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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

es besser, Anatolien nicht zu vergleichen mit dem, was es ehemals war,
sondern mit Ländern der Gegenwart, die der Kulturarbeit die gleichen Hinder¬
nisse und Hilfen bieten, mit Ländern wie Algier, Rumänien. Kalifornien und
Argentinien.

Anatolien ist das Land, von dem sich manche Zukunftspolitiker großes
für uns versprechen. Das deutsche Volk hat einige schöne Stücke von Afrika
im Besitz; es hat jetzt anch wieder ein schönes Stückchen China beschert be¬
kommen; aber es hat noch nicht das, was es sich wünscht, nämlich Ackerbau¬
kolonien. Da hat man auf Anatolien hingewiesen; und in der That: Platz
wäre hier noch genug. Länder wie kleine deutsche Fürstentümer liegen hier
längs der Bahn nach Koma und Angora, und gewiß mehr noch abseits davon,
unbebaut und unbewohnt. Die Muhadschirs, die Flüchtlinge aus dem ehe¬
mals muhammedanischen Europa, um deren Konkurrenz willen es Kaerger für
die höchste Zeit erklärt, wenn man Ansiedlungen gründen will, werden noch
lange einwandern können, ehe sie dieses Land stillen, ganz abgesehen davon,
daß sie doch hier wahrscheinlich vor der christlichen Kultur ebenso gut nach
Osten zurückweichen würden, wie sie es in Europa gethan haben.

Auch die physischen Bedingungen des Ackerbaus wären vorhanden, und mit
dem bischen Räuberei im Lande würden deutsche Ansiedler wohl bald fertig
werden. Der einzige ernsthafte Feind wäre die Malaria. Trotz des gemäßigten
Klimas, und obgleich Anatolien ein Hochland ist, dessen Thalebuen höher liegen
als die Spitzen des Thüringer Waldes, giebt es hier viel Malaria, die zwar
nicht so bösartig ist wie in den Tropen, aber die doch die Arbeitsfähigkeit der
Beamten und besonders die Entwicklung der deutschen Kinder an den Bahn¬
stationen sichtlich beeinträchtigt. Wer bisher Anatolien besucht hat, hat die
Fiebergefährlichkeit des Landes nicht genügend betont; vielleicht deshalb, weil
sie sich thatsächlich erst im Laufe der Jahre gezeigt hat. Die Deutschen be¬
kommen mehr Fieber als die Einheimischen, erstens weil sie Nordländer sind,
und zweitens, weil sie es verstanden haben, ihre Stationen gerade an die un¬
günstigsten Stellen zu bringen, nämlich immer in die Thalmitte und in die
Nähe der Sümpfe, wo sich Einheimische nicht anbauen. Auch in Algier fanden
die französischen Einwandrer die Thalebne leer, nahmen sie in Besitz, litten
schwer unter der Malaria und besiegten sie durch Anbau, sodaß ehemals ver¬
rufne Orte jetzt aus eigner Kraft weiter wachsen. So könnte man auch hier
erwarten, in einigen Jahrzehnten ihrer Herr zu werden. Denn es ist die Ver¬
nachlässigung der Flußläufe und außerdem die eigentümliche Art der Ein-
gebornen, ihre Wiesen zu bewässern, der sie ihre Entstehung verdankt. Ein
Hochland mit so rapiden Gefälle muß leicht gesund zu machen sein. Die malaria¬
freien Orte gelten als sehr gesund. Ich will aber folgende Beobachtung aus
Algier nicht unterschlagen: Alle europäischen Rassen in Algier vermehren sich
rasch durch Geburtenüberschuß, auch die Franzosen, nur nicht die Deutschen,


Was ist uns Anatolien?

es besser, Anatolien nicht zu vergleichen mit dem, was es ehemals war,
sondern mit Ländern der Gegenwart, die der Kulturarbeit die gleichen Hinder¬
nisse und Hilfen bieten, mit Ländern wie Algier, Rumänien. Kalifornien und
Argentinien.

Anatolien ist das Land, von dem sich manche Zukunftspolitiker großes
für uns versprechen. Das deutsche Volk hat einige schöne Stücke von Afrika
im Besitz; es hat jetzt anch wieder ein schönes Stückchen China beschert be¬
kommen; aber es hat noch nicht das, was es sich wünscht, nämlich Ackerbau¬
kolonien. Da hat man auf Anatolien hingewiesen; und in der That: Platz
wäre hier noch genug. Länder wie kleine deutsche Fürstentümer liegen hier
längs der Bahn nach Koma und Angora, und gewiß mehr noch abseits davon,
unbebaut und unbewohnt. Die Muhadschirs, die Flüchtlinge aus dem ehe¬
mals muhammedanischen Europa, um deren Konkurrenz willen es Kaerger für
die höchste Zeit erklärt, wenn man Ansiedlungen gründen will, werden noch
lange einwandern können, ehe sie dieses Land stillen, ganz abgesehen davon,
daß sie doch hier wahrscheinlich vor der christlichen Kultur ebenso gut nach
Osten zurückweichen würden, wie sie es in Europa gethan haben.

