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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

der Schriften Ciceros in diesem Gymnasium gestalten lassen, wo jeder Blick
aus dem Fenster die Gegend zeigt, in der sich dieser große Geist bildete. Oder
man denke sich einen Spaziergang mit den Schülern in den Klostergarten von
San Domenico und auf die Fibrenusinsel Carnello, um den herrlichen Eingang
zum zweiten Buche des Gesprächs "über die Gesetze" an eben der Stelle zu
lesen, wo es Cicero halten läßt! Leider aber war wegen des Festes der
"Ascensione" das Gymnasium drei Tage lang geschlossen. Da besann ich mich,
daß ich eine römische Empfehlung an einen angesehenen Arpinaten in der
Tasche trug. Ich ließ mich zu ihm führen und traf ihn in einem "Circolo"
beim Kartenspiel. Diese Circoli sind kleine geschlossene Gesellschaften mit eignem
Lokal und eignem Wein; kleinere Städte als Arpinum haben ihrer mehrere.
Die soziale Schichtung der Bürger kommt in diesen Klubs zur Erscheinung,
ein jeder hat seine bestimmte gesellschaftliche und zugleich politische Färbung.
Diese Art der Geselligkeit ist in Italien viel älter als bei uns und viel mehr
politisch ausgeprägt; vielleicht sind diese Circoli eine Fortsetzung der politischen
Klubs (Collegia) des Altertums. Als Fremder wurde ich mit großer Liebens¬
würdigkeit empfangen, mußte mitspielen und mittrinken von einem köstlichen
weißen Naturwein und sah mit Erstaunen, daß hier niemand mehr, wie es
doch früher italischer Brauch war, den starken Wein mit Wasser mischte, ja
daß vielmehr ein förmlicher, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beobachteter Trink¬
komment herrschte. Er ging, wie ich zu vermuten Grund habe, auf einige deutsche
Angestellte der Papierfabriken des nahen Isola zurück. Das deutsche Bier hat
schon seinen Siegeszug durch die romanischen Völker angetreten, sollte nun der
deutsche Trinkkomment, der uns so oft zum Vorwurf gemacht wird, denselben
Weg ziehen? Wir hoffen es nicht, denn ein solcher "Erfolg" würde unsern
Ruf unter den Völkern des Erdkreises nur noch verschlechtern.

Noch gegen Abend stieg ich durch steile, finstre Gassen, dann über graue
Kalkfelsen, zwischen denen die Schafe weideten, zur Burg hinauf. Beim Aufstieg
sieht man erst recht deutlich die herrliche Lage der Stadt. Sie erstreckt sich
von Osten nach Westen einen felsigen Berghang hinunter und dann zu beiden
Seiten eines schmalen Sattels in derselben Richtung nach einer niedrigern
Kuppe (450 Meter) hinüber, auf der auch ansehnliche Steinbauten errichtet
sind. Die äußersten Häuser stehen an der Kante des Felsens, der jäh zur
Eisenbahn abstürzt. In entgegengesetzter, also östlicher Richtung hinter der
Stadt steigt der felsige Berg steil bis zu einer Höhe von 627 Metern empor:
zwei fast parallele Niesenmauern, von denen die eine am nördlichen, die andre
am südlichen Thore anhebt, ziehen sich den Berg hinauf und reichen sich auf
der Höhe die Hände. So wird ein energisch in die Höhe führender Land¬
streifen parabolischer Form von der Mauer umschlossen. Die ganze Anlage
ist weit umfangreicher als die in Alatri, weil Arpinum ein weit größeres Ge¬
meinwesen war und der Berg auch eine weit größere Fläche darbot. Innerhalb


Frühlingstage am Garigliano

der Schriften Ciceros in diesem Gymnasium gestalten lassen, wo jeder Blick
aus dem Fenster die Gegend zeigt, in der sich dieser große Geist bildete. Oder
man denke sich einen Spaziergang mit den Schülern in den Klostergarten von
San Domenico und auf die Fibrenusinsel Carnello, um den herrlichen Eingang
zum zweiten Buche des Gesprächs „über die Gesetze" an eben der Stelle zu
lesen, wo es Cicero halten läßt! Leider aber war wegen des Festes der
„Ascensione" das Gymnasium drei Tage lang geschlossen. Da besann ich mich,
daß ich eine römische Empfehlung an einen angesehenen Arpinaten in der
Tasche trug. Ich ließ mich zu ihm führen und traf ihn in einem „Circolo"
beim Kartenspiel. Diese Circoli sind kleine geschlossene Gesellschaften mit eignem
Lokal und eignem Wein; kleinere Städte als Arpinum haben ihrer mehrere.
Die soziale Schichtung der Bürger kommt in diesen Klubs zur Erscheinung,
ein jeder hat seine bestimmte gesellschaftliche und zugleich politische Färbung.
Diese Art der Geselligkeit ist in Italien viel älter als bei uns und viel mehr
politisch ausgeprägt; vielleicht sind diese Circoli eine Fortsetzung der politischen
Klubs (Collegia) des Altertums. Als Fremder wurde ich mit großer Liebens¬
würdigkeit empfangen, mußte mitspielen und mittrinken von einem köstlichen
weißen Naturwein und sah mit Erstaunen, daß hier niemand mehr, wie es
doch früher italischer Brauch war, den starken Wein mit Wasser mischte, ja
daß vielmehr ein förmlicher, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beobachteter Trink¬
komment herrschte. Er ging, wie ich zu vermuten Grund habe, auf einige deutsche
Angestellte der Papierfabriken des nahen Isola zurück. Das deutsche Bier hat
schon seinen Siegeszug durch die romanischen Völker angetreten, sollte nun der
deutsche Trinkkomment, der uns so oft zum Vorwurf gemacht wird, denselben
Weg ziehen? Wir hoffen es nicht, denn ein solcher „Erfolg" würde unsern
Ruf unter den Völkern des Erdkreises nur noch verschlechtern.

Noch gegen Abend stieg ich durch steile, finstre Gassen, dann über graue
Kalkfelsen, zwischen denen die Schafe weideten, zur Burg hinauf. Beim Aufstieg
sieht man erst recht deutlich die herrliche Lage der Stadt. Sie erstreckt sich
von Osten nach Westen einen felsigen Berghang hinunter und dann zu beiden
Seiten eines schmalen Sattels in derselben Richtung nach einer niedrigern
Kuppe (450 Meter) hinüber, auf der auch ansehnliche Steinbauten errichtet
sind. Die äußersten Häuser stehen an der Kante des Felsens, der jäh zur
Eisenbahn abstürzt. In entgegengesