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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gegen die agrarischen Übertreibungen

für Nahrung und besonders für die unsrer Landwirtschaft entsprossene Nahrung
ausgegeben. In dem Haushaltungsbudget von drei ärmern Familien, die uns
vorlagen, nahmen die Nahrungsmittel 53 Prozent aller Ausgaben in Anspruch,
bei einer Familie des kleinen Bürgerstandes 40 Prozent, bei einem Fabrikanten
28 Prozent, bei einem höhern Beamten 16 Prozent. Da in den letzten Jahr¬
zehnten Bildung, Kulturbedürfnisse und Zahlungsfähigkeit in Deutschland
enorm gewachsen sind, hat in der gleichen Weise die landwirtschaftliche Pro¬
duktion an Bedeutung eingebüßt."

Die Gefahr im Kriegsfalle, wenn das Land nicht selbst die nötige Nahrung
zu liefern vermöchte, und die Lieferungen vom Auslande abgeschnitten würden,
hält Conrad gerade bei Deutschland für gering. Die Gestaltung seiner Grenzen
macht eine völlige Abschließung sehr unwahrscheinlich. Die Kriege der Zukunft
würden wahrscheinlich kurz sein. Für den größten Teil des Jahres reiche die
eigne Produktion aus, zumal wenn die Vorräte der Industrie, z. B. der
Brennereien, Brauereien, Stärkefabriken usw. herangezogen würden, und der
große Viehstand mehr als sonst für Nahrungszwccke hergäbe.

Weiter heißt es dann noch in dem Conradschen Artikel: "Die vielfach ge¬
hörte Behauptung, Deutschland sei noch so weit ein Agrarstaat, daß die übrigen
Gewerbe in ihrem Gedeihen, damit hauptsächlich die Arbeiterklasse von der
Zahlungsfähigkeit der Landwirte abhänge, bedarf einer erheblichen Einschränkung.
Mit der Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung und damit dem Arbeiten
sür den Export ist ein großer Teil der heimischen Industrie von dem inlän¬
dischen Bedarf unabhängig geworden, und je kleiner der Prozentsatz der land¬
wirtschaftlichen Bevölkerung und ihr Einkommen von der Gesamtheit ist, umso
geringer ist ihr Einfluß auf das Gedeihen der übrigen Gewerbe. Trotzdem
die landwirtschaftliche Krisis noch im vollsten Maße besteht, haben Handel und
Industrie in den Jahren 1896 und 1897 einen solchen Aufschwung genommen,
wie er nur unmittelbar uach Beendigung des deutsch-französischen Krieges bisher
in Deutschland erlebt wurde."

"Nach dem Gesagten muß mit aller Entschiedenheit der in Deutschland
von agrarischer Seite ebenso energisch wie einseitig vcrtretne Anspruch auf eine
unbedingt bevorzugte Stellung in der Volkswirtschaft und besondre Fürsorge
und Hilfe des Staates auf Kosten der übrigen Bevölkerung zurückgewiesen
werden. Dagegen hat die Landwirtschaft allerdings das gleiche Anrecht an
den Schutz des Staats wie die übrigen Produktionszweige."

Conrad wird sich Wohl selbst darüber klar sein, daß mit diesen Sätzen ein
Nationalökonom von seiner Bedeutung den Kampf nur aufgenommen, nicht
abgethan hat. Vielfach werden seine thatsächlichen Voraussetzungen von den
Agrariern und ihren wissenschaftlichen Hilfskräften einfach bestritten und seine
grundsätzlichen Ziele als schlechthin verderblich bezeichnet. Die von der Ber¬
liner Schule offen vertretne oder doch ersichtlich geförderte Lehre von der


Gegen die agrarischen Übertreibungen

für Nahrung und besonders für die unsrer Landwirtschaft entsprossene Nahrung
ausgegeben. In dem Haushaltungsbudget von drei ärmern Familien, die uns
vorlagen, nahmen die Nahrungsmittel 53 Prozent aller Ausgaben in Anspruch,
bei einer Familie des kleinen Bürgerstandes 40 Prozent, bei einem Fabrikanten
28 Prozent, bei einem höhern Beamten 16 Prozent. Da in den letzten Jahr¬
zehnten Bildung, Kulturbedürfnisse und Zahlungsfähigkeit in Deutschland
enorm gewachsen sind, hat in der gleichen Weise die landwirtschaftliche Pro¬
duktion an Bedeutung eingebüßt."

Die Gefahr im Kriegsfalle, wenn das Land nicht selbst die nötige Nahrung
zu liefern vermöchte, und die Lieferungen vom Auslande abgeschnitten würden,
hält Conrad gerade bei Deutschland für gering. Die Gestaltung seiner Grenzen
macht eine völlige Abschließung sehr unwahrscheinlich. Die Kriege der Zukunft
würden wahrscheinlich kurz sein. Für den größten Teil des Jahres reiche die
eigne Produktion aus, zumal wenn die Vorräte der Industrie, z. B. der
Brennereien, Brauereien, Stärkefabriken usw. herangezogen würden, und der
große Viehstand mehr als sonst für Nahrungszwccke hergäbe.

Weiter heißt es dann noch in dem Conradschen Artikel: „Die vielfach ge¬
hörte Behauptung, Deutschland sei noch so weit ein Agrarstaat, daß die übrigen
Gewerbe in ihrem Gedeihen, damit hauptsächlich die Arbeiterklasse von der
Zahlungsfähigkeit der Landwirte abhänge, bedarf einer erheblichen Einschränkung.
Mit der Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung und damit dem Arbeiten
sür den Export ist ein großer Teil der heimischen Industrie von dem inlän¬
dischen Bedarf unabhängig geworden, und je kleiner der Prozentsatz der land¬
wirtschaftlichen Bevölkerung und ihr Einkommen von der Gesamtheit ist, umso
geringer ist ihr Einfluß auf das Gedeihen der übrigen Gewerbe. Trotzdem
die landwirtschaftliche Krisis noch im vollsten Maße besteht, haben Handel und
Industrie in den Jahren 1896 und 1897 einen solchen Aufschwung genommen,
wie er nur unmittelbar uach Beendigung des deutsch-französischen Krieges bisher
in Deutschland erlebt wurde."

„Nach dem Gesagten muß mit aller Entschiedenheit der in Deutschland
von agrarischer Seite ebenso energisch wie einseitig vcrtretne Anspruch auf eine
unbedingt bevorzugte Stellung in der Volkswirtschaft und besondre Fürsorge
und Hilfe des Staates auf Kosten der übrigen Bevölkerung zurückgewiesen
werden. Dagegen hat die Landwirtschaft allerdings das gleiche Anrecht an
den Schutz des Staats wie die übrigen Produktionszweige."

Conrad wird sich Wohl selbst darüber klar sein, daß mit diesen Sätzen ein
Nationalökonom von seiner Bedeutung den Kampf nur aufgenommen, nicht
abgethan hat. Vielfach werden seine thatsächlichen Voraussetzungen von den
Agrariern und ihren wissenschaftlichen Hilfskräften einfach bestritten und seine
grundsätzlichen Ziele als schlechthin verderblich bezeichnet. Die von der Ber¬
liner Schule offen vertretne oder doch ersichtlich geförderte Lehre von der


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[0444] Gegen die agrarischen Übertreibungen für Nahrung und besonders für die unsrer Landwirtschaft entsprossene Nahrung ausgegeben. In dem Haushaltungsbudget von drei ärmern Familien, die uns vorlagen, nahmen die Nahrungsmittel 53 Prozent aller Ausgaben in Anspruch, bei einer Familie des kleinen Bürgerstandes 40 Prozent, bei einem Fabrikanten 28 Prozent, bei einem höhern Beamten 16 Prozent. Da in den letzten Jahr¬ zehnten Bildung, Kulturbedürfnisse und Zahlungsfähigkeit in Deutschland enorm gewachsen sind, hat in der gleichen Weise die landwirtschaftliche Pro¬ duktion an Bedeutung eingebüßt." Die Gefahr im Kriegsfalle, wenn das Land nicht selbst die nötige Nahrung zu liefern vermöchte, und die Lieferungen vom Auslande abgeschnitten würden, hält Conrad gerade bei Deutschland für gering. Die Gestaltung seiner Grenzen macht eine völlige Abschließung sehr unwahrscheinlich. Die Kriege der Zukunft würden wahrscheinlich kurz sein. Für den größten Teil des Jahres reiche die eigne Produktion aus, zumal wenn die Vorräte der Industrie, z. B. der Brennereien, Brauereien, Stärkefabriken usw. herangezogen würden, und der große Viehstand mehr als sonst für Nahrungszwccke hergäbe. Weiter heißt es dann noch in dem Conradschen Artikel: „Die vielfach ge¬ hörte Behauptung, Deutschland sei noch so weit ein Agrarstaat, daß die übrigen Gewerbe in ihrem Gedeihen, damit hauptsächlich die Arbeiterklasse von der Zahlungsfähigkeit der Landwirte abhänge, bedarf einer erheblichen Einschränkung. Mit der Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung und damit dem Arbeiten sür den Export ist ein großer Teil der heimischen Industrie von dem inlän¬ dischen Bedarf unabhängig geworden, und je kleiner der Prozentsatz der land¬ wirtschaftlichen Bevölkerung und ihr Einkommen von der Gesamtheit ist, umso geringer ist ihr Einfluß auf das Gedeihen der übrigen Gewerbe. Trotzdem die landwirtschaftliche Krisis noch im vollsten Maße besteht, haben Handel und Industrie in den Jahren 1896 und 1897 einen solchen Aufschwung genommen, wie er nur unmittelbar uach Beendigung des deutsch-französischen Krieges bisher in Deutschland erlebt wurde." „Nach dem Gesagten muß mit aller Entschiedenheit der in Deutschland von agrarischer Seite ebenso energisch wie einseitig vcrtretne Anspruch auf eine unbedingt bevorzugte Stellung in der Volkswirtschaft und besondre Fürsorge und Hilfe des Staates auf Kosten der übrigen Bevölkerung zurückgewiesen werden. Dagegen hat die Landwirtschaft allerdings das gleiche Anrecht an den Schutz des Staats wie die übrigen Produktionszweige." Conrad wird sich Wohl selbst darüber klar sein, daß mit diesen Sätzen ein Nationalökonom von seiner Bedeutung den Kampf nur aufgenommen, nicht abgethan hat. Vielfach werden seine thatsächlichen Voraussetzungen von den Agrariern und ihren wissenschaftlichen Hilfskräften einfach bestritten und seine grundsätzlichen Ziele als schlechthin verderblich bezeichnet. Die von der Ber¬ liner Schule offen vertretne oder doch ersichtlich geförderte Lehre von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/444>, abgerufen am 28.07.2024.