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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Theorie des Grafen Gobineau

gebauten aufgegriffen und nach zwei ganz verschiednen, aber gleich falschen
Richtungen hin fortentwickelt haben. Aus der gleichzeitigen kritiklosen Benutzung
Gobineaus und Darwins erklärt sich der Widerspruch jener Selektionisten, die
über die Degeneration der Menschheit durch Rassenmischung jammern und sich
dabei zur Theorie Darwins bekennen, nach der ein natürlicher Ausleseprozeß
immer höhere und vollkommnere Arten züchten soll. Wir unsrerseits nehmen
nicht etwa Gobineaus Theorie in Bausch und Bogen an. Unsre Überein¬
stimmung mit diesem Forscher beschränkt sich auf folgendes. Wir gehen gleich
ihm nicht von einer Einheit aus, sondern von einer Vielheit von Elementen,
deren Kombinationen die Mannigfaltigkeit der Welt und die Wandlungen der
Weltgeschichte erzeugen. Wir glauben mit ihm an die Beharrlichkeit der Nassen-
und Stammeseigenschaften, unterscheiden edle und unedle Rassen, halten die
Weiße Rasse für die edle, und die Germanen für den edelsten Zweig dieser
Nasse. Wir bestreiten gleich Gobineau, daß die Menschheit in intellektueller,
moralischer und ästhetischer Beziehung fortschreite, und beschränken den Fort¬
schritt auf das technische Gebiet und auf das Wachstum der Zahl der Kom¬
binationen und Erscheinungen. Aber wir halten die Rassenmischung nicht für
die einzige Ursache der Veränderungen, wir bestreiten, daß diese Mischung in
dem Grade verderblich wirke, wie Gobineau annimmt, und wir bezweifeln die
Thatsache der allgemeinen Degenerirung. Außerdem fassen wir manche Einzel¬
erscheinungen anders auf als er. Im folgenden versuchen wir, über einige
Punkte seiner Darstellung einen kritischen Bericht zu erstatten.

Gobineau zeigt, daß, wenn Völker untergehen, ihr Untergang nicht durch
Sittenverderbnis verschuldet wird. Ganz wie wir es wiederholt gethan haben,
weist er auf die eigentlich selbstverständliche Thatsache hin, daß es nicht die
Tugend im christlichen Sinne ist, was die Phönizier und die Römer alter und
neuer Zeiten reich und mächtig gemacht hat, sondern Habsucht, Unterdrückung
und rücksichtslose Ausbeutung der Schwächern, Treulosigkeit und andre ähnliche
Eigenschaften und Handlungsweisen, die kein Katechismus empfiehlt. Und es
hat die Blüte der mächtigen Völker auch nicht beeinträchtigt, daß sie ihren
Reichtum dazu verwandten, sich sinnliche Genüsse zu verschaffen, die im Kate¬
chismus ebenso wenig gelobt werden. Ganz richtig hebt Gobineau hervor, daß
die Spartaner eigentlich nur eine organisirte Räuberbande gewesen sind, und
daß man den harten Cato nicht einen guten Menschen nennen kann, daß aber
der Ruhm Spartas auf seiner Räuberbandenverfassung und die Größe Roms
auf der Härte seiner Bürger in der "guten alten Zeit" beruht hat. Die
Römer der Kaiserzeit, meint er, seien viel bessere Menschen gewesen. Es ist
eine ganz bestimmte Mischung guter und schlechter -- moralisch beurteilt
schlechter -- Eigenschaften, die ein Volk groß macht, und es ist nicht einmal
richtig, daß das, was man gewöhnlich Sittenreinheit nennt, einen notwendigen
Bestandteil der Mischung ausmache. Die heutigen Franzosen sind auch in
dieser Beziehung besser als ihre Väter im Zeitalter Ludwigs XIV. Von der


Die Theorie des Grafen Gobineau

gebauten aufgegriffen und nach zwei ganz verschiednen, aber gleich falschen
Richtungen hin fortentwickelt haben. Aus der gleichzeitigen kritiklosen Benutzung
Gobineaus und Darwins erklärt sich der Widerspruch jener Selektionisten, die
über die Degeneration der Menschheit durch Rassenmischung jammern und sich
dabei zur Theorie Darwins bekennen, nach der ein natürlicher Ausleseprozeß
immer höhere und vollkommnere Arten züchten soll. Wir unsrerseits nehmen
nicht etwa Gobineaus Theorie in Bausch und Bogen an. Unsre Überein¬
stimmung mit diesem Forscher beschränkt sich auf folgendes. Wir gehen gleich
ihm nicht von einer Einheit aus, sondern von einer Vielheit von Elementen,
deren Kombinationen die Mannigfaltigkeit der Welt und die Wandlungen der
Weltgeschichte erzeugen. Wir glauben mit ihm an die Beharrlichkeit der Nassen-
und Stammeseigenschaften, unterscheiden edle und unedle Rassen, halten die
Weiße Rasse für die edle, und die Germanen für den edelsten Zweig dieser
Nasse. Wir bestreiten gleich Gobineau, daß die Menschheit in intellektueller,
moralischer und ästhetischer Beziehung fortschreite, und beschränken den Fort¬
schritt auf das technische Gebiet und auf das Wachstum der Zahl der Kom¬
binationen und Erscheinungen. Aber wir halten die Rassenmischung nicht für
die einzige Ursache der Veränderungen, wir bestreiten, daß diese Mischung in
dem Grade verderblich wirke, wie Gobineau annimmt, und wir bezweifeln die
Thatsache der allgemeinen Degenerirung. Außerdem fassen wir manche Einzel¬
erscheinungen anders auf als er. Im folgenden versuchen wir, über einige
Punkte seiner Darstellung einen kritischen Bericht zu erstatten.

