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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Theorie des Grafen Gobineau

Lasterhaftigkeit der alten französischen Aristokratie hat der keinen Begriff, der
nicht die Memoirenlitteratur und die Vriefsammlungen jener Zeit kennt. Aber
diese in allen Lastern schwelgenden Könige, Prinzen und Kavaliere haben eine
Unzahl von Kindern -- ehelichen und unehelichen -- hinterlassen, und die
Macht Frankreichs hat sich nach dem moralischen Tiefstand unter dem Re¬
genten noch hundert Jahre lang aufwärts bewegt. Und was es heute bewirkt,
daß der französische Stamm verdorrt und dadurch auch die politische Macht
Frankreichs gelähmt wird -- so viel Lärm es auch mit seinen kolonialen Unter¬
nehmungen machen mag, in einem Kriege würde eben doch die überwiegende
Volkszahl der Nachbarn zu seinen Ungunsten entscheiden --, das sind nicht
die außerehelichen Ausschweifungen seiner Männer, sondern es ist ihr starker
Familiensinn; nicht in einer liederlichen Aristokratie, sondern in einer auf
möglichst guter Versorgung der Kinder bedachten Bauernschaft wurzelt das
heutige Verderben. Auch die sogenannte Sittenverderbnis trägt nur in be¬
stimmten Formen und unter gewissen Umständen zum Untergange der Völker bei.

Mit dieser Thatsache hängt die andre, ebenfalls von Gobineau ausführlich
erörterte zusammen, daß das Christentum mit der Zivilisation unmittelbar
nichts zu thun hat. Die christliche Religion will Gläubige und gute Menschen,
nicht reiche, mächtige und hochgebildete Nationen machen. So falsch die
Meinung von der natürlichen Gleichheit aller Menschen im allgemeinen auch
ist, darin wenigstens sind die gelben und die schwarzen Menschen den weißen
gleich, daß sie an Gott und ein ewiges Leben, an Himmel und Hölle, an
Christus den Erlöser glauben, daß sie den Eltern gehorchen, sich jeder Un¬
gerechtigkeit enthalten, züchtig leben und Nächstenliebe üben, daß sie also
Christen sein können. Dem Christentum steht also die Möglichkeit offen, die
universale, die Weltreligion zu werden. Aber zivilisirte oder zur selbständigen
Erzeugung von Zivilisation befähigte Menschen macht das Christentum aus
den Farbigen auch dann nicht, wenn seine Verkündiger zivilisirten Völkern
entstammen und daher den Bekehrten die Kenntnisse, Fertigkeiten und Lebens¬
gewohnheiten der Kulturvölker beibringen. Sich selbst überlassen, versinken
die Bekehrten, wie die Neger auf Haiti und die Indianer Südamerikas, in
ihre alte Barbarei. Am weitesten in der Dressur, meint Gobineau, hätten es
die Jesuiten in Paraguay gebracht, aber wäre diese Kolonie auch nicht durch äußere
Gewalt zerstört worden, so würden aus ihren Bewohnern dennoch keine wirklich
zivilisirten Menschen geworden sein, wenn ihnen nicht durch Vermischung mit
Europäern kulturfühiges Blut zugeführt worden wäre. Das Christentum,
schreibt er Seite 84, "ist zivilisatorisch, insofern es den Menschen besonnener
und milder macht; indessen ist es dies nur indirekt, denn es setzt sich nicht
zum Ziele, diese Milde und diese Ausbildung der Einsicht auf die vergäng¬
lichen Dinge anzuwenden, und überall sehen wir es sich mit dem sozialen Zu¬
stande begnügen, worin es seine Neubekehrten findet, so unvollkommen auch
dieser Zustand sein mag; vorausgesetzt nur, daß es das daraus entfernen kann,


Die Theorie des Grafen Gobineau

Lasterhaftigkeit der alten französischen Aristokratie hat der keinen Begriff, der
nicht die Memoirenlitteratur und die Vriefsammlungen jener Zeit kennt. Aber
diese in allen Lastern schwelgenden Könige, Prinzen und Kavaliere haben eine
Unzahl von Kindern — ehelichen und unehelichen — hinterlassen, und die
Macht Frankreichs hat sich nach dem moralischen Tiefstand unter dem Re¬
genten noch hundert Jahre lang aufwärts bewegt. Und was es heute bewirkt,
daß der französische Stamm verdorrt und dadurch auch die politische Macht
Frankreichs gelähmt wird — so viel Lärm es auch mit seinen kolonialen Unter¬
nehmungen machen mag, in einem Kriege würde eben doch die überwiegende
Volkszahl der Nachbarn zu seinen Ungunsten entscheiden —, das sind nicht
die außerehelichen Ausschweifungen seiner Männer, sondern es ist ihr starker
Familiensinn; nicht in einer liederlichen Aristokratie, sondern in einer auf
möglichst guter Versorgung der Kinder bedachten Bauernschaft wurzelt das
heutige Verderben. Auch die sogenannte Sittenverderbnis trägt nur in be¬
stimmten Formen und unter gewissen Umständen zum Untergange der Völker bei.

