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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gegen die agrarischen Übertreibungen

in jedem einzelnen Volke könne man von der Kehrseite wie von der Vorder¬
seite betrachten. Die Freunde elegischer Weltansichten wendeten ihr Auge mit
Vorliebe der Kehrseite zu, "wie müde Greise im Frühling an das Fallen der
Blätter erinnern." Sie würden ja Recht behalten, die Blätter würden im
Herbst fallen, aber zuvor würde der Sommer kommen und würden die Früchte
reifen.

Man weiß nicht, ob das Bibelwort: Seid fruchtbar und mehret euch!
mehr ein Fluch oder mehr ein Segen sein sollte. Dennoch lebten die Nationen
und vermehrten sich, und wenn sie auf einer gewissen Höhe angelangt seien,
versuchten sie es mit den Waffen der fortgeschrittnen Technik, voran zu stehen
durch Bevölkerung, Wohlstand, Macht. "Sie überlassen es den Romantikern
und Elegikern, darüber zu klagen, daß alles zuletzt ein Ende nehmen muß."

"Sollen sentimentale Betrachtungen über den Abfall von der "Eigenwirt¬
schaft," über die Verirrung zur Arbeitsteilung und Geldwirtschaft eine ernst¬
hafte Bedeutung haben, so treffen sie ein viel größeres Stück der heutigen
Volkswirtschaft gesitteter Völker und ihrer bisherigen Entwicklung als den
"Industriestaat" und das "obere Stockwerk." Sie verneinen das Ganze bis
auf einen getrciumten, niemals dagewesenen Rest. Es ist die Blume der
Romantik, die nicht im Walde gewachsen ist, sondern hinter den Doppelfenstern
einer fünfstöckigen Mietskaserne."

Soviel über die wissenschaftlichen Propheten der Agrarier. Sie wissen
nicht, was sie wollen mit der gepriesenen Eigenwirtschaft und mit den Jere-
miaden über Kapitalismus und Jndustrialismus. Aber was sie überhaupt
wollen könnten, das ist in der That der Umsturz der heutigen Gesellschafts¬
ordnung und der heutigen Kultur bis auf einen winzigen Nest, um den es
vielleicht nicht lohnen würde, als Deutscher oder überhaupt als gesitteter
Europäer weiter zu leben.

Besonders lehrreich ist ferner die treffliche Beleuchtung, die Professor
Cohn dem so viel gebrauchten und gemißbrauchten Notstandsbegriff zu
teil werden läßt.

Es sei klar, meint er, daß über die Ausdehnung des Begriffs auf die
praktischen Vorfülle der Volkswirtschaft Zweifel entstehen müßten, und daß
die nach Hilfe rufenden Interessenten geneigt seien, dem Begriff des "Not¬
stands" eine möglichst weite Ausdehnung zu geben. Das sei im besondern
der Fall mit der heute in den verschiednen Ländern des alten Europa vor¬
liegenden "agrarischen Krisis." Das Wesen des sich in ihr offenbarenden
Notstands beruhe auf der zumal die Getreideproduktion treffenden Konkurrenz
der neuen Länder, die durch die natürliche Ergiebigkeit des Bodens, Entwick¬
lung der neuen Verkehrsmittel, Anwendung der fortgeschrittnen Produktions¬
methoden seit zwei Jahrzehnten zunehmenden Mengen der Brotfrüchte auf den
europäischen Markt geworfen und damit den Gctreidepreis gewaltig gedrückt,


Gegen die agrarischen Übertreibungen

in jedem einzelnen Volke könne man von der Kehrseite wie von der Vorder¬
seite betrachten. Die Freunde elegischer Weltansichten wendeten ihr Auge mit
Vorliebe der Kehrseite zu, „wie müde Greise im Frühling an das Fallen der
Blätter erinnern." Sie würden ja Recht behalten, die Blätter würden im
Herbst fallen, aber zuvor würde der Sommer kommen und würden die Früchte
reifen.

Man weiß nicht, ob das Bibelwort: Seid fruchtbar und mehret euch!
mehr ein Fluch oder mehr ein Segen sein sollte. Dennoch lebten die Nationen
und vermehrten sich, und wenn sie auf einer gewissen Höhe angelangt seien,
versuchten sie es mit den Waffen der fortgeschrittnen Technik, voran zu stehen
durch Bevölkerung, Wohlstand, Macht. „Sie überlassen es den Romantikern
und Elegikern, darüber zu klagen, daß alles zuletzt ein Ende nehmen muß."

„Sollen sentimentale Betrachtungen über den Abfall von der »Eigenwirt¬
schaft,« über die Verirrung zur Arbeitsteilung und Geldwirtschaft eine ernst¬
hafte Bedeutung haben, so treffen sie ein viel größeres Stück der heutigen
Volkswirtschaft gesitteter Völker und ihrer bisherigen Entwicklung als den
»Industriestaat« und das »obere Stockwerk.« Sie verneinen das Ganze bis
auf einen getrciumten, niemals dagewesenen Rest. Es ist die Blume der
Romantik, die nicht im Walde gewachsen ist, sondern hinter den Doppelfenstern
einer fünfstöckigen Mietskaserne."

