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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gegen die agrarischen Übertreibungen

Werde, so lange müsse sich die landwirtschaftliche Bevölkerung vermehren. Finde
das nicht statt, so habe der Staat der Landwirtschaft größere Fürsorge zuzuwenden.
Mit solchen Anschauungen müssen wir heute als den herrschenden rechnen.

Professor Gustav Cohn in Göttingen*) beschäftigt sich zunächst mit der
Oldenbergischen Theorie der Eigenwirtschaft.

Otterberg vergleicht bekanntlich die Volkswirtschaft mit einem Etagenbau.
Das Erdgeschoß ist die Landwirtschaft, sie trägt die Industrie auf ihren
Schultern. Solange noch unbebauter Boden verfügbar ist, kann Erdgeschoß
und Oberstock gleichmäßig ausgebaut werden bis an die Landesgrenze. Weiter
könne dann nur der Oberstock, die Industrie, ausgedehnt werden, indem ihre
Angehörigen von ausländischer Nahrung lebten und ihre Fabrikate dafür hin¬
gäben. Das industrielle Stockwerk wachse dann wie ein Balkon in die Luft
hinaus, künstlich gestützt auf Pfeiler, die auf fremdem Boden stünden. Wenn
der Herr des fremden Bodens die Pfeiler nicht mehr dulde, breche der Aus¬
bau zusammen. Wenn wir eine Exportindustrie für 5 Millionen Menschen
gründeten, die von dem Getreideüberschuß Amerikas lebten, so seien diese
5 Millionen darauf angewiesen, daß das amerikanische Getreide dauernd über¬
schüssig und für ihre Fabrikate zu haben sei.

Lassen wir^ die Bildersprache ganz beiseite, so behauptet Otterberg einfach:
ein Volk darf die Befriedigung seiner Bedürfnisse nur innerhalb seiner poli¬
tischen Grenzen suchen; sonst ist seine Wirtschaftspolitik schlecht. Wie es das
machen soll, darüber keine Auskunft zu geben, erklärt er ausdrücklich für das
gute Recht des wissenschaftlichen Volkswirts. Ob nun gerade das amerika¬
nische Getreide uns nicht mehr aushelfen will, oder alles Getreide aller kul-
tivirten und noch zu kultivireuden Gebiete der Erde sich uns versagt, darauf
kommt es der Theorie gar nicht an. Man kann sich jedenfalls auch das letzte
einmal vorstellen. Ja man kann doch überhaupt einmal den Fall setzen und
man hat ihn schon oft gesetzt, daß die ganze Erde so voll von Menschen wäre,
daß sie nicht mehr satt zu essen hätten. Auf der andern Seite kann man sich
aber auch einmal vorstellen, was werden würde, und was schon lange ge¬
worden wäre, wenn z. B. das Königreich Sachsen keine Abnehmer für seine
Waren und keine Getreidelieferanten jenseits der sächsischen Grenzpfähle fände.
Ist nicht auch eine besondre unabhängige sächsische Wirtschafts- und Handels¬
politik in der Studirstube denkbar? Ein württembergischer Statistiker hat
kürzlich die Oldenbergische Lehre, zunächst, wie es fast scheinen konnte, sogar
im Ernst sür das württembergische "Volk," in folgendem Satz einer amtlichen
Veröffentlichung zu formuliren den Beruf gefühlt:**) "Jedes Volk, das die




*) Nationalökonomie des Handels- und Verkehrswesens. Dritter Band des Systems der
Nationalökonomie, Stuttgart, Ferdinand Ente, 1898.
Württeiubergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Herausgegeben vom
Königlichen Statistischen LandeSnmt,
Gegen die agrarischen Übertreibungen

Werde, so lange müsse sich die landwirtschaftliche Bevölkerung vermehren. Finde
das nicht statt, so habe der Staat der Landwirtschaft größere Fürsorge zuzuwenden.
Mit solchen Anschauungen müssen wir heute als den herrschenden rechnen.

Professor Gustav Cohn in Göttingen*) beschäftigt sich zunächst mit der
Oldenbergischen Theorie der Eigenwirtschaft.

Otterberg vergleicht bekanntlich die Volkswirtschaft mit einem Etagenbau.
Das Erdgeschoß ist die Landwirtschaft, sie trägt die Industrie auf ihren
Schultern. Solange noch unbebauter Boden verfügbar ist, kann Erdgeschoß
und Oberstock gleichmäßig ausgebaut werden bis an die Landesgrenze. Weiter
könne dann nur der Oberstock, die Industrie, ausgedehnt werden, indem ihre
Angehörigen von ausländischer Nahrung lebten und ihre Fabrikate dafür hin¬
gäben. Das industrielle Stockwerk wachse dann wie ein Balkon in die Luft
hinaus, künstlich gestützt auf Pfeiler, die auf fremdem Boden stünden. Wenn
der Herr des fremden Bodens die Pfeiler nicht mehr dulde, breche der Aus¬
bau zusammen. Wenn wir eine Exportindustrie für 5 Millionen Menschen
gründeten, die von dem Getreideüberschuß Amerikas lebten, so seien diese
5 Millionen darauf angewiesen, daß das amerikanische Getreide dauernd über¬
schüssig und für ihre Fabrikate zu haben sei.

