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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

zu Grunde gegangen. In einer launigen Epistel (I^XXXI nach Freys An¬
ordnung), worin der Dichter übertreibend das Elend seines Alters, die Ärm¬
lichkeit seines Auszugs, seiner Wohnung und seines Haushalts beschreibt, erhebt
er auch die Klage: was Amor, die Musen und die goldne Phantasie ihm ein¬
gegeben, sei zu Düten, zu Packpapier, zum Einwickeln für die Wirte verwandt
worden oder sonst jämmerlich zu Grunde gegangen. Viele mögen auch damals
vernichtet worden sein, als Michelangelo vor seinem Tode unter seinen Pa¬
pieren aufräumte. Was sich von seinen Poesien aus der Jugend erhalten hat,
sind Fragmente und spärliche Proben. Die frühesten gehen in die Jahre 1501
und 1504 zurück. Es sind Liebesgedichte in den herkömmlichen Formen der
damaligen Lyrik. Condivi bezeugt, daß um 1504/5 (vor der Berufung nach
Rom durch Papst Julius II.) Michelangelo viele Sonette verfaßt habe. Be¬
sonders frisch, voll natürlicher Empfindung und in dieser Hinsicht fast allein¬
stehend ist ein Sonett (VII), das in Bologna Ende 1507 oder Anfang 1508
entstanden ist. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich hier um ein wirkliches
Liebesverhältnis handelt, obwohl man sonst keine Spur von dieser Bologneserin
hat. Eine Anzahl Liebesgedichte stammt auch aus den zwanziger Jahren, die
meisten mit so starker Anlehnung an die Vorgänger, insbesondre an Petrarca,
daß man zweifeln kann, ob es sich hier um wirkliche Herzenserfahrungen
handelt oder um Übungen und Versuche in der poetischen Form, die Michel¬
angelo in den Pausen seiner Arbeit auf lose Blätter warf. Andre Gedichte
sind scherzhafter Art, oder sie heben ernsthaft an, halten aber die Stimmung
nicht fest; fragmentarische Niederschriften, in denen die Empfindungen um¬
schlagen und wechseln. Persönliche Erlebnisse regen den Dichter an, seltner
die öffentlichen Zustände. Einmal (X) richtet er eine starke Anklage wider das
unheilige Treiben in Rom unter Julius II.

Kaum eine erkennbare Spur hat in den vorhandnen Gedichten die be¬
deutungsvolle Zeit zurückgelassen, wo Florenz nach der Vertreibung der Me-
dicäer den letzten Kampf für seine Unabhängigkeit zu führen hatte, der im
Jahre 1531 mit dem Untergang der Republik endete. Bekannt ist, wie sich
Michelangelo damals in den Dienst der Republik stellte, seine angestrengte
Thätigkeit den Befestigungen der Stadt widmete, und er auch zu politischen
Aufträgen verwandt wurde, und wie er dann in einem Augenblick allgemeiner
Panik die Flucht ergriff, verzweifelnd, daß er auf diesem Boden eine ungestörte
Thätigkeit in seinem Kunstberuf ausüben könnte. Nach seiner Rückkehr wurde
er persönlich in die Katastrophe der Republik mit verwickelt, und nur mit Mühe
entging er dem Gefängnis und dem Tode (im August 1530). Nach der Wieder¬
herstellung der medicäischen Herrschaft söhnte er sich mit dem Papst Clemens VII.
wieder aus, immerhin blieb für ihn das zwiespältige Verhältnis zu den Mc-
dicäern peinlich. Er arbeitete für sie an den Grabdenkmälern in San Lorenzo,
während er in ihnen die Unterdrücker der von ihm mitverteidigten Republik


Die Gedichte Michelangelos

zu Grunde gegangen. In einer launigen Epistel (I^XXXI nach Freys An¬
ordnung), worin der Dichter übertreibend das Elend seines Alters, die Ärm¬
lichkeit seines Auszugs, seiner Wohnung und seines Haushalts beschreibt, erhebt
er auch die Klage: was Amor, die Musen und die goldne Phantasie ihm ein¬
gegeben, sei zu Düten, zu Packpapier, zum Einwickeln für die Wirte verwandt
worden oder sonst jämmerlich zu Grunde gegangen. Viele mögen auch damals
vernichtet worden sein, als Michelangelo vor seinem Tode unter seinen Pa¬
pieren aufräumte. Was sich von seinen Poesien aus der Jugend erhalten hat,
sind Fragmente und spärliche Proben. Die frühesten gehen in die Jahre 1501
und 1504 zurück. Es sind Liebesgedichte in den herkömmlichen Formen der
damaligen Lyrik. Condivi bezeugt, daß um 1504/5 (vor der Berufung nach
Rom durch Papst Julius II.) Michelangelo viele Sonette verfaßt habe. Be¬
sonders frisch, voll natürlicher Empfindung und in dieser Hinsicht fast allein¬
stehend ist ein Sonett (VII), das in Bologna Ende 1507 oder Anfang 1508
entstanden ist. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich hier um ein wirkliches
Liebesverhältnis handelt, obwohl man sonst keine Spur von dieser Bologneserin
hat. Eine Anzahl Liebesgedichte stammt auch aus den zwanziger Jahren, die
meisten mit so starker Anlehnung an die Vorgänger, insbesondre an Petrarca,
daß man zweifeln kann, ob es sich hier um wirkliche Herzenserfahrungen
handelt oder um Übungen und Versuche in der poetischen Form, die Michel¬
angelo in den Pausen seiner Arbeit auf lose Blätter warf. Andre Gedichte
sind scherzhafter Art, oder sie heben ernsthaft an, halten aber die Stimmung
nicht fest; fragmentarische Niederschriften, in denen die Empfindungen um¬
schlagen und wechseln. Persönliche Erlebnisse regen den Dichter an, seltner
die öffentlichen Zustände. Einmal (X) richtet er eine starke Anklage wider das
unheilige Treiben in Rom unter Julius II.

