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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

reichen Lande immer ürmer wird, an Zahl abnimmt und trotzdem von der
Hungersnot verfolgt wird? Es ist im Monat Mai. Ich hebe den Blick von
dem fahlen, zerborstnen, mit grauen Kräutern hier und da bestandnen Thal¬
boden zu den schroffen, vom Regen zerrissenen öden Wänden und frage mich,
ob nicht vielleicht mächtigere, elementare Ursachen hinter diesen Erscheinungen
stehen. Vielleicht hat eine große, für den Menschen kaum merkliche Klimaver¬
änderung die Hochkultur von ihrer Heimat an den Ufern des Euphrats, des
Nils und an den Gestaden des Mittelmeers nach Norden verschoben. Zwanzig
Centimeter Regen jährlich weniger, das müßte das Aussehen jedes Landes
verändern. Eine gewisse Klimaveränderung ist wohl ohne Zweifel da. Aber
ist sie die Ursache oder die Folge der Verwüstung? Ist der Wind darum so
trocken und kalt, weil er Hunderte von Meilen durch ein absolut leeres Land
weht, wo keine Wälder sein Ungestüm mäßigen und ihm Feuchtigkeit mitgeben,
oder ist das Land deshalb so leer, weil dieser immerwährende, heftige, trockne
Wind alles Gras und Laub verdorrt? Würde wirklich anhaltende Kultur¬
arbeit die alten Reichtümer wieder hervorzaubern können? Alle Reisenden,*) die
bisher das Land besucht haben, sind dieser Ansicht. Auch die wenigen Europäer,
die im Lande einzelne Kulturen im kleinen versucht haben, berichten Günstiges.
Ich will meinerseits noch mit einem andern Wahrscheinlichkeitsbeweis diese
Anschauung stützen, nachdem ich aber betont habe, daß die schließliche Ent¬
scheidung nach allen immerhin unvollkommnen Beobachtungen, Schlüssen und
Vermutungen nur in dem Experimente, in einem wirklichen, vollständigen
Kulturversuch liegen kann.

Vor mir liegt ein französisches Buch über Algier (8. ^. La-ttöncliei- se
ki. Irabut: 1'^.I"sri6, 1e sol se Iss nabitants. ?M8, 1898). Algiers Küsten
haben dasselbe Klima wie alle Mittelmeerländer, also auch wie die Küsten
Kleinasiens. Hinter ihnen erhebt sich ein Hochland, so hoch wie das hiesige,
sechshundert bis tausend Meter, mit denselben Wasserverhältnissen, demselben
Klima, denselben Kulturen, wie hier auch. Dahinter kommen Salzsteppen ohne
Quellen, deren es in Anatolien ebenfalls giebt, und dahinter die Sahara.
Durch diesen letzten Umstand ist Algier schlechter daran als Anatolien. Denn
es leidet unter den trocknen Wüstenwinden, die dieses Land nicht hat.

Algier haben nun seit einem halben Jahrhundert die Franzosen im Besitz,
und ihre Erfahrungen und Erfolge sind lehrreich, wenn man sie auf Anatolien
überträgt. Aus diesem Stückchen Afrika ist eine französische Provinz geworden
mit schönen europäischen Städten, mit einer europäischen Bevölkerung von
einer halben Million und einer einheimischen, die sich seit der Okkupation be¬
deutend vermehrt hat. Es scheinen mehr die subtropischen Kulturen der Olive,
des Weines, der Korkeiche, des Tabaks usw. zu sein, denen die Franzosen



") Die wichtigsten Bücher über Kleinasien von wirtschaftlichem Inhalt und aus neuerer
Zeit sind: Kacrger. Kleinasien, ein deutsches Kolonisationsfeld. Berlin, 1892. Kannenberg,
Kleinasiens Naturschätze. I8V7,
Was ist uns Anatolien?

reichen Lande immer ürmer wird, an Zahl abnimmt und trotzdem von der
Hungersnot verfolgt wird? Es ist im Monat Mai. Ich hebe den Blick von
dem fahlen, zerborstnen, mit grauen Kräutern hier und da bestandnen Thal¬
boden zu den schroffen, vom Regen zerrissenen öden Wänden und frage mich,
ob nicht vielleicht mächtigere, elementare Ursachen hinter diesen Erscheinungen
stehen. Vielleicht hat eine große, für den Menschen kaum merkliche Klimaver¬
änderung die Hochkultur von ihrer Heimat an den Ufern des Euphrats, des
Nils und an den Gestaden des Mittelmeers nach Norden verschoben. Zwanzig
Centimeter Regen jährlich weniger, das müßte das Aussehen jedes Landes
verändern. Eine gewisse Klimaveränderung ist wohl ohne Zweifel da. Aber
ist sie die Ursache oder die Folge der Verwüstung? Ist der Wind darum so
trocken und kalt, weil er Hunderte von Meilen durch ein absolut leeres Land
weht, wo keine Wälder sein Ungestüm mäßigen und ihm Feuchtigkeit mitgeben,
oder ist das Land deshalb so leer, weil dieser immerwährende, heftige, trockne
Wind alles Gras und Laub verdorrt? Würde wirklich anhaltende Kultur¬
arbeit die alten Reichtümer wieder hervorzaubern können? Alle Reisenden,*) die
bisher das Land besucht haben, sind dieser Ansicht. Auch die wenigen Europäer,
die im Lande einzelne Kulturen im kleinen versucht haben, berichten Günstiges.
Ich will meinerseits noch mit einem andern Wahrscheinlichkeitsbeweis diese
Anschauung stützen, nachdem ich aber betont habe, daß die schließliche Ent¬
scheidung nach allen immerhin unvollkommnen Beobachtungen, Schlüssen und
Vermutungen nur in dem Experimente, in einem wirklichen, vollständigen
Kulturversuch liegen kann.

Vor mir liegt ein französisches Buch über Algier (8. ^. La-ttöncliei- se
ki. Irabut: 1'^.I»sri6, 1e sol se Iss nabitants. ?M8, 1898). Algiers Küsten
haben dasselbe Klima wie alle Mittelmeerländer, also auch wie die Küsten
Kleinasiens. Hinter ihnen erhebt sich ein Hochland, so hoch wie das hiesige,
sechshundert bis tausend Meter, mit denselben Wasserverhältnissen, demselben
Klima, denselben Kulturen, wie hier auch. Dahinter kommen Salzsteppen ohne
Quellen, deren es in Anatolien ebenfalls giebt, und dahinter die Sahara.
Durch diesen letzten Umstand ist Algier schlechter daran als Anatolien. Denn
es leidet unter den trocknen Wüstenwinden, die dieses Land nicht hat.

Algier haben nun seit einem halben Jahrhundert die Franzosen im Besitz,
und ihre Erfahrungen und Erfolge sind lehrreich, wenn man sie auf Anatolien
überträgt. Aus diesem Stückchen Afrika ist eine französische Provinz geworden
mit schönen europäischen Städten, mit einer europäischen Bevölkerung von
einer halben Million und einer einheimischen, die sich seit der Okkupation be¬
deutend vermehrt hat. Es scheinen mehr die subtropischen Kulturen der Olive,
des Weines, der Korkeiche, des Tabaks usw. zu sein, denen die Franzosen



") Die wichtigsten Bücher über Kleinasien von wirtschaftlichem Inhalt und aus neuerer
Zeit sind: Kacrger. Kleinasien, ein deutsches Kolonisationsfeld. Berlin, 1892. Kannenberg,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/538>, abgerufen am 27.07.2024.