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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedens -- um nur die nächst geeigneten zu nennen -- gesellen! Chor¬
vereine, die sich für diese Aufgaben zur Verfügung stellen würden, giebts in
Deutschland ja die Menge.

In der Gesangmusik fallen auch bei den großen Werken die Bedenken
weg, die auf der instrumentalen Seite der bedingungslosen Verpflanzung der
Sinfonie ins Volkskonzert gegenüberstehen. Denn die Verständlichkeit ist durch
den Text gesichert oder erleichtert. Doch aber wird der Kreis von Oratorien,
die auf die Volkskreise groß und klar wirken, sehr beschränkt sein. Ein ganz
zweifelloser Treffer bietet sich nur in I. Haydns "Jahreszeiten." Sie stellen
liebenswürdig und munter Verhältnisse dar, die jeder kennt. Händels Ora¬
torien würde zunächst die Ungunst ein wenig mit treffen, in der augenblicklich
das Alte Testament steht. Kommt man über dieses Vorurteil weg und faßt
sie als gewaltige Dramen aus der Völkergeschichte aus, so hat man an ihnen
den Superlativ volkstümlicher Kunst. Denn unter den Musikern ist kein
zweiter, dem es so wie Händel gegeben war, vollste Kunst und vollste Persön¬
lichkeit in solcher Einfachheit zu äußern. Heute, wo diese Händelschen Ora¬
torien durch Chrysander von allem gereinigt sind, was an ihnen zeitlich und
mißverständlich wirkt, schlagen sie alles, was sich verwandtes neben sie stellt.
Die Bilduugsorcitorien Schumanns und Bruchs würden in Volkskonzerten so
wie so einen schweren Stand haben. Das Oratorium im allgemeinen würde
aber an dieser Stelle seine Richtung für die Zukunft empfangen.

Der "große Volkschor," der am Eingang dieses Aufsatzes erwähnt wurde
-- es handelt sich um Barmer --, zeigt auf eine andre wichtige Aufgabe, die die
Freunde der Volksmusik aufzunehmen haben. Das Volk soll nicht bloß zuhören,
sondern es soll soviel als möglich mitthun. Ed. Grell, der langjährige Direktor
der Berliner Singakademie, hat in seinen "Aufsätzen und Gutachten" die Konzerte
radikal verworfen und behauptet: von der Musik haben nur die etwas, die sie
"machen." Das ist sicher eine Übertreibung, aber wahr bleibt doch: von
großen Tonwerken haben die das meiste, die selbst mitspielen und mitsingen.
Aus diesem Grunde dürfen wir uns freuen, daß wir in Deutschland so viele
Dilettantenchöre haben. Nur aber haben sie, mit spottwenig Ausnahmen,
bisher nicht genug geleistet, sodaß wir für die Zukunft ihnen allein das
Schicksal der großen Vokalmusik nicht überlassen können, sondern an die Bil¬
dung von Chören, die aus Berufssängern bestehen und bezahlt werden, wie sie
früher zahlreich vorhanden waren, denken müssen. Soll aus den Volkschören
und aus dem Oratorium in den Volkskonzerten etwas werden, so muß man
bei dem Gesangsunterricht in den Schulen einsetzen! Hier liegt überhaupt die
Zukunft der deutschen Musik. Früher kam der Schulgesang wenig in Frage,
weil Kirche, Haus, Familie, Geselligkeit und macherlei entschwundne Bräuche
und Sitten für die Musik reichlich sorgten, die heute ihre Dienste eingestellt
oder wesentlich beschränkt haben. Es hat keinen Zweck, die Reform des Schul-


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Friedens — um nur die nächst geeigneten zu nennen — gesellen! Chor¬
vereine, die sich für diese Aufgaben zur Verfügung stellen würden, giebts in
Deutschland ja die Menge.

In der Gesangmusik fallen auch bei den großen Werken die Bedenken
weg, die auf der instrumentalen Seite der bedingungslosen Verpflanzung der
Sinfonie ins Volkskonzert gegenüberstehen. Denn die Verständlichkeit ist durch
den Text gesichert oder erleichtert. Doch aber wird der Kreis von Oratorien,
die auf die Volkskreise groß und klar wirken, sehr beschränkt sein. Ein ganz
zweifelloser Treffer bietet sich nur in I. Haydns „Jahreszeiten." Sie stellen
liebenswürdig und munter Verhältnisse dar, die jeder kennt. Händels Ora¬
torien würde zunächst die Ungunst ein wenig mit treffen, in der augenblicklich
das Alte Testament steht. Kommt man über dieses Vorurteil weg und faßt
sie als gewaltige Dramen aus der Völkergeschichte aus, so hat man an ihnen
den Superlativ volkstümlicher Kunst. Denn unter den Musikern ist kein
zweiter, dem es so wie Händel gegeben war, vollste Kunst und vollste Persön¬
lichkeit in solcher Einfachheit zu äußern. Heute, wo diese Händelschen Ora¬
torien durch Chrysander von allem gereinigt sind, was an ihnen zeitlich und
mißverständlich wirkt, schlagen sie alles, was sich verwandtes neben sie stellt.
Die Bilduugsorcitorien Schumanns und Bruchs würden in Volkskonzerten so
wie so einen schweren Stand haben. Das Oratorium im allgemeinen würde
aber an dieser Stelle seine Richtung für die Zukunft empfangen.

Der „große Volkschor," der am Eingang dieses Aufsatzes erwähnt wurde
— es handelt sich um Barmer —, zeigt auf eine andre wichtige Aufgabe, die die
Freunde der Volksmusik aufzunehmen haben. Das Volk soll nicht bloß zuhören,
sondern es soll soviel als möglich mitthun. Ed. Grell, der langjährige Direktor
der Berliner Singakademie, hat in seinen „Aufsätzen und Gutachten" die Konzerte
radikal verworfen und behauptet: von der Musik haben nur die etwas, die sie
„machen." Das ist sicher eine Übertreibung, aber wahr bleibt doch: von
großen Tonwerken haben die das meiste, die selbst mitspielen und mitsingen.
Aus diesem Grunde dürfen wir uns freuen, daß wir in Deutschland so viele
Dilettantenchöre haben. Nur aber haben sie, mit spottwenig Ausnahmen,
bisher nicht genug geleistet, sodaß wir für die Zukunft ihnen allein das
Schicksal der großen Vokalmusik nicht überlassen können, sondern an die Bil¬
dung von Chören, die aus Berufssängern bestehen und bezahlt werden, wie sie
früher zahlreich vorhanden waren, denken müssen. Soll aus den Volkschören
und aus dem Oratorium in den Volkskonzerten etwas werden, so muß man
bei dem Gesangsunterricht in den Schulen einsetzen! Hier liegt überhaupt die
Zukunft der deutschen Musik. Früher kam der Schulgesang wenig in Frage,
weil Kirche, Haus, Familie, Geselligkeit und macherlei entschwundne Bräuche
und Sitten für die Musik reichlich sorgten, die heute ihre Dienste eingestellt
oder wesentlich beschränkt haben. Es hat keinen Zweck, die Reform des Schul-


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[0046] volk-konzerte Friedens — um nur die nächst geeigneten zu nennen — gesellen! Chor¬ vereine, die sich für diese Aufgaben zur Verfügung stellen würden, giebts in Deutschland ja die Menge. In der Gesangmusik fallen auch bei den großen Werken die Bedenken weg, die auf der instrumentalen Seite der bedingungslosen Verpflanzung der Sinfonie ins Volkskonzert gegenüberstehen. Denn die Verständlichkeit ist durch den Text gesichert oder erleichtert. Doch aber wird der Kreis von Oratorien, die auf die Volkskreise groß und klar wirken, sehr beschränkt sein. Ein ganz zweifelloser Treffer bietet sich nur in I. Haydns „Jahreszeiten." Sie stellen liebenswürdig und munter Verhältnisse dar, die jeder kennt. Händels Ora¬ torien würde zunächst die Ungunst ein wenig mit treffen, in der augenblicklich das Alte Testament steht. Kommt man über dieses Vorurteil weg und faßt sie als gewaltige Dramen aus der Völkergeschichte aus, so hat man an ihnen den Superlativ volkstümlicher Kunst. Denn unter den Musikern ist kein zweiter, dem es so wie Händel gegeben war, vollste Kunst und vollste Persön¬ lichkeit in solcher Einfachheit zu äußern. Heute, wo diese Händelschen Ora¬ torien durch Chrysander von allem gereinigt sind, was an ihnen zeitlich und mißverständlich wirkt, schlagen sie alles, was sich verwandtes neben sie stellt. Die Bilduugsorcitorien Schumanns und Bruchs würden in Volkskonzerten so wie so einen schweren Stand haben. Das Oratorium im allgemeinen würde aber an dieser Stelle seine Richtung für die Zukunft empfangen. Der „große Volkschor," der am Eingang dieses Aufsatzes erwähnt wurde — es handelt sich um Barmer —, zeigt auf eine andre wichtige Aufgabe, die die Freunde der Volksmusik aufzunehmen haben. Das Volk soll nicht bloß zuhören, sondern es soll soviel als möglich mitthun. Ed. Grell, der langjährige Direktor der Berliner Singakademie, hat in seinen „Aufsätzen und Gutachten" die Konzerte radikal verworfen und behauptet: von der Musik haben nur die etwas, die sie „machen." Das ist sicher eine Übertreibung, aber wahr bleibt doch: von großen Tonwerken haben die das meiste, die selbst mitspielen und mitsingen. Aus diesem Grunde dürfen wir uns freuen, daß wir in Deutschland so viele Dilettantenchöre haben. Nur aber haben sie, mit spottwenig Ausnahmen, bisher nicht genug geleistet, sodaß wir für die Zukunft ihnen allein das Schicksal der großen Vokalmusik nicht überlassen können, sondern an die Bil¬ dung von Chören, die aus Berufssängern bestehen und bezahlt werden, wie sie früher zahlreich vorhanden waren, denken müssen. Soll aus den Volkschören und aus dem Oratorium in den Volkskonzerten etwas werden, so muß man bei dem Gesangsunterricht in den Schulen einsetzen! Hier liegt überhaupt die Zukunft der deutschen Musik. Früher kam der Schulgesang wenig in Frage, weil Kirche, Haus, Familie, Geselligkeit und macherlei entschwundne Bräuche und Sitten für die Musik reichlich sorgten, die heute ihre Dienste eingestellt oder wesentlich beschränkt haben. Es hat keinen Zweck, die Reform des Schul-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/46>, abgerufen am 01.09.2024.