Gobineau zeigt, daß, wenn Völker untergehen, ihr Untergang nicht durch
Sittenverderbnis verschuldet wird. Ganz wie wir es wiederholt gethan haben,
weist er auf die eigentlich selbstverständliche Thatsache hin, daß es nicht die
Tugend im christlichen Sinne ist, was die Phönizier und die Römer alter und
neuer Zeiten reich und mächtig gemacht hat, sondern Habsucht, Unterdrückung
und rücksichtslose Ausbeutung der Schwächern, Treulosigkeit und andre ähnliche
Eigenschaften und Handlungsweisen, die kein Katechismus empfiehlt. Und es
hat die Blüte der mächtigen Völker auch nicht beeinträchtigt, daß sie ihren
Reichtum dazu verwandten, sich sinnliche Genüsse zu verschaffen, die im Kate¬
chismus ebenso wenig gelobt werden. Ganz richtig hebt Gobineau hervor, daß
die Spartaner eigentlich nur eine organisirte Räuberbande gewesen sind, und
daß man den harten Cato nicht einen guten Menschen nennen kann, daß aber
der Ruhm Spartas auf seiner Räuberbandenverfassung und die Größe Roms
auf der Härte seiner Bürger in der „guten alten Zeit" beruht hat. Die
Römer der Kaiserzeit, meint er, seien viel bessere Menschen gewesen. Es ist
eine ganz bestimmte Mischung guter und schlechter — moralisch beurteilt
schlechter — Eigenschaften, die ein Volk groß macht, und es ist nicht einmal
richtig, daß das, was man gewöhnlich Sittenreinheit nennt, einen notwendigen
Bestandteil der Mischung ausmache. Die heutigen Franzosen sind auch in
dieser Beziehung besser als ihre Väter im Zeitalter Ludwigs XIV. Von der


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[0451] Die Theorie des Grafen Gobineau gebauten aufgegriffen und nach zwei ganz verschiednen, aber gleich falschen Richtungen hin fortentwickelt haben. Aus der gleichzeitigen kritiklosen Benutzung Gobineaus und Darwins erklärt sich der Widerspruch jener Selektionisten, die über die Degeneration der Menschheit durch Rassenmischung jammern und sich dabei zur Theorie Darwins bekennen, nach der ein natürlicher Ausleseprozeß immer höhere und vollkommnere Arten züchten soll. Wir unsrerseits nehmen nicht etwa Gobineaus Theorie in Bausch und Bogen an. Unsre Überein¬ stimmung mit diesem Forscher beschränkt sich auf folgendes. Wir gehen gleich ihm nicht von einer Einheit aus, sondern von einer Vielheit von Elementen, deren Kombinationen die Mannigfaltigkeit der Welt und die Wandlungen der Weltgeschichte erzeugen. Wir glauben mit ihm an die Beharrlichkeit der Nassen- und Stammeseigenschaften, unterscheiden edle und unedle Rassen, halten die Weiße Rasse für die edle, und die Germanen für den edelsten Zweig dieser Nasse. Wir bestreiten gleich Gobineau, daß die Menschheit in intellektueller, moralischer und ästhetischer Beziehung fortschreite, und beschränken den Fort¬ schritt auf das technische Gebiet und auf das Wachstum der Zahl der Kom¬ binationen und Erscheinungen. Aber wir halten die Rassenmischung nicht für die einzige Ursache der Veränderungen, wir bestreiten, daß diese Mischung in dem Grade verderblich wirke, wie Gobineau annimmt, und wir bezweifeln die Thatsache der allgemeinen Degenerirung. Außerdem fassen wir manche Einzel¬ erscheinungen anders auf als er. Im folgenden versuchen wir, über einige Punkte seiner Darstellung einen kritischen Bericht zu erstatten. Gobineau zeigt, daß, wenn Völker untergehen, ihr Untergang nicht durch Sittenverderbnis verschuldet wird. Ganz wie wir es wiederholt gethan haben, weist er auf die eigentlich selbstverständliche Thatsache hin, daß es nicht die Tugend im christlichen Sinne ist, was die Phönizier und die Römer alter und neuer Zeiten reich und mächtig gemacht hat, sondern Habsucht, Unterdrückung und rücksichtslose Ausbeutung der Schwächern, Treulosigkeit und andre ähnliche Eigenschaften und Handlungsweisen, die kein Katechismus empfiehlt. Und es hat die Blüte der mächtigen Völker auch nicht beeinträchtigt, daß sie ihren Reichtum dazu verwandten, sich sinnliche Genüsse zu verschaffen, die im Kate¬ chismus ebenso wenig gelobt werden. Ganz richtig hebt Gobineau hervor, daß die Spartaner eigentlich nur eine organisirte Räuberbande gewesen sind, und daß man den harten Cato nicht einen guten Menschen nennen kann, daß aber der Ruhm Spartas auf seiner Räuberbandenverfassung und die Größe Roms auf der Härte seiner Bürger in der „guten alten Zeit" beruht hat. Die Römer der Kaiserzeit, meint er, seien viel bessere Menschen gewesen. Es ist eine ganz bestimmte Mischung guter und schlechter — moralisch beurteilt schlechter — Eigenschaften, die ein Volk groß macht, und es ist nicht einmal richtig, daß das, was man gewöhnlich Sittenreinheit nennt, einen notwendigen Bestandteil der Mischung ausmache. Die heutigen Franzosen sind auch in dieser Beziehung besser als ihre Väter im Zeitalter Ludwigs XIV. Von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/451>, abgerufen am 27.07.2024.