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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die hebräische Renaissance in England

Beispiel geben, das uns Nehemiah Wallington, ein Drechsler in Eastcheap,
von seiner Mutter, einer Londoner Hausfrau, hinterlassen hat. "Sie war,
sagte er, sehr liebevoll und gehorsam gegen ihre Eltern, liebevoll und gütig
gegen ihren Gatten, zärtlich gegen ihre Kinder; sie liebte alle, die fromm
waren. Vielen war sie ein Muster der Ehrbarkeit. In allen Erzählungen
der Bibel und Geschichten der Märtyrer war sie wohl bewandert und konnte
sie leicht anwenden; ebenso bekannt war sie mit den englischen Chroniken und
der Abstammung der englischen Könige." Frau Wallington, deren Bildung,
wie man sieht, auf einer Vereinigung biblischer und vaterländischer Geschichte
beruhte, wußte mit trefflichem Takt in ihrem Stande die höchste Würde zu
wahren; von republikanischen Ideen war bei ihr keine Rede.

Durch den Bürgerkrieg und seinen Verlauf vornehmlich wurde das Gleich¬
gewicht und die Harmonie zwischen Geist und Form in der Religiosität des
Puritaners gestört. Je schwerer sich ein revolutionärer Kampf gestaltet, je
radikaler die Probleme sind, die zur Entscheidung gestellt werden, desto mehr
überwiegt die Masse und ihr Wille über die freie Geistesbethätigung der
Einzelnen. In Cromwells Feldlager berieten die "Heiligen" alle zu gleichem
Recht, und ihre Argumente entnahmen sie der Bibel. Sprache und Gedanken¬
form gestalteten sich bei unselbständigen Köpfen immer mehr nach dem
hebräischen Muster. Und dieses Muster wurde allmählich ganz zur Schablone.
Der puritanische Geist erstarrte zur Manier, der Psalmenton der Rede wurde
durch falsche Erhabenheit lächerlich, die aufrichtige Religiosität der ersten Zeit
artete in grüblerischen Trübsinn aus und in engherzige sektirerische Ver¬
bissenheit.

Oliver Cromwells neuester Biograph, Frederic Harrison, erläutert den
Vorgang, der sich in Seele und Geist der Puritaner vollzog, auf Seite 27
seines Oliver Cromwell mit folgenden Worten: "Ihre gesamte Vorstellungs¬
welt und Rede war eingetaucht in die Sprache der Bibel, wie sie von Calvin
gedeutet wird. Sichtbar und greifbar erschien ihnen der Finger Gottes in
jeder Begebenheit des Lebens; sie hörten die wirkliche Stimme Gottes bei
jeder Wendung ihres Geschicks. Sie sahen Satan in allem, was vom Übel
war, und hörten das Geräusch von Teufel" in allem Bösen, Lasterhaften oder
Ungerechten. Wenn sie bei gemeinsamer Beratung ihre eigne Urteilskraft
anstrengten, so glaubten sie wörtlich, daß Gott und feine Engel ihnen jeden
Gedanken eingegeben hätten. Schien einer gerecht und dem Gemeinwohl
förderlich zu handeln, so war er von Gott geliebt; stiftete er Unheil, so hieß
er ein von Gott Gehaßter. Wenn sie noch unentschieden waren, so suchten
sie Gott. Waren sie zu einem festen Entschluß gekommen, so hatten sie Gott
gefunden. Überkam sie Hoffnungslosigkeit, so hatten sie Gott verloren. Brav
und ehrbar leben hieß bei ihnen: in ununterbrochner Gemeinschaft mit dem
Geiste Gottes leben."


Grenzboten III 1808 62
Die hebräische Renaissance in England

Beispiel geben, das uns Nehemiah Wallington, ein Drechsler in Eastcheap,
von seiner Mutter, einer Londoner Hausfrau, hinterlassen hat. „Sie war,
sagte er, sehr liebevoll und gehorsam gegen ihre Eltern, liebevoll und gütig
gegen ihren Gatten, zärtlich gegen ihre Kinder; sie liebte alle, die fromm
waren. Vielen war sie ein Muster der Ehrbarkeit. In allen Erzählungen
der Bibel und Geschichten der Märtyrer war sie wohl bewandert und konnte
sie leicht anwenden; ebenso bekannt war sie mit den englischen Chroniken und
der Abstammung der englischen Könige." Frau Wallington, deren Bildung,
wie man sieht, auf einer Vereinigung biblischer und vaterländischer Geschichte
beruhte, wußte mit trefflichem Takt in ihrem Stande die höchste Würde zu
wahren; von republikanischen Ideen war bei ihr keine Rede.

Durch den Bürgerkrieg und seinen Verlauf vornehmlich wurde das Gleich¬
gewicht und die Harmonie zwischen Geist und Form in der Religiosität des
Puritaners gestört. Je schwerer sich ein revolutionärer Kampf gestaltet, je
radikaler die Probleme sind, die zur Entscheidung gestellt werden, desto mehr
überwiegt die Masse und ihr Wille über die freie Geistesbethätigung der
Einzelnen. In Cromwells Feldlager berieten die „Heiligen" alle zu gleichem
Recht, und ihre Argumente entnahmen sie der Bibel. Sprache und Gedanken¬
form gestalteten sich bei unselbständigen Köpfen immer mehr nach dem
hebräischen Muster. Und dieses Muster wurde allmählich ganz zur Schablone.
Der puritanische Geist erstarrte zur Manier, der Psalmenton der Rede wurde
durch falsche Erhabenheit lächerlich, die aufrichtige Religiosität der ersten Zeit
artete in grüblerischen Trübsinn aus und in engherzige sektirerische Ver¬
bissenheit.