Mit dieser Thatsache hängt die andre, ebenfalls von Gobineau ausführlich
erörterte zusammen, daß das Christentum mit der Zivilisation unmittelbar
nichts zu thun hat. Die christliche Religion will Gläubige und gute Menschen,
nicht reiche, mächtige und hochgebildete Nationen machen. So falsch die
Meinung von der natürlichen Gleichheit aller Menschen im allgemeinen auch
ist, darin wenigstens sind die gelben und die schwarzen Menschen den weißen
gleich, daß sie an Gott und ein ewiges Leben, an Himmel und Hölle, an
Christus den Erlöser glauben, daß sie den Eltern gehorchen, sich jeder Un¬
gerechtigkeit enthalten, züchtig leben und Nächstenliebe üben, daß sie also
Christen sein können. Dem Christentum steht also die Möglichkeit offen, die
universale, die Weltreligion zu werden. Aber zivilisirte oder zur selbständigen
Erzeugung von Zivilisation befähigte Menschen macht das Christentum aus
den Farbigen auch dann nicht, wenn seine Verkündiger zivilisirten Völkern
entstammen und daher den Bekehrten die Kenntnisse, Fertigkeiten und Lebens¬
gewohnheiten der Kulturvölker beibringen. Sich selbst überlassen, versinken
die Bekehrten, wie die Neger auf Haiti und die Indianer Südamerikas, in
ihre alte Barbarei. Am weitesten in der Dressur, meint Gobineau, hätten es
die Jesuiten in Paraguay gebracht, aber wäre diese Kolonie auch nicht durch äußere
Gewalt zerstört worden, so würden aus ihren Bewohnern dennoch keine wirklich
zivilisirten Menschen geworden sein, wenn ihnen nicht durch Vermischung mit
Europäern kulturfühiges Blut zugeführt worden wäre. Das Christentum,
schreibt er Seite 84, „ist zivilisatorisch, insofern es den Menschen besonnener
und milder macht; indessen ist es dies nur indirekt, denn es setzt sich nicht
zum Ziele, diese Milde und diese Ausbildung der Einsicht auf die vergäng¬
lichen Dinge anzuwenden, und überall sehen wir es sich mit dem sozialen Zu¬
stande begnügen, worin es seine Neubekehrten findet, so unvollkommen auch
dieser Zustand sein mag; vorausgesetzt nur, daß es das daraus entfernen kann,


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[0452] Die Theorie des Grafen Gobineau Lasterhaftigkeit der alten französischen Aristokratie hat der keinen Begriff, der nicht die Memoirenlitteratur und die Vriefsammlungen jener Zeit kennt. Aber diese in allen Lastern schwelgenden Könige, Prinzen und Kavaliere haben eine Unzahl von Kindern — ehelichen und unehelichen — hinterlassen, und die Macht Frankreichs hat sich nach dem moralischen Tiefstand unter dem Re¬ genten noch hundert Jahre lang aufwärts bewegt. Und was es heute bewirkt, daß der französische Stamm verdorrt und dadurch auch die politische Macht Frankreichs gelähmt wird — so viel Lärm es auch mit seinen kolonialen Unter¬ nehmungen machen mag, in einem Kriege würde eben doch die überwiegende Volkszahl der Nachbarn zu seinen Ungunsten entscheiden —, das sind nicht die außerehelichen Ausschweifungen seiner Männer, sondern es ist ihr starker Familiensinn; nicht in einer liederlichen Aristokratie, sondern in einer auf möglichst guter Versorgung der Kinder bedachten Bauernschaft wurzelt das heutige Verderben. Auch die sogenannte Sittenverderbnis trägt nur in be¬ stimmten Formen und unter gewissen Umständen zum Untergange der Völker bei. Mit dieser Thatsache hängt die andre, ebenfalls von Gobineau ausführlich erörterte zusammen, daß das Christentum mit der Zivilisation unmittelbar nichts zu thun hat. Die christliche Religion will Gläubige und gute Menschen, nicht reiche, mächtige und hochgebildete Nationen machen. So falsch die Meinung von der natürlichen Gleichheit aller Menschen im allgemeinen auch ist, darin wenigstens sind die gelben und die schwarzen Menschen den weißen gleich, daß sie an Gott und ein ewiges Leben, an Himmel und Hölle, an Christus den Erlöser glauben, daß sie den Eltern gehorchen, sich jeder Un¬ gerechtigkeit enthalten, züchtig leben und Nächstenliebe üben, daß sie also Christen sein können. Dem Christentum steht also die Möglichkeit offen, die universale, die Weltreligion zu werden. Aber zivilisirte oder zur selbständigen Erzeugung von Zivilisation befähigte Menschen macht das Christentum aus den Farbigen auch dann nicht, wenn seine Verkündiger zivilisirten Völkern entstammen und daher den Bekehrten die Kenntnisse, Fertigkeiten und Lebens¬ gewohnheiten der Kulturvölker beibringen. Sich selbst überlassen, versinken die Bekehrten, wie die Neger auf Haiti und die Indianer Südamerikas, in ihre alte Barbarei. Am weitesten in der Dressur, meint Gobineau, hätten es die Jesuiten in Paraguay gebracht, aber wäre diese Kolonie auch nicht durch äußere Gewalt zerstört worden, so würden aus ihren Bewohnern dennoch keine wirklich zivilisirten Menschen geworden sein, wenn ihnen nicht durch Vermischung mit Europäern kulturfühiges Blut zugeführt worden wäre. Das Christentum, schreibt er Seite 84, „ist zivilisatorisch, insofern es den Menschen besonnener und milder macht; indessen ist es dies nur indirekt, denn es setzt sich nicht zum Ziele, diese Milde und diese Ausbildung der Einsicht auf die vergäng¬ lichen Dinge anzuwenden, und überall sehen wir es sich mit dem sozialen Zu¬ stande begnügen, worin es seine Neubekehrten findet, so unvollkommen auch dieser Zustand sein mag; vorausgesetzt nur, daß es das daraus entfernen kann,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/452>, abgerufen am 28.07.2024.