Soviel über die wissenschaftlichen Propheten der Agrarier. Sie wissen
nicht, was sie wollen mit der gepriesenen Eigenwirtschaft und mit den Jere-
miaden über Kapitalismus und Jndustrialismus. Aber was sie überhaupt
wollen könnten, das ist in der That der Umsturz der heutigen Gesellschafts¬
ordnung und der heutigen Kultur bis auf einen winzigen Nest, um den es
vielleicht nicht lohnen würde, als Deutscher oder überhaupt als gesitteter
Europäer weiter zu leben.

Besonders lehrreich ist ferner die treffliche Beleuchtung, die Professor
Cohn dem so viel gebrauchten und gemißbrauchten Notstandsbegriff zu
teil werden läßt.

Es sei klar, meint er, daß über die Ausdehnung des Begriffs auf die
praktischen Vorfülle der Volkswirtschaft Zweifel entstehen müßten, und daß
die nach Hilfe rufenden Interessenten geneigt seien, dem Begriff des „Not¬
stands" eine möglichst weite Ausdehnung zu geben. Das sei im besondern
der Fall mit der heute in den verschiednen Ländern des alten Europa vor¬
liegenden „agrarischen Krisis." Das Wesen des sich in ihr offenbarenden
Notstands beruhe auf der zumal die Getreideproduktion treffenden Konkurrenz
der neuen Länder, die durch die natürliche Ergiebigkeit des Bodens, Entwick¬
lung der neuen Verkehrsmittel, Anwendung der fortgeschrittnen Produktions¬
methoden seit zwei Jahrzehnten zunehmenden Mengen der Brotfrüchte auf den
europäischen Markt geworfen und damit den Gctreidepreis gewaltig gedrückt,


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[0448] Gegen die agrarischen Übertreibungen in jedem einzelnen Volke könne man von der Kehrseite wie von der Vorder¬ seite betrachten. Die Freunde elegischer Weltansichten wendeten ihr Auge mit Vorliebe der Kehrseite zu, „wie müde Greise im Frühling an das Fallen der Blätter erinnern." Sie würden ja Recht behalten, die Blätter würden im Herbst fallen, aber zuvor würde der Sommer kommen und würden die Früchte reifen. Man weiß nicht, ob das Bibelwort: Seid fruchtbar und mehret euch! mehr ein Fluch oder mehr ein Segen sein sollte. Dennoch lebten die Nationen und vermehrten sich, und wenn sie auf einer gewissen Höhe angelangt seien, versuchten sie es mit den Waffen der fortgeschrittnen Technik, voran zu stehen durch Bevölkerung, Wohlstand, Macht. „Sie überlassen es den Romantikern und Elegikern, darüber zu klagen, daß alles zuletzt ein Ende nehmen muß." „Sollen sentimentale Betrachtungen über den Abfall von der »Eigenwirt¬ schaft,« über die Verirrung zur Arbeitsteilung und Geldwirtschaft eine ernst¬ hafte Bedeutung haben, so treffen sie ein viel größeres Stück der heutigen Volkswirtschaft gesitteter Völker und ihrer bisherigen Entwicklung als den »Industriestaat« und das »obere Stockwerk.« Sie verneinen das Ganze bis auf einen getrciumten, niemals dagewesenen Rest. Es ist die Blume der Romantik, die nicht im Walde gewachsen ist, sondern hinter den Doppelfenstern einer fünfstöckigen Mietskaserne." Soviel über die wissenschaftlichen Propheten der Agrarier. Sie wissen nicht, was sie wollen mit der gepriesenen Eigenwirtschaft und mit den Jere- miaden über Kapitalismus und Jndustrialismus. Aber was sie überhaupt wollen könnten, das ist in der That der Umsturz der heutigen Gesellschafts¬ ordnung und der heutigen Kultur bis auf einen winzigen Nest, um den es vielleicht nicht lohnen würde, als Deutscher oder überhaupt als gesitteter Europäer weiter zu leben. Besonders lehrreich ist ferner die treffliche Beleuchtung, die Professor Cohn dem so viel gebrauchten und gemißbrauchten Notstandsbegriff zu teil werden läßt. Es sei klar, meint er, daß über die Ausdehnung des Begriffs auf die praktischen Vorfülle der Volkswirtschaft Zweifel entstehen müßten, und daß die nach Hilfe rufenden Interessenten geneigt seien, dem Begriff des „Not¬ stands" eine möglichst weite Ausdehnung zu geben. Das sei im besondern der Fall mit der heute in den verschiednen Ländern des alten Europa vor¬ liegenden „agrarischen Krisis." Das Wesen des sich in ihr offenbarenden Notstands beruhe auf der zumal die Getreideproduktion treffenden Konkurrenz der neuen Länder, die durch die natürliche Ergiebigkeit des Bodens, Entwick¬ lung der neuen Verkehrsmittel, Anwendung der fortgeschrittnen Produktions¬ methoden seit zwei Jahrzehnten zunehmenden Mengen der Brotfrüchte auf den europäischen Markt geworfen und damit den Gctreidepreis gewaltig gedrückt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/448>, abgerufen am 28.07.2024.