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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gegen die agrarischen Übertreibungen

die Kornproduzenten des alten Europa empfindlich getroffen hätten. Durch
die moderne Technik und durch die darauf beruhenden Verkehrsmittel seien
einerseits schon große Vorteile und große Wertsteigerungen sür den Grundbesitz
des alten Europas veranlaßt worden, die jetzt hervortretende weitere Folge
aber lasse sich "bei einiger Liberalität der Auffassung als Notstand kon-
statiren."

Aber nicht als Notstand kann es angesehen werden, daß der wachsende
Kornbedarf als Folge der wachsenden Bevölkerung in den alten Ländern Fort¬
schritte der Kultur, insbesondre der Verkehrsmittel, verursacht habe, die der
Tendenz der wachsenden Grundrente und des wachsenden Kornpreises, die oft
genug als "grausames Gesetz" bezeichnet worden sei, entgegen wirkten.

Es könne nicht als Notstand angesehen werden, daß diese Gegenwirkung
der Kultur mit so großem Erfolge ausgeübt worden sei.

Es könne erst recht nicht als Notstand angesehen werden, daß die Reich-
lichkeit der Versorgung mit den elementaren Dingen des Bedarfs eine wesent¬
liche Erleichterung des Lebens für einen immer größern Teil der Bevölkerung
der alten Länder herbeigeführt habe. Vielmehr müsse eben hierin nicht nur
"ein großer Gewinn für das Ganze" dieser Völker, sondern auch eine "dauernde
Errungenschaft" gesehen werden, die nicht ein vorübergehender Glücksfall,
sondern eine wesentliche Bedingung für das "dauernde Wohlbefinden der
Mehrzahl" sei.

Deshalb könne bei der Abwehr des Notstands nicht beabsichtigt werden,
die Konkurrenz der ausländischen Brotfrucht zu beseitigen, sondern nur: deu
Anprall dieser Konkurrenz als einer dauernden Thatsache des modernen Wirt¬
schaftslebens vorübergehend zu mildern. Wenn die Steigerung der Kornpreise
und der Bodenpreise in frühern Jahrzehnten auf Kosten der übrigen Bevölke¬
rung ein Geschenk sür die Grundeigentümer gewesen sei, so müsse die entgegen¬
gesetzte Wendung -- die in den Preisen der Grundstücke nirgends in ähnlichem
Umfange zur Geltung gekommen sei, wie ihre vorausgegangne steigende Be¬
wegung -- als eine im Interesse der Gesamtheit eingetretne Milderung des
sogenannten "Gesetzes der Grundrente" von den Interessenten getragen werden.
Sie hätten dem Staate von den frühern Wertsteigernngen ihres Besitzes, die
sich ein halbes Jahrhundert lang vollzogen hätten, nichts herausgegeben.

Im Gegensatz zu dem Wesen der allein gerechtfertigten Notstandshilfe,
ihrem ausgesprochen vorübergehenden Charakter, scheint auch nach Professor
Cohns Ansicht -- wie wir dies schon früher wiederholt gesagt haben -- die heute
herrschende reaktionäre Handels- und Agrarpolitik "ein Ziel der gegenwärtigen
Notstandsmaßregeln aus dem Auge verloren zu haben" und dahin gelangt zu
sein, "daß man, statt sich auf das Ende der zur Zeit gewährten öffentlichen
Unterstützung vorzubereiten, vielmehr die Endlosigkeit derselben und nicht nur
diese, sondern auch die Verstärkung einer endlosen Unterstützung fordert."


Grenzboten III 1898 5V
Gegen die agrarischen Übertreibungen

die Kornproduzenten des alten Europa empfindlich getroffen hätten. Durch
die moderne Technik und durch die darauf beruhenden Verkehrsmittel seien
einerseits schon große Vorteile und große Wertsteigerungen sür den Grundbesitz
des alten Europas veranlaßt worden, die jetzt hervortretende weitere Folge
aber lasse sich „bei einiger Liberalität der Auffassung als Notstand kon-
statiren."

Aber nicht als Notstand kann es angesehen werden, daß der wachsende
Kornbedarf als Folge der wachsenden Bevölkerung in den alten Ländern Fort¬
schritte der Kultur, insbesondre der Verkehrsmittel, verursacht habe, die der
Tendenz der wachsenden Grundrente und des wachsenden Kornpreises, die oft
genug als „grausames Gesetz" bezeichnet worden sei, entgegen wirkten.

Es könne nicht als Notstand angesehen werden, daß diese Gegenwirkung
der Kultur mit so großem Erfolge ausgeübt worden sei.

Es könne erst recht nicht als Notstand angesehen werden, daß die Reich-
lichkeit der Versorgung mit den elementaren Dingen des Bedarfs eine wesent¬
liche Erleichterung des Lebens für einen immer größern Teil der Bevölkerung
der alten Länder herbeigeführt habe. Vielmehr müsse eben hierin nicht nur
„ein großer Gewinn für das Ganze" dieser Völker, sondern auch eine „dauernde
Errungenschaft" gesehen werden, die nicht ein vorübergehender Glücksfall,
sondern eine wesentliche Bedingung für das „dauernde Wohlbefinden der
Mehrzahl" sei.

