge zu erwarten. Sie werden bei einigen Ankäufen ihr
Geld zusetzen und dann die Finger davon lassen. Es ist schon für einen
Europäer eine sehr schwierige Aufgabe, dort eine rentable Wirtschaft zusammen¬
zubauen, geschweige für so einen armen, unwissenden Orientalen. Man wird
aber in wenig Jahren aus einem Orientalen kein Europäer, zumal wenn
man gar keine Lust dazu hat. Vor allem fehlt allen Orientalen eins, was
die eigentliche und vielleicht einzige Virws des Europäers im neunzehnten
Jahrhundert ausmacht: die Lust zur Arbeit. Anfangen können sie wohl, aber
durchsetzen und vollenden nicht, es müßte denn ein Dreitagewerk sein. Sie
halten das Nichtsthun für gesünder, als die Jagd nach dem Gold, und mögen
darin recht haben. Nur soll man von solchen Leuten keine Leistungen erwarten.


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[0593] Was ist uns Anatolien? sich einmal den deutschen Bauern ohne die Kunst des Lesens und Schreibens, sein Haus als eine Erdhöhle, seinen Hof ohne Stallungen und Scheunen, sein Zugvieh als verhungerte Kühe, seine Maschinen als ein paar elende Holzpflüge, so hat man ungefähr den anatolischen Bauern. Nun denke man sich, einige Fremdlinge, die nicht einmal seine Sprache sprächen, versuchten es, ihn oder vielmehr hunderttausend seinesgleichen von der ausgedehntesten Bräche zum Fruchtwechsel, vom Durchhungern des Viehs im Winter zur Stallfütterung, von der Weidewirtschaft zum Wiesenbau, von seinem Holzpflug zu mannig¬ faltigen Saat- und Erntemaschinen zu überreden — wieviel Jahrzehnte oder Menschenalter würden wohl dazu nötig sein? Es ist durch mannigfaltige Er¬ fahrung bekannt, wie schwer es schon ist, deutsche Bauern zum Aufgeben des Gewohnten und Hergebrachten zu bewegen. Darf man dem anatolischen Bauern eine so viel größere Sprungkraft zutrauen und so viel Lernbegier dem, der doch die fränkische Kultur gewiß nur mit Mißtrauen kommen sieht? Nun giebt es freilich auch Großgrundbesitzer, die sehr wohl begreifen, was hohe Getreidepreise für sie bedeuten, die Lust und auch Kapital genug haben, einen großen europäischen Betrieb anzufangen. Aber wie sollen sie das machen? Zunächst reden sie nur davon. Es hat noch keiner einen nennens¬ werten Anfang gemacht, obwohl Eskischehir nun schon sechs Jahre Bahnverkehr hat. Ich glaube, daß ein deutscher Professor der orientalischen Sprachen mit Hilfe eines Konversationslexikons leichter in einen modernen Landwirt umzu¬ wandeln wäre, als diese Grundbesitzer von zwei- bis dreitausend Hektar Land, auf deren sogenannten Landgütern außer einem baufälligen, zweistöckigen Wohn¬ haus und drei bis vier Bäumen geradezu alles fehlt, und deren unbeholfne Versuche in zehn Jahren das nicht erreichen werden, was ein europäischer Landwirt in zwei Jahren schafft. Diese Leute sind zum Teil reich. Man erzählt von manchem, daß er zwanzigtausend Mark bar zahlen kann. Sie wollen auch gern nach europäischer Art wirtschaften, Maschinen kaufen und den Getreidebau ausdehnen, während bisher ihre Ernte zum größten Teil in Heu bestand. Aber nach der Ansicht der dort lebenden Europäer wäre es falsch, von ihnen Erfolge zu erwarten. Sie werden bei einigen Ankäufen ihr Geld zusetzen und dann die Finger davon lassen. Es ist schon für einen Europäer eine sehr schwierige Aufgabe, dort eine rentable Wirtschaft zusammen¬ zubauen, geschweige für so einen armen, unwissenden Orientalen. Man wird aber in wenig Jahren aus einem Orientalen kein Europäer, zumal wenn man gar keine Lust dazu hat. Vor allem fehlt allen Orientalen eins, was die eigentliche und vielleicht einzige Virws des Europäers im neunzehnten Jahrhundert ausmacht: die Lust zur Arbeit. Anfangen können sie wohl, aber durchsetzen und vollenden nicht, es müßte denn ein Dreitagewerk sein. Sie halten das Nichtsthun für gesünder, als die Jagd nach dem Gold, und mögen darin recht haben. Nur soll man von solchen Leuten keine Leistungen erwarten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/593>, abgerufen am 28.07.2024.