Oliver Cromwells neuester Biograph, Frederic Harrison, erläutert den
Vorgang, der sich in Seele und Geist der Puritaner vollzog, auf Seite 27
seines Oliver Cromwell mit folgenden Worten: „Ihre gesamte Vorstellungs¬
welt und Rede war eingetaucht in die Sprache der Bibel, wie sie von Calvin
gedeutet wird. Sichtbar und greifbar erschien ihnen der Finger Gottes in
jeder Begebenheit des Lebens; sie hörten die wirkliche Stimme Gottes bei
jeder Wendung ihres Geschicks. Sie sahen Satan in allem, was vom Übel
war, und hörten das Geräusch von Teufel« in allem Bösen, Lasterhaften oder
Ungerechten. Wenn sie bei gemeinsamer Beratung ihre eigne Urteilskraft
anstrengten, so glaubten sie wörtlich, daß Gott und feine Engel ihnen jeden
Gedanken eingegeben hätten. Schien einer gerecht und dem Gemeinwohl
förderlich zu handeln, so war er von Gott geliebt; stiftete er Unheil, so hieß
er ein von Gott Gehaßter. Wenn sie noch unentschieden waren, so suchten
sie Gott. Waren sie zu einem festen Entschluß gekommen, so hatten sie Gott
gefunden. Überkam sie Hoffnungslosigkeit, so hatten sie Gott verloren. Brav
und ehrbar leben hieß bei ihnen: in ununterbrochner Gemeinschaft mit dem
Geiste Gottes leben."


Grenzboten III 1808 62
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[0497] Die hebräische Renaissance in England Beispiel geben, das uns Nehemiah Wallington, ein Drechsler in Eastcheap, von seiner Mutter, einer Londoner Hausfrau, hinterlassen hat. „Sie war, sagte er, sehr liebevoll und gehorsam gegen ihre Eltern, liebevoll und gütig gegen ihren Gatten, zärtlich gegen ihre Kinder; sie liebte alle, die fromm waren. Vielen war sie ein Muster der Ehrbarkeit. In allen Erzählungen der Bibel und Geschichten der Märtyrer war sie wohl bewandert und konnte sie leicht anwenden; ebenso bekannt war sie mit den englischen Chroniken und der Abstammung der englischen Könige." Frau Wallington, deren Bildung, wie man sieht, auf einer Vereinigung biblischer und vaterländischer Geschichte beruhte, wußte mit trefflichem Takt in ihrem Stande die höchste Würde zu wahren; von republikanischen Ideen war bei ihr keine Rede. Durch den Bürgerkrieg und seinen Verlauf vornehmlich wurde das Gleich¬ gewicht und die Harmonie zwischen Geist und Form in der Religiosität des Puritaners gestört. Je schwerer sich ein revolutionärer Kampf gestaltet, je radikaler die Probleme sind, die zur Entscheidung gestellt werden, desto mehr überwiegt die Masse und ihr Wille über die freie Geistesbethätigung der Einzelnen. In Cromwells Feldlager berieten die „Heiligen" alle zu gleichem Recht, und ihre Argumente entnahmen sie der Bibel. Sprache und Gedanken¬ form gestalteten sich bei unselbständigen Köpfen immer mehr nach dem hebräischen Muster. Und dieses Muster wurde allmählich ganz zur Schablone. Der puritanische Geist erstarrte zur Manier, der Psalmenton der Rede wurde durch falsche Erhabenheit lächerlich, die aufrichtige Religiosität der ersten Zeit artete in grüblerischen Trübsinn aus und in engherzige sektirerische Ver¬ bissenheit. Oliver Cromwells neuester Biograph, Frederic Harrison, erläutert den Vorgang, der sich in Seele und Geist der Puritaner vollzog, auf Seite 27 seines Oliver Cromwell mit folgenden Worten: „Ihre gesamte Vorstellungs¬ welt und Rede war eingetaucht in die Sprache der Bibel, wie sie von Calvin gedeutet wird. Sichtbar und greifbar erschien ihnen der Finger Gottes in jeder Begebenheit des Lebens; sie hörten die wirkliche Stimme Gottes bei jeder Wendung ihres Geschicks. Sie sahen Satan in allem, was vom Übel war, und hörten das Geräusch von Teufel« in allem Bösen, Lasterhaften oder Ungerechten. Wenn sie bei gemeinsamer Beratung ihre eigne Urteilskraft anstrengten, so glaubten sie wörtlich, daß Gott und feine Engel ihnen jeden Gedanken eingegeben hätten. Schien einer gerecht und dem Gemeinwohl förderlich zu handeln, so war er von Gott geliebt; stiftete er Unheil, so hieß er ein von Gott Gehaßter. Wenn sie noch unentschieden waren, so suchten sie Gott. Waren sie zu einem festen Entschluß gekommen, so hatten sie Gott gefunden. Überkam sie Hoffnungslosigkeit, so hatten sie Gott verloren. Brav und ehrbar leben hieß bei ihnen: in ununterbrochner Gemeinschaft mit dem Geiste Gottes leben." Grenzboten III 1808 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/497>, abgerufen am 27.07.2024.