Deshalb könne bei der Abwehr des Notstands nicht beabsichtigt werden,
die Konkurrenz der ausländischen Brotfrucht zu beseitigen, sondern nur: deu
Anprall dieser Konkurrenz als einer dauernden Thatsache des modernen Wirt¬
schaftslebens vorübergehend zu mildern. Wenn die Steigerung der Kornpreise
und der Bodenpreise in frühern Jahrzehnten auf Kosten der übrigen Bevölke¬
rung ein Geschenk sür die Grundeigentümer gewesen sei, so müsse die entgegen¬
gesetzte Wendung — die in den Preisen der Grundstücke nirgends in ähnlichem
Umfange zur Geltung gekommen sei, wie ihre vorausgegangne steigende Be¬
wegung — als eine im Interesse der Gesamtheit eingetretne Milderung des
sogenannten „Gesetzes der Grundrente" von den Interessenten getragen werden.
Sie hätten dem Staate von den frühern Wertsteigernngen ihres Besitzes, die
sich ein halbes Jahrhundert lang vollzogen hätten, nichts herausgegeben.

Im Gegensatz zu dem Wesen der allein gerechtfertigten Notstandshilfe,
ihrem ausgesprochen vorübergehenden Charakter, scheint auch nach Professor
Cohns Ansicht — wie wir dies schon früher wiederholt gesagt haben — die heute
herrschende reaktionäre Handels- und Agrarpolitik „ein Ziel der gegenwärtigen
Notstandsmaßregeln aus dem Auge verloren zu haben" und dahin gelangt zu
sein, „daß man, statt sich auf das Ende der zur Zeit gewährten öffentlichen
Unterstützung vorzubereiten, vielmehr die Endlosigkeit derselben und nicht nur
diese, sondern auch die Verstärkung einer endlosen Unterstützung fordert."


Grenzboten III 1898 5V
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[0449] Gegen die agrarischen Übertreibungen die Kornproduzenten des alten Europa empfindlich getroffen hätten. Durch die moderne Technik und durch die darauf beruhenden Verkehrsmittel seien einerseits schon große Vorteile und große Wertsteigerungen sür den Grundbesitz des alten Europas veranlaßt worden, die jetzt hervortretende weitere Folge aber lasse sich „bei einiger Liberalität der Auffassung als Notstand kon- statiren." Aber nicht als Notstand kann es angesehen werden, daß der wachsende Kornbedarf als Folge der wachsenden Bevölkerung in den alten Ländern Fort¬ schritte der Kultur, insbesondre der Verkehrsmittel, verursacht habe, die der Tendenz der wachsenden Grundrente und des wachsenden Kornpreises, die oft genug als „grausames Gesetz" bezeichnet worden sei, entgegen wirkten. Es könne nicht als Notstand angesehen werden, daß diese Gegenwirkung der Kultur mit so großem Erfolge ausgeübt worden sei. Es könne erst recht nicht als Notstand angesehen werden, daß die Reich- lichkeit der Versorgung mit den elementaren Dingen des Bedarfs eine wesent¬ liche Erleichterung des Lebens für einen immer größern Teil der Bevölkerung der alten Länder herbeigeführt habe. Vielmehr müsse eben hierin nicht nur „ein großer Gewinn für das Ganze" dieser Völker, sondern auch eine „dauernde Errungenschaft" gesehen werden, die nicht ein vorübergehender Glücksfall, sondern eine wesentliche Bedingung für das „dauernde Wohlbefinden der Mehrzahl" sei. Deshalb könne bei der Abwehr des Notstands nicht beabsichtigt werden, die Konkurrenz der ausländischen Brotfrucht zu beseitigen, sondern nur: deu Anprall dieser Konkurrenz als einer dauernden Thatsache des modernen Wirt¬ schaftslebens vorübergehend zu mildern. Wenn die Steigerung der Kornpreise und der Bodenpreise in frühern Jahrzehnten auf Kosten der übrigen Bevölke¬ rung ein Geschenk sür die Grundeigentümer gewesen sei, so müsse die entgegen¬ gesetzte Wendung — die in den Preisen der Grundstücke nirgends in ähnlichem Umfange zur Geltung gekommen sei, wie ihre vorausgegangne steigende Be¬ wegung — als eine im Interesse der Gesamtheit eingetretne Milderung des sogenannten „Gesetzes der Grundrente" von den Interessenten getragen werden. Sie hätten dem Staate von den frühern Wertsteigernngen ihres Besitzes, die sich ein halbes Jahrhundert lang vollzogen hätten, nichts herausgegeben. Im Gegensatz zu dem Wesen der allein gerechtfertigten Notstandshilfe, ihrem ausgesprochen vorübergehenden Charakter, scheint auch nach Professor Cohns Ansicht — wie wir dies schon früher wiederholt gesagt haben — die heute herrschende reaktionäre Handels- und Agrarpolitik „ein Ziel der gegenwärtigen Notstandsmaßregeln aus dem Auge verloren zu haben" und dahin gelangt zu sein, „daß man, statt sich auf das Ende der zur Zeit gewährten öffentlichen Unterstützung vorzubereiten, vielmehr die Endlosigkeit derselben und nicht nur diese, sondern auch die Verstärkung einer endlosen Unterstützung fordert." Grenzboten III 1898 5V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/449>, abgerufen am 27.07.2024.