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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Theorie des Grafen Gobineau

nicht auf die Kultur- oder Zivilisationsstufen, soudern auf das Verhältnis der
beiden Naturtriebe zu einander, die sich auf jeder Stufe geltend machen, und
von denen der eine auf die Befriedigung der materiellen, der andre auf die
der geistigen Bedürfnisse gerichtet ist. In der Darstellung der Äußerung dieser
Triebe bei Völkern und Völkergruppen wird der Begriff der Zivilisation nur
nebenbei erklärt. Seite 112 heißt es nämlich: "Ich komme zu den Gruppen,
deren Grundelement eine so starke Lebenskraft hat, daß es alles, was seiner
Wirkungssphäre nahekommt, bindet und einschließt, es sich einverleibt und die
unbestrittene Herrschaft einer mehr oder minder wohl in sich geordneten Ge¬
samtheit von Ideen und Thatsachen, mit einem Worte dessen, was eine Zivili¬
sation heißen kann, über unermeßliche Gegenden hin aufrichtet." Was ist hier
mit dem Grundelement gemeint? Der herrschende Stamm der Völkergruppe
oder die Naturanlage? Sehen wir von dieser Unklarheit ab, so haben wir
folgende Erklärung: Zivilisation entsteht, wenn ein Volk geistes-, willens- und
leibesstark genug ist, sich die in seinen Bereich kommenden Erscheinungen ein¬
zuverleiben, sich die ihm erreichbaren materiellen Güter anzueignen, den Reichtum
von Ideen, Gütern und Einrichtungen, den es so erwirbt, zu einem geordneten
Ganzen zu verbinden, das ein unterscheidbares Gepräge zeigt, und diese seine
Daseins- und Lebensform in einem großen Gebiete zur Herrschaft zu bringen.
Diesen Begriff von Zivilisation kann man sich gefallen lassen, nur muß man
mit Humboldt hinzufügen, daß es noch eine höhere Stufe giebt, die man auch
mit ihm Kultur nennen kann. (Wenn wir nicht irren, herrscht augenblicklich
der entgegengesetzte Sprachgebrauch vor, indem die Lebensformen der Natur¬
völker und Barbaren als Kulturen bezeichnet werden, der Ausdruck Zivilisation
den Europäern vorbehalten bleibt.) Unterläßt man das, so erscheint die
chinesische Zivilisation der griechisch-römischen und der modern-europäischen eben¬
bürtig, wogegen wir ganz entschieden Protestiren müßten. Gobineau scheint es
in der That so zu meinen, und doch ist erst, wenn man diese höhere Stufe
ins Auge faßt und sie als ein Vorrecht der weißen Rasse anerkennt, der Rang-
unterschied unter den Raffen begründet. Mit den Worten "Kunst und Wissen¬
schaft" ist nun freilich die Kultur im Unterschiede von der Zivilisation noch
nicht hinlänglich charakterisirt. Auch die Chinesen haben Kunst und Wissen¬
schaft, aber was für eine! Es handelt sich hier um den Kern der Wissenschaft
vom Menschen, und es wäre Anmaßung, wenn wir auch nur versuchen wollten,
diesen hochwichtigen Gegenstand mit ein paar Worten zu erledigen. Aber das
Geständnis wollen wir doch nicht zurückhalten, daß wir denen beistimmen, die
das Humanitätsideal in den Hellenen verwirklicht sehen und diesen daher die
echte und höchste Kultur zuschreiben. Wenn man also das griechische Leben
in seine Elemente zerlegt und dann wieder die Zusammenfügung dieser Elemente
zu einem Ganzen ins Auge faßt, wird man das Wesen der Kultur ergründen-
Die Griechen haben, vorzugsweise durch Plato und Aristoteles, die Methoden
begründet, nach denen unsre heutige, von chinesischen und sonstigen asiatischen