Lassen wir^ die Bildersprache ganz beiseite, so behauptet Otterberg einfach:
ein Volk darf die Befriedigung seiner Bedürfnisse nur innerhalb seiner poli¬
tischen Grenzen suchen; sonst ist seine Wirtschaftspolitik schlecht. Wie es das
machen soll, darüber keine Auskunft zu geben, erklärt er ausdrücklich für das
gute Recht des wissenschaftlichen Volkswirts. Ob nun gerade das amerika¬
nische Getreide uns nicht mehr aushelfen will, oder alles Getreide aller kul-
tivirten und noch zu kultivireuden Gebiete der Erde sich uns versagt, darauf
kommt es der Theorie gar nicht an. Man kann sich jedenfalls auch das letzte
einmal vorstellen. Ja man kann doch überhaupt einmal den Fall setzen und
man hat ihn schon oft gesetzt, daß die ganze Erde so voll von Menschen wäre,
daß sie nicht mehr satt zu essen hätten. Auf der andern Seite kann man sich
aber auch einmal vorstellen, was werden würde, und was schon lange ge¬
worden wäre, wenn z. B. das Königreich Sachsen keine Abnehmer für seine
Waren und keine Getreidelieferanten jenseits der sächsischen Grenzpfähle fände.
Ist nicht auch eine besondre unabhängige sächsische Wirtschafts- und Handels¬
politik in der Studirstube denkbar? Ein württembergischer Statistiker hat
kürzlich die Oldenbergische Lehre, zunächst, wie es fast scheinen konnte, sogar
im Ernst sür das württembergische „Volk," in folgendem Satz einer amtlichen
Veröffentlichung zu formuliren den Beruf gefühlt:**) „Jedes Volk, das die




*) Nationalökonomie des Handels- und Verkehrswesens. Dritter Band des Systems der
Nationalökonomie, Stuttgart, Ferdinand Ente, 1898.
Württeiubergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Herausgegeben vom
Königlichen Statistischen LandeSnmt,
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[0446] Gegen die agrarischen Übertreibungen Werde, so lange müsse sich die landwirtschaftliche Bevölkerung vermehren. Finde das nicht statt, so habe der Staat der Landwirtschaft größere Fürsorge zuzuwenden. Mit solchen Anschauungen müssen wir heute als den herrschenden rechnen. Professor Gustav Cohn in Göttingen*) beschäftigt sich zunächst mit der Oldenbergischen Theorie der Eigenwirtschaft. Otterberg vergleicht bekanntlich die Volkswirtschaft mit einem Etagenbau. Das Erdgeschoß ist die Landwirtschaft, sie trägt die Industrie auf ihren Schultern. Solange noch unbebauter Boden verfügbar ist, kann Erdgeschoß und Oberstock gleichmäßig ausgebaut werden bis an die Landesgrenze. Weiter könne dann nur der Oberstock, die Industrie, ausgedehnt werden, indem ihre Angehörigen von ausländischer Nahrung lebten und ihre Fabrikate dafür hin¬ gäben. Das industrielle Stockwerk wachse dann wie ein Balkon in die Luft hinaus, künstlich gestützt auf Pfeiler, die auf fremdem Boden stünden. Wenn der Herr des fremden Bodens die Pfeiler nicht mehr dulde, breche der Aus¬ bau zusammen. Wenn wir eine Exportindustrie für 5 Millionen Menschen gründeten, die von dem Getreideüberschuß Amerikas lebten, so seien diese 5 Millionen darauf angewiesen, daß das amerikanische Getreide dauernd über¬ schüssig und für ihre Fabrikate zu haben sei. Lassen wir^ die Bildersprache ganz beiseite, so behauptet Otterberg einfach: ein Volk darf die Befriedigung seiner Bedürfnisse nur innerhalb seiner poli¬ tischen Grenzen suchen; sonst ist seine Wirtschaftspolitik schlecht. Wie es das machen soll, darüber keine Auskunft zu geben, erklärt er ausdrücklich für das gute Recht des wissenschaftlichen Volkswirts. Ob nun gerade das amerika¬ nische Getreide uns nicht mehr aushelfen will, oder alles Getreide aller kul- tivirten und noch zu kultivireuden Gebiete der Erde sich uns versagt, darauf kommt es der Theorie gar nicht an. Man kann sich jedenfalls auch das letzte einmal vorstellen. Ja man kann doch überhaupt einmal den Fall setzen und man hat ihn schon oft gesetzt, daß die ganze Erde so voll von Menschen wäre, daß sie nicht mehr satt zu essen hätten. Auf der andern Seite kann man sich aber auch einmal vorstellen, was werden würde, und was schon lange ge¬ worden wäre, wenn z. B. das Königreich Sachsen keine Abnehmer für seine Waren und keine Getreidelieferanten jenseits der sächsischen Grenzpfähle fände. Ist nicht auch eine besondre unabhängige sächsische Wirtschafts- und Handels¬ politik in der Studirstube denkbar? Ein württembergischer Statistiker hat kürzlich die Oldenbergische Lehre, zunächst, wie es fast scheinen konnte, sogar im Ernst sür das württembergische „Volk," in folgendem Satz einer amtlichen Veröffentlichung zu formuliren den Beruf gefühlt:**) „Jedes Volk, das die *) Nationalökonomie des Handels- und Verkehrswesens. Dritter Band des Systems der Nationalökonomie, Stuttgart, Ferdinand Ente, 1898. Württeiubergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, Herausgegeben vom Königlichen Statistischen LandeSnmt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/446>, abgerufen am 28.07.2024.