Kaum eine erkennbare Spur hat in den vorhandnen Gedichten die be¬
deutungsvolle Zeit zurückgelassen, wo Florenz nach der Vertreibung der Me-
dicäer den letzten Kampf für seine Unabhängigkeit zu führen hatte, der im
Jahre 1531 mit dem Untergang der Republik endete. Bekannt ist, wie sich
Michelangelo damals in den Dienst der Republik stellte, seine angestrengte
Thätigkeit den Befestigungen der Stadt widmete, und er auch zu politischen
Aufträgen verwandt wurde, und wie er dann in einem Augenblick allgemeiner
Panik die Flucht ergriff, verzweifelnd, daß er auf diesem Boden eine ungestörte
Thätigkeit in seinem Kunstberuf ausüben könnte. Nach seiner Rückkehr wurde
er persönlich in die Katastrophe der Republik mit verwickelt, und nur mit Mühe
entging er dem Gefängnis und dem Tode (im August 1530). Nach der Wieder¬
herstellung der medicäischen Herrschaft söhnte er sich mit dem Papst Clemens VII.
wieder aus, immerhin blieb für ihn das zwiespältige Verhältnis zu den Mc-
dicäern peinlich. Er arbeitete für sie an den Grabdenkmälern in San Lorenzo,
während er in ihnen die Unterdrücker der von ihm mitverteidigten Republik


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[0463] Die Gedichte Michelangelos zu Grunde gegangen. In einer launigen Epistel (I^XXXI nach Freys An¬ ordnung), worin der Dichter übertreibend das Elend seines Alters, die Ärm¬ lichkeit seines Auszugs, seiner Wohnung und seines Haushalts beschreibt, erhebt er auch die Klage: was Amor, die Musen und die goldne Phantasie ihm ein¬ gegeben, sei zu Düten, zu Packpapier, zum Einwickeln für die Wirte verwandt worden oder sonst jämmerlich zu Grunde gegangen. Viele mögen auch damals vernichtet worden sein, als Michelangelo vor seinem Tode unter seinen Pa¬ pieren aufräumte. Was sich von seinen Poesien aus der Jugend erhalten hat, sind Fragmente und spärliche Proben. Die frühesten gehen in die Jahre 1501 und 1504 zurück. Es sind Liebesgedichte in den herkömmlichen Formen der damaligen Lyrik. Condivi bezeugt, daß um 1504/5 (vor der Berufung nach Rom durch Papst Julius II.) Michelangelo viele Sonette verfaßt habe. Be¬ sonders frisch, voll natürlicher Empfindung und in dieser Hinsicht fast allein¬ stehend ist ein Sonett (VII), das in Bologna Ende 1507 oder Anfang 1508 entstanden ist. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich hier um ein wirkliches Liebesverhältnis handelt, obwohl man sonst keine Spur von dieser Bologneserin hat. Eine Anzahl Liebesgedichte stammt auch aus den zwanziger Jahren, die meisten mit so starker Anlehnung an die Vorgänger, insbesondre an Petrarca, daß man zweifeln kann, ob es sich hier um wirkliche Herzenserfahrungen handelt oder um Übungen und Versuche in der poetischen Form, die Michel¬ angelo in den Pausen seiner Arbeit auf lose Blätter warf. Andre Gedichte sind scherzhafter Art, oder sie heben ernsthaft an, halten aber die Stimmung nicht fest; fragmentarische Niederschriften, in denen die Empfindungen um¬ schlagen und wechseln. Persönliche Erlebnisse regen den Dichter an, seltner die öffentlichen Zustände. Einmal (X) richtet er eine starke Anklage wider das unheilige Treiben in Rom unter Julius II. Kaum eine erkennbare Spur hat in den vorhandnen Gedichten die be¬ deutungsvolle Zeit zurückgelassen, wo Florenz nach der Vertreibung der Me- dicäer den letzten Kampf für seine Unabhängigkeit zu führen hatte, der im Jahre 1531 mit dem Untergang der Republik endete. Bekannt ist, wie sich Michelangelo damals in den Dienst der Republik stellte, seine angestrengte Thätigkeit den Befestigungen der Stadt widmete, und er auch zu politischen Aufträgen verwandt wurde, und wie er dann in einem Augenblick allgemeiner Panik die Flucht ergriff, verzweifelnd, daß er auf diesem Boden eine ungestörte Thätigkeit in seinem Kunstberuf ausüben könnte. Nach seiner Rückkehr wurde er persönlich in die Katastrophe der Republik mit verwickelt, und nur mit Mühe entging er dem Gefängnis und dem Tode (im August 1530). Nach der Wieder¬ herstellung der medicäischen Herrschaft söhnte er sich mit dem Papst Clemens VII. wieder aus, immerhin blieb für ihn das zwiespältige Verhältnis zu den Mc- dicäern peinlich. Er arbeitete für sie an den Grabdenkmälern in San Lorenzo, während er in ihnen die Unterdrücker der von ihm mitverteidigten Republik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/463>, abgerufen am 27.07.2024.