Auch die physischen Bedingungen des Ackerbaus wären vorhanden, und mit
dem bischen Räuberei im Lande würden deutsche Ansiedler wohl bald fertig
werden. Der einzige ernsthafte Feind wäre die Malaria. Trotz des gemäßigten
Klimas, und obgleich Anatolien ein Hochland ist, dessen Thalebuen höher liegen
als die Spitzen des Thüringer Waldes, giebt es hier viel Malaria, die zwar
nicht so bösartig ist wie in den Tropen, aber die doch die Arbeitsfähigkeit der
Beamten und besonders die Entwicklung der deutschen Kinder an den Bahn¬
stationen sichtlich beeinträchtigt. Wer bisher Anatolien besucht hat, hat die
Fiebergefährlichkeit des Landes nicht genügend betont; vielleicht deshalb, weil
sie sich thatsächlich erst im Laufe der Jahre gezeigt hat. Die Deutschen be¬
kommen mehr Fieber als die Einheimischen, erstens weil sie Nordländer sind,
und zweitens, weil sie es verstanden haben, ihre Stationen gerade an die un¬
günstigsten Stellen zu bringen, nämlich immer in die Thalmitte und in die
Nähe der Sümpfe, wo sich Einheimische nicht anbauen. Auch in Algier fanden
die französischen Einwandrer die Thalebne leer, nahmen sie in Besitz, litten
schwer unter der Malaria und besiegten sie durch Anbau, sodaß ehemals ver¬
rufne Orte jetzt aus eigner Kraft weiter wachsen. So könnte man auch hier
erwarten, in einigen Jahrzehnten ihrer Herr zu werden. Denn es ist die Ver¬
nachlässigung der Flußläufe und außerdem die eigentümliche Art der Ein-
gebornen, ihre Wiesen zu bewässern, der sie ihre Entstehung verdankt. Ein
Hochland mit so rapiden Gefälle muß leicht gesund zu machen sein. Die malaria¬
freien Orte gelten als sehr gesund. Ich will aber folgende Beobachtung aus
Algier nicht unterschlagen: Alle europäischen Rassen in Algier vermehren sich
rasch durch Geburtenüberschuß, auch die Franzosen, nur nicht die Deutschen,


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[0540] Was ist uns Anatolien? es besser, Anatolien nicht zu vergleichen mit dem, was es ehemals war, sondern mit Ländern der Gegenwart, die der Kulturarbeit die gleichen Hinder¬ nisse und Hilfen bieten, mit Ländern wie Algier, Rumänien. Kalifornien und Argentinien. Anatolien ist das Land, von dem sich manche Zukunftspolitiker großes für uns versprechen. Das deutsche Volk hat einige schöne Stücke von Afrika im Besitz; es hat jetzt anch wieder ein schönes Stückchen China beschert be¬ kommen; aber es hat noch nicht das, was es sich wünscht, nämlich Ackerbau¬ kolonien. Da hat man auf Anatolien hingewiesen; und in der That: Platz wäre hier noch genug. Länder wie kleine deutsche Fürstentümer liegen hier längs der Bahn nach Koma und Angora, und gewiß mehr noch abseits davon, unbebaut und unbewohnt. Die Muhadschirs, die Flüchtlinge aus dem ehe¬ mals muhammedanischen Europa, um deren Konkurrenz willen es Kaerger für die höchste Zeit erklärt, wenn man Ansiedlungen gründen will, werden noch lange einwandern können, ehe sie dieses Land stillen, ganz abgesehen davon, daß sie doch hier wahrscheinlich vor der christlichen Kultur ebenso gut nach Osten zurückweichen würden, wie sie es in Europa gethan haben. Auch die physischen Bedingungen des Ackerbaus wären vorhanden, und mit dem bischen Räuberei im Lande würden deutsche Ansiedler wohl bald fertig werden. Der einzige ernsthafte Feind wäre die Malaria. Trotz des gemäßigten Klimas, und obgleich Anatolien ein Hochland ist, dessen Thalebuen höher liegen als die Spitzen des Thüringer Waldes, giebt es hier viel Malaria, die zwar nicht so bösartig ist wie in den Tropen, aber die doch die Arbeitsfähigkeit der Beamten und besonders die Entwicklung der deutschen Kinder an den Bahn¬ stationen sichtlich beeinträchtigt. Wer bisher Anatolien besucht hat, hat die Fiebergefährlichkeit des Landes nicht genügend betont; vielleicht deshalb, weil sie sich thatsächlich erst im Laufe der Jahre gezeigt hat. Die Deutschen be¬ kommen mehr Fieber als die Einheimischen, erstens weil sie Nordländer sind, und zweitens, weil sie es verstanden haben, ihre Stationen gerade an die un¬ günstigsten Stellen zu bringen, nämlich immer in die Thalmitte und in die Nähe der Sümpfe, wo sich Einheimische nicht anbauen. Auch in Algier fanden die französischen Einwandrer die Thalebne leer, nahmen sie in Besitz, litten schwer unter der Malaria und besiegten sie durch Anbau, sodaß ehemals ver¬ rufne Orte jetzt aus eigner Kraft weiter wachsen. So könnte man auch hier erwarten, in einigen Jahrzehnten ihrer Herr zu werden. Denn es ist die Ver¬ nachlässigung der Flußläufe und außerdem die eigentümliche Art der Ein- gebornen, ihre Wiesen zu bewässern, der sie ihre Entstehung verdankt. Ein Hochland mit so rapiden Gefälle muß leicht gesund zu machen sein. Die malaria¬ freien Orte gelten als sehr gesund. Ich will aber folgende Beobachtung aus Algier nicht unterschlagen: Alle europäischen Rassen in Algier vermehren sich rasch durch Geburtenüberschuß, auch die Franzosen, nur nicht die Deutschen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/540>, abgerufen am 28.07.2024.