Die Theorie des Grafen Gobineau

nicht auf die Kultur- oder Zivilisationsstufen, soudern auf das Verhältnis der
beiden Naturtriebe zu einander, die sich auf jeder Stufe geltend machen, und
von denen der eine auf die Befriedigung der materiellen, der andre auf die
der geistigen Bedürfnisse gerichtet ist. In der Darstellung der Äußerung dieser
Triebe bei Völkern und Völkergruppen wird der Begriff der Zivilisation nur
nebenbei erklärt. Seite 112 heißt es nämlich: „Ich komme zu den Gruppen,
deren Grundelement eine so starke Lebenskraft hat, daß es alles, was seiner
Wirkungssphäre nahekommt, bindet und einschließt, es sich einverleibt und die
unbestrittene Herrschaft einer mehr oder minder wohl in sich geordneten Ge¬
samtheit von Ideen und Thatsachen, mit einem Worte dessen, was eine Zivili¬
sation heißen kann, über unermeßliche Gegenden hin aufrichtet." Was ist hier
mit dem Grundelement gemeint? Der herrschende Stamm der Völkergruppe
oder die Naturanlage? Sehen wir von dieser Unklarheit ab, so haben wir
folgende Erklärung: Zivilisation entsteht, wenn ein Volk geistes-, willens- und
leibesstark genug ist, sich die in seinen Bereich kommenden Erscheinungen ein¬
zuverleiben, sich die ihm erreichbaren materiellen Güter anzueignen, den Reichtum
von Ideen, Gütern und Einrichtungen, den es so erwirbt, zu einem geordneten
Ganzen zu verbinden, das ein unterscheidbares Gepräge zeigt, und diese seine
Daseins- und Lebensform in einem großen Gebiete zur Herrschaft zu bringen.
Diesen Begriff von Zivilisation kann man sich gefallen lassen, nur muß man
mit Humboldt hinzufügen, daß es noch eine höhere Stufe giebt, die man auch
mit ihm Kultur nennen kann. (Wenn wir nicht irren, herrscht augenblicklich
der entgegengesetzte Sprachgebrauch vor, indem die Lebensformen der Natur¬
völker und Barbaren als Kulturen bezeichnet werden, der Ausdruck Zivilisation
den Europäern vorbehalten bleibt.) Unterläßt man das, so erscheint die
chinesische Zivilisation der griechisch-römischen und der modern-europäischen eben¬
bürtig, wogegen wir ganz entschieden Protestiren müßten. Gobineau scheint es
in der That so zu meinen, und doch ist erst, wenn man diese höhere Stufe
ins Auge faßt und sie als ein Vorrecht der weißen Rasse anerkennt, der Rang-
unterschied unter den Raffen begründet. Mit den Worten „Kunst und Wissen¬
schaft" ist nun freilich die Kultur im Unterschiede von der Zivilisation noch
nicht hinlänglich charakterisirt. Auch die Chinesen haben Kunst und Wissen¬
schaft, aber was für eine! Es handelt sich hier um den Kern der Wissenschaft
vom Menschen, und es wäre Anmaßung, wenn wir auch nur versuchen wollten,
diesen hochwichtigen Gegenstand mit ein paar Worten zu erledigen. Aber das
Geständnis wollen wir doch nicht zurückhalten, daß wir denen beistimmen, die
das Humanitätsideal in den Hellenen verwirklicht sehen und diesen daher die
echte und höchste Kultur zuschreiben. Wenn man also das griechische Leben
in seine Elemente zerlegt und dann wieder die Zusammenfügung dieser Elemente
zu einem Ganzen ins Auge faßt, wird man das Wesen der Kultur ergründen-
Die Griechen haben, vorzugsweise durch Plato und Aristoteles, die Methoden
begründet, nach denen unsre heutige, von chinesischen und sonstigen asiatischen


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[0456] Die Theorie des Grafen Gobineau nicht auf die Kultur- oder Zivilisationsstufen, soudern auf das Verhältnis der beiden Naturtriebe zu einander, die sich auf jeder Stufe geltend machen, und von denen der eine auf die Befriedigung der materiellen, der andre auf die der geistigen Bedürfnisse gerichtet ist. In der Darstellung der Äußerung dieser Triebe bei Völkern und Völkergruppen wird der Begriff der Zivilisation nur nebenbei erklärt. Seite 112 heißt es nämlich: „Ich komme zu den Gruppen, deren Grundelement eine so starke Lebenskraft hat, daß es alles, was seiner Wirkungssphäre nahekommt, bindet und einschließt, es sich einverleibt und die unbestrittene Herrschaft einer mehr oder minder wohl in sich geordneten Ge¬ samtheit von Ideen und Thatsachen, mit einem Worte dessen, was eine Zivili¬ sation heißen kann, über unermeßliche Gegenden hin aufrichtet." Was ist hier mit dem Grundelement gemeint? Der herrschende Stamm der Völkergruppe oder die Naturanlage? Sehen wir von dieser Unklarheit ab, so haben wir folgende Erklärung: Zivilisation entsteht, wenn ein Volk geistes-, willens- und leibesstark genug ist, sich die in seinen Bereich kommenden Erscheinungen ein¬ zuverleiben, sich die ihm erreichbaren materiellen Güter anzueignen, den Reichtum von Ideen, Gütern und Einrichtungen, den es so erwirbt, zu einem geordneten Ganzen zu verbinden, das ein unterscheidbares Gepräge zeigt, und diese seine Daseins- und Lebensform in einem großen Gebiete zur Herrschaft zu bringen. Diesen Begriff von Zivilisation kann man sich gefallen lassen, nur muß man mit Humboldt hinzufügen, daß es noch eine höhere Stufe giebt, die man auch mit ihm Kultur nennen kann. (Wenn wir nicht irren, herrscht augenblicklich der entgegengesetzte Sprachgebrauch vor, indem die Lebensformen der Natur¬ völker und Barbaren als Kulturen bezeichnet werden, der Ausdruck Zivilisation den Europäern vorbehalten bleibt.) Unterläßt man das, so erscheint die chinesische Zivilisation der griechisch-römischen und der modern-europäischen eben¬ bürtig, wogegen wir ganz entschieden Protestiren müßten. Gobineau scheint es in der That so zu meinen, und doch ist erst, wenn man diese höhere Stufe ins Auge faßt und sie als ein Vorrecht der weißen Rasse anerkennt, der Rang- unterschied unter den Raffen begründet. Mit den Worten „Kunst und Wissen¬ schaft" ist nun freilich die Kultur im Unterschiede von der Zivilisation noch nicht hinlänglich charakterisirt. Auch die Chinesen haben Kunst und Wissen¬ schaft, aber was für eine! Es handelt sich hier um den Kern der Wissenschaft vom Menschen, und es wäre Anmaßung, wenn wir auch nur versuchen wollten, diesen hochwichtigen Gegenstand mit ein paar Worten zu erledigen. Aber das Geständnis wollen wir doch nicht zurückhalten, daß wir denen beistimmen, die das Humanitätsideal in den Hellenen verwirklicht sehen und diesen daher die echte und höchste Kultur zuschreiben. Wenn man also das griechische Leben in seine Elemente zerlegt und dann wieder die Zusammenfügung dieser Elemente zu einem Ganzen ins Auge faßt, wird man das Wesen der Kultur ergründen- Die Griechen haben, vorzugsweise durch Plato und Aristoteles, die Methoden begründet, nach denen unsre heutige, von chinesischen und sonstigen asiatischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/456>, abgerufen am 28.07.2024.