Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die hebräische Renaissance in England

blick auch die höchsten und schwierigsten Aufgaben, die das Leben stellen mochte,
ohne Zaudern und Zagen zu erfassen.

In sozialer Hinsicht übte die harmonische Verbindung religiösen Ernstes
und lebensfreudiger Thatkraft, die in ihren tiefsten Antrieben bei Armen und
Reichen, bei Gelehrten und Umgekehrten demselben Born göttlicher Wahrheit
entsprang, die wohlthätigste Wirkung aus durch unbefangne, einem Bedürfnis
des Gemütes entsprechende Annäherung der Stände aneinander. Die klassische
Renaissance mit ihrer leidenschaftlichen Neigung zu künstlerischer Ausgestaltung
und Ausschmückung des Lebens, zu Ungebundenheit und freien Genuß aller
Reize der Oberfläche und der Gegenwart hatte überall, wo ihr Geist über die
Wirklichkeit Herrschaft zu gewinnen vermochte, die Kluft zwischen Hohen und
Niedern erweitert. Ganz anders die im Puritanertum zur Erscheinung kom¬
mende Renaissance des Hebraismus. Nicht auf die Reize und die Lust der
Welt hielt diese den Blick geheftet, sondern auf die Sünde und das Elend
der Welt. Das Bewußtsein, ohne die Gnade, die von oben kommt, ohne die
besondre Erwählung durch den Allerhöchsten nur ein Wurm, eine arme und
sündige Kreatur zu sein, lastete gleich schwer auf dem Gewissen des Begüterten
wie des Dürftigen. Umgekehrt vernichtete auch die durch Gebet und fortgesetzte
Selbstprüfung erlangte Gewißheit einer gemeinsamen Berufung bei dem
strengen englischen Calvinisten jenes überwältigende Gefühl sozialer Unterschiede,
das das Zeitalter der Elisabeth charakterisirt. Die Vorstellung, die sich der
bibelkundige Puritaner von dem Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott
machte, knüpfte an jene schlicht erhabnen Worte an, mit denen bei der Stiftung
des alten Bundes Jehova den Erzvater anredete: "Ich bin der allmächtige
Gott, wandle vor mir und sei fromm. Und ich will meinen Bund zwischen
mir und dir machen." Die religiöse Vorstellung eines gemeinsamen und gleich¬
mäßigen Auserwähltseins war schon bei den alten Jsraeliten der mächtigste
Hebel für ein starkes, im Leben sich bethätigendes Gefühl sozialer Ebenbürtig¬
keit. Dieser aus der Bibel stammende Tropfen demokratischen Oich durchdrang
auch das Wesen des puritanischen Gentleman im protestantischen England.

Es sind Lebensbeschreibungen erhalten, die uns das christlich-soziale Wesen
des Puritaners der guten, mit der allgemeinen Kultur noch nicht in Wider¬
spruch geratnen Periode in edeln und sympathischen Zügen vor Augen führen-
In den Denkwürdigkeiten, worin die Gattin des Obersten Hutchinson, eines der
Königsrichter, dessen Charakter und Lebensweise schildert, wird mit Beziehung
auf sein Benehmen gegen niedriger Stehende gesagt: "Er war von liebreicher
und freundlicher Höflichkeit gegen den Dürftigsten und pflegte oft seine freie
Zeit mit gewöhnlichen Soldaten und den ärmsten Arbeitern zu verbringen.
Er verachtete nie den Geringsten und schmeichelte nie den Vornehmsten." Von
der Hebung der sittlichen Würde und Selbstachtung, die der Wandel im An¬
gesicht des Herrn im mittlern Bürgerstand hervorbrachte, mag das Bild ein


Die hebräische Renaissance in England

blick auch die höchsten und schwierigsten Aufgaben, die das Leben stellen mochte,
ohne Zaudern und Zagen zu erfassen.

In sozialer Hinsicht übte die harmonische Verbindung religiösen Ernstes
und lebensfreudiger Thatkraft, die in ihren tiefsten Antrieben bei Armen und
Reichen, bei Gelehrten und Umgekehrten demselben Born göttlicher Wahrheit
entsprang, die wohlthätigste Wirkung aus durch unbefangne, einem Bedürfnis
des Gemütes entsprechende Annäherung der Stände aneinander. Die klassische
Renaissance mit ihrer leidenschaftlichen Neigung zu künstlerischer Ausgestaltung
und Ausschmückung des Lebens, zu Ungebundenheit und freien Genuß aller
Reize der Oberfläche und der Gegenwart hatte überall, wo ihr Geist über die
Wirklichkeit Herrschaft zu gewinnen vermochte, die Kluft zwischen Hohen und
Niedern erweitert. Ganz anders die im Puritanertum zur Erscheinung kom¬
mende Renaissance des Hebraismus. Nicht auf die Reize und die Lust der
Welt hielt diese den Blick geheftet, sondern auf die Sünde und das Elend
der Welt. Das Bewußtsein, ohne die Gnade, die von oben kommt, ohne die
besondre Erwählung durch den Allerhöchsten nur ein Wurm, eine arme und
sündige Kreatur zu sein, lastete gleich schwer auf dem Gewissen des Begüterten
wie des Dürftigen. Umgekehrt vernichtete auch die durch Gebet und fortgesetzte
Selbstprüfung erlangte Gewißheit einer gemeinsamen Berufung bei dem
strengen englischen Calvinisten jenes überwältigende Gefühl sozialer Unterschiede,
das das Zeitalter der Elisabeth charakterisirt. Die Vorstellung, die sich der
bibelkundige Puritaner von dem Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott
machte, knüpfte an jene schlicht erhabnen Worte an, mit denen bei der Stiftung
des alten Bundes Jehova den Erzvater anredete: „Ich bin der allmächtige
Gott, wandle vor mir und sei fromm. Und ich will meinen Bund zwischen
mir und dir machen." Die religiöse Vorstellung eines gemeinsamen und gleich¬
mäßigen Auserwähltseins war schon bei den alten Jsraeliten der mächtigste
Hebel für ein starkes, im Leben sich bethätigendes Gefühl sozialer Ebenbürtig¬
keit. Dieser aus der Bibel stammende Tropfen demokratischen Oich durchdrang
auch das Wesen des puritanischen Gentleman im protestantischen England.

Es sind Lebensbeschreibungen erhalten, die uns das christlich-soziale Wesen
des Puritaners der guten, mit der allgemeinen Kultur noch nicht in Wider¬
spruch geratnen Periode in edeln und sympathischen Zügen vor Augen führen-
In den Denkwürdigkeiten, worin die Gattin des Obersten Hutchinson, eines der
Königsrichter, dessen Charakter und Lebensweise schildert, wird mit Beziehung
auf sein Benehmen gegen niedriger Stehende gesagt: „Er war von liebreicher
und freundlicher Höflichkeit gegen den Dürftigsten und pflegte oft seine freie
Zeit mit gewöhnlichen Soldaten und den ärmsten Arbeitern zu verbringen.
Er verachtete nie den Geringsten und schmeichelte nie den Vornehmsten." Von
der Hebung der sittlichen Würde und Selbstachtung, die der Wandel im An¬
gesicht des Herrn im mittlern Bürgerstand hervorbrachte, mag das Bild ein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0496" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228798"/>
          <fw type="header" place="top"> Die hebräische Renaissance in England</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1706" prev="#ID_1705"> blick auch die höchsten und schwierigsten Aufgaben, die das Leben stellen mochte,<lb/>
ohne Zaudern und Zagen zu erfassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1707"> In sozialer Hinsicht übte die harmonische Verbindung religiösen Ernstes<lb/>
und lebensfreudiger Thatkraft, die in ihren tiefsten Antrieben bei Armen und<lb/>
Reichen, bei Gelehrten und Umgekehrten demselben Born göttlicher Wahrheit<lb/>
entsprang, die wohlthätigste Wirkung aus durch unbefangne, einem Bedürfnis<lb/>
des Gemütes entsprechende Annäherung der Stände aneinander. Die klassische<lb/>
Renaissance mit ihrer leidenschaftlichen Neigung zu künstlerischer Ausgestaltung<lb/>
und Ausschmückung des Lebens, zu Ungebundenheit und freien Genuß aller<lb/>
Reize der Oberfläche und der Gegenwart hatte überall, wo ihr Geist über die<lb/>
Wirklichkeit Herrschaft zu gewinnen vermochte, die Kluft zwischen Hohen und<lb/>
Niedern erweitert. Ganz anders die im Puritanertum zur Erscheinung kom¬<lb/>
mende Renaissance des Hebraismus. Nicht auf die Reize und die Lust der<lb/>
Welt hielt diese den Blick geheftet, sondern auf die Sünde und das Elend<lb/>
der Welt. Das Bewußtsein, ohne die Gnade, die von oben kommt, ohne die<lb/>
besondre Erwählung durch den Allerhöchsten nur ein Wurm, eine arme und<lb/>
sündige Kreatur zu sein, lastete gleich schwer auf dem Gewissen des Begüterten<lb/>
wie des Dürftigen. Umgekehrt vernichtete auch die durch Gebet und fortgesetzte<lb/>
Selbstprüfung erlangte Gewißheit einer gemeinsamen Berufung bei dem<lb/>
strengen englischen Calvinisten jenes überwältigende Gefühl sozialer Unterschiede,<lb/>
das das Zeitalter der Elisabeth charakterisirt. Die Vorstellung, die sich der<lb/>
bibelkundige Puritaner von dem Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott<lb/>
machte, knüpfte an jene schlicht erhabnen Worte an, mit denen bei der Stiftung<lb/>
des alten Bundes Jehova den Erzvater anredete: &#x201E;Ich bin der allmächtige<lb/>
Gott, wandle vor mir und sei fromm. Und ich will meinen Bund zwischen<lb/>
mir und dir machen." Die religiöse Vorstellung eines gemeinsamen und gleich¬<lb/>
mäßigen Auserwähltseins war schon bei den alten Jsraeliten der mächtigste<lb/>
Hebel für ein starkes, im Leben sich bethätigendes Gefühl sozialer Ebenbürtig¬<lb/>
keit. Dieser aus der Bibel stammende Tropfen demokratischen Oich durchdrang<lb/>
auch das Wesen des puritanischen Gentleman im protestantischen England.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1708" next="#ID_1709"> Es sind Lebensbeschreibungen erhalten, die uns das christlich-soziale Wesen<lb/>
des Puritaners der guten, mit der allgemeinen Kultur noch nicht in Wider¬<lb/>
spruch geratnen Periode in edeln und sympathischen Zügen vor Augen führen-<lb/>
In den Denkwürdigkeiten, worin die Gattin des Obersten Hutchinson, eines der<lb/>
Königsrichter, dessen Charakter und Lebensweise schildert, wird mit Beziehung<lb/>
auf sein Benehmen gegen niedriger Stehende gesagt: &#x201E;Er war von liebreicher<lb/>
und freundlicher Höflichkeit gegen den Dürftigsten und pflegte oft seine freie<lb/>
Zeit mit gewöhnlichen Soldaten und den ärmsten Arbeitern zu verbringen.<lb/>
Er verachtete nie den Geringsten und schmeichelte nie den Vornehmsten." Von<lb/>
der Hebung der sittlichen Würde und Selbstachtung, die der Wandel im An¬<lb/>
gesicht des Herrn im mittlern Bürgerstand hervorbrachte, mag das Bild ein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0496] Die hebräische Renaissance in England blick auch die höchsten und schwierigsten Aufgaben, die das Leben stellen mochte, ohne Zaudern und Zagen zu erfassen. In sozialer Hinsicht übte die harmonische Verbindung religiösen Ernstes und lebensfreudiger Thatkraft, die in ihren tiefsten Antrieben bei Armen und Reichen, bei Gelehrten und Umgekehrten demselben Born göttlicher Wahrheit entsprang, die wohlthätigste Wirkung aus durch unbefangne, einem Bedürfnis des Gemütes entsprechende Annäherung der Stände aneinander. Die klassische Renaissance mit ihrer leidenschaftlichen Neigung zu künstlerischer Ausgestaltung und Ausschmückung des Lebens, zu Ungebundenheit und freien Genuß aller Reize der Oberfläche und der Gegenwart hatte überall, wo ihr Geist über die Wirklichkeit Herrschaft zu gewinnen vermochte, die Kluft zwischen Hohen und Niedern erweitert. Ganz anders die im Puritanertum zur Erscheinung kom¬ mende Renaissance des Hebraismus. Nicht auf die Reize und die Lust der Welt hielt diese den Blick geheftet, sondern auf die Sünde und das Elend der Welt. Das Bewußtsein, ohne die Gnade, die von oben kommt, ohne die besondre Erwählung durch den Allerhöchsten nur ein Wurm, eine arme und sündige Kreatur zu sein, lastete gleich schwer auf dem Gewissen des Begüterten wie des Dürftigen. Umgekehrt vernichtete auch die durch Gebet und fortgesetzte Selbstprüfung erlangte Gewißheit einer gemeinsamen Berufung bei dem strengen englischen Calvinisten jenes überwältigende Gefühl sozialer Unterschiede, das das Zeitalter der Elisabeth charakterisirt. Die Vorstellung, die sich der bibelkundige Puritaner von dem Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott machte, knüpfte an jene schlicht erhabnen Worte an, mit denen bei der Stiftung des alten Bundes Jehova den Erzvater anredete: „Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm. Und ich will meinen Bund zwischen mir und dir machen." Die religiöse Vorstellung eines gemeinsamen und gleich¬ mäßigen Auserwähltseins war schon bei den alten Jsraeliten der mächtigste Hebel für ein starkes, im Leben sich bethätigendes Gefühl sozialer Ebenbürtig¬ keit. Dieser aus der Bibel stammende Tropfen demokratischen Oich durchdrang auch das Wesen des puritanischen Gentleman im protestantischen England. Es sind Lebensbeschreibungen erhalten, die uns das christlich-soziale Wesen des Puritaners der guten, mit der allgemeinen Kultur noch nicht in Wider¬ spruch geratnen Periode in edeln und sympathischen Zügen vor Augen führen- In den Denkwürdigkeiten, worin die Gattin des Obersten Hutchinson, eines der Königsrichter, dessen Charakter und Lebensweise schildert, wird mit Beziehung auf sein Benehmen gegen niedriger Stehende gesagt: „Er war von liebreicher und freundlicher Höflichkeit gegen den Dürftigsten und pflegte oft seine freie Zeit mit gewöhnlichen Soldaten und den ärmsten Arbeitern zu verbringen. Er verachtete nie den Geringsten und schmeichelte nie den Vornehmsten." Von der Hebung der sittlichen Würde und Selbstachtung, die der Wandel im An¬ gesicht des Herrn im mittlern Bürgerstand hervorbrachte, mag das Bild ein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/496
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/496>, abgerufen am 28.07.2024.