Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches keinen Fall als die Hauptsache angesehen werden. Sehr schwierig ist freilich Zunächst ist jetzt endlich zu verlangen Wahrhaftigkeit über Sitz und Wesen Es ist zum Erschrecken, wie geflissentlich und konsequent man sich selbst und Man darf wohl behaupten, daß in Berlin --- und in den übrigen sozial¬ Das sei zunächst einmal ans Grund ausgiebigster Kenntnis der Thatsachen und Maßgebliches und Unmaßgebliches keinen Fall als die Hauptsache angesehen werden. Sehr schwierig ist freilich Zunächst ist jetzt endlich zu verlangen Wahrhaftigkeit über Sitz und Wesen Es ist zum Erschrecken, wie geflissentlich und konsequent man sich selbst und Man darf wohl behaupten, daß in Berlin —- und in den übrigen sozial¬ Das sei zunächst einmal ans Grund ausgiebigster Kenntnis der Thatsachen und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0587" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228889"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2008" prev="#ID_2007"> keinen Fall als die Hauptsache angesehen werden. Sehr schwierig ist freilich<lb/> auch sie in ihrer Ausführung, und wenn sie leichtfertig in Angriff genommen<lb/> würde, dann würde wahrscheinlich die ganze Kur verpfuscht und wirkungslos,<lb/> vielleicht die Krankheit verschlimmert werden. Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und<lb/> Menschenliebe, sie müssen anch bei diesem schweren Erziehungswerk von Anfang bis<lb/> zu Ende die Leitsterne sein. Wenn der Staat sich vermessen sollte, ohne sie aus¬<lb/> zukommen im Kampfe mit Hilfe der Polizei und der Gerichte — und es wird<lb/> an solchen brutalen Ratschlägen nicht fehlen —, so ließe man besser von vorn¬<lb/> herein alle Hoffnung fahren. Wir wollen hier von dieser Seite der Aufgabe nicht<lb/> weiter sprechen. Wahrscheinlich wird sich noch häufig genug die Notwendigkeit<lb/> ergeben, darüber ein ernstes Wort zu reden. Auch über die soziale Seite des<lb/> Kampfs gegen die krankhafte Entartung der Gesellschaft, als deren Symptom die<lb/> anarchistischen Wutausbrüche, ja der Anarchismus überhaupt zu betrachten ist, müssen<lb/> hier einige kurze Andeutungen genügen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2009"> Zunächst ist jetzt endlich zu verlangen Wahrhaftigkeit über Sitz und Wesen<lb/> der Krankheit selbst. Wo herrscht die sittliche und soziale Entartung, wo ist der<lb/> Herd der krankhaften Anschauungen und Vorstellungen, aus denen die anarchi¬<lb/> stischen Übertreibungen emporwachsen bis zum Meuchelmorde?</p><lb/> <p xml:id="ID_2010"> Es ist zum Erschrecken, wie geflissentlich und konsequent man sich selbst und<lb/> andre darüber zu belügen sucht. Auch hier heißt es: zu neun Zehnteln Lüge, zu<lb/> einem Narrheit. Mit allem Raffinement sucht man in den sozialistischen — im<lb/> Unterschiede zu den sozialdemokrntischen ist das Wort hier gebraucht — wie in den<lb/> demokratischen Kreisen die Sache so darzustellen, als ob die krankhafte Entartung<lb/> durchaus auf die kleine Rotte beschränkt sei, die sich selbst als die der Anarchisten<lb/> bezeichnet, die freilich aber nirgends recht scharf begrenzt werden kann: als ob<lb/> ein scharfer Gegensatz herrsche zwischen den Anschauungen und Vorstellungen der<lb/> Arbeiter, die sich zur anarchistische» Partei bekennen, und denen der durch die<lb/> sozialistischen Bemühungen zum Klassenbewußtsein und zum Klassenhaß „emporent¬<lb/> wickelten" Arbeitermassen. Und doch weiß man genau, zumal in den Bureaus der<lb/> Tageszeitungen aller Farben, daß der Unterschied zwischen der sozialdemokrntischen<lb/> und der anarchistischen Theorie gar nichts mit der Krankheit, um die es sich handelt,<lb/> zu thun hat, sondern daß sich die sozialdemokratischen Wünsche und Gefühle unsrer<lb/> Arbeitermassen thatsächlich ohne jede Scheidewand und Grenzmnrke und wesentlich<lb/> gleichartig fortsetzen und zuspitzen in den anarchistischen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2011"> Man darf wohl behaupten, daß in Berlin —- und in den übrigen sozial¬<lb/> demokratisch „emporentwickelten" Industriebezirken Deutschlands, zumal Norddeutsch-<lb/> lands, steht es nicht anders — kein Ladeninhaber mit Arbeiterkundschaft, kein Klein¬<lb/> industrieller oder Werkmeister, der mit sozialdemokratischen Arbeitern unmittelbar in<lb/> Berührung steht und ihren Gedankenaustausch als Ohrenzeuge kennt, niemand über¬<lb/> haupt, der die Arbeiter reden hört, wie sie denken, nicht die Erfahrung gemacht<lb/> hat, daß der niederträchtige Meuchelmord in Genf von unsern sozial¬<lb/> demokratisch erzognen Industriearbeitern nicht mit Abscheu und Be¬<lb/> dauern, sondern mit Schadenfreude und hämischer Genugthuung auf-<lb/> genommen worden ist. /</p><lb/> <p xml:id="ID_2012" next="#ID_2013"> Das sei zunächst einmal ans Grund ausgiebigster Kenntnis der Thatsachen und<lb/> nach gewissenhafter Prüfung der eignen Erfahrungen im Vergleich mit fremden<lb/> rücksichtslos ausgesprochen. Das ostensible Ablehnen der Zustimmung zu der von<lb/> der Stadt Berlin der österreichischen Hauptstadt übermittelten Beileidsknndgebnng<lb/> ans der Seite der sozialdemokratischen Stadtverordneten, so unerhört die dadurch</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0587]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
keinen Fall als die Hauptsache angesehen werden. Sehr schwierig ist freilich
auch sie in ihrer Ausführung, und wenn sie leichtfertig in Angriff genommen
würde, dann würde wahrscheinlich die ganze Kur verpfuscht und wirkungslos,
vielleicht die Krankheit verschlimmert werden. Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und
Menschenliebe, sie müssen anch bei diesem schweren Erziehungswerk von Anfang bis
zu Ende die Leitsterne sein. Wenn der Staat sich vermessen sollte, ohne sie aus¬
zukommen im Kampfe mit Hilfe der Polizei und der Gerichte — und es wird
an solchen brutalen Ratschlägen nicht fehlen —, so ließe man besser von vorn¬
herein alle Hoffnung fahren. Wir wollen hier von dieser Seite der Aufgabe nicht
weiter sprechen. Wahrscheinlich wird sich noch häufig genug die Notwendigkeit
ergeben, darüber ein ernstes Wort zu reden. Auch über die soziale Seite des
Kampfs gegen die krankhafte Entartung der Gesellschaft, als deren Symptom die
anarchistischen Wutausbrüche, ja der Anarchismus überhaupt zu betrachten ist, müssen
hier einige kurze Andeutungen genügen.
Zunächst ist jetzt endlich zu verlangen Wahrhaftigkeit über Sitz und Wesen
der Krankheit selbst. Wo herrscht die sittliche und soziale Entartung, wo ist der
Herd der krankhaften Anschauungen und Vorstellungen, aus denen die anarchi¬
stischen Übertreibungen emporwachsen bis zum Meuchelmorde?
Es ist zum Erschrecken, wie geflissentlich und konsequent man sich selbst und
andre darüber zu belügen sucht. Auch hier heißt es: zu neun Zehnteln Lüge, zu
einem Narrheit. Mit allem Raffinement sucht man in den sozialistischen — im
Unterschiede zu den sozialdemokrntischen ist das Wort hier gebraucht — wie in den
demokratischen Kreisen die Sache so darzustellen, als ob die krankhafte Entartung
durchaus auf die kleine Rotte beschränkt sei, die sich selbst als die der Anarchisten
bezeichnet, die freilich aber nirgends recht scharf begrenzt werden kann: als ob
ein scharfer Gegensatz herrsche zwischen den Anschauungen und Vorstellungen der
Arbeiter, die sich zur anarchistische» Partei bekennen, und denen der durch die
sozialistischen Bemühungen zum Klassenbewußtsein und zum Klassenhaß „emporent¬
wickelten" Arbeitermassen. Und doch weiß man genau, zumal in den Bureaus der
Tageszeitungen aller Farben, daß der Unterschied zwischen der sozialdemokrntischen
und der anarchistischen Theorie gar nichts mit der Krankheit, um die es sich handelt,
zu thun hat, sondern daß sich die sozialdemokratischen Wünsche und Gefühle unsrer
Arbeitermassen thatsächlich ohne jede Scheidewand und Grenzmnrke und wesentlich
gleichartig fortsetzen und zuspitzen in den anarchistischen.
Man darf wohl behaupten, daß in Berlin —- und in den übrigen sozial¬
demokratisch „emporentwickelten" Industriebezirken Deutschlands, zumal Norddeutsch-
lands, steht es nicht anders — kein Ladeninhaber mit Arbeiterkundschaft, kein Klein¬
industrieller oder Werkmeister, der mit sozialdemokratischen Arbeitern unmittelbar in
Berührung steht und ihren Gedankenaustausch als Ohrenzeuge kennt, niemand über¬
haupt, der die Arbeiter reden hört, wie sie denken, nicht die Erfahrung gemacht
hat, daß der niederträchtige Meuchelmord in Genf von unsern sozial¬
demokratisch erzognen Industriearbeitern nicht mit Abscheu und Be¬
dauern, sondern mit Schadenfreude und hämischer Genugthuung auf-
genommen worden ist. /
Das sei zunächst einmal ans Grund ausgiebigster Kenntnis der Thatsachen und
nach gewissenhafter Prüfung der eignen Erfahrungen im Vergleich mit fremden
rücksichtslos ausgesprochen. Das ostensible Ablehnen der Zustimmung zu der von
der Stadt Berlin der österreichischen Hauptstadt übermittelten Beileidsknndgebnng
ans der Seite der sozialdemokratischen Stadtverordneten, so unerhört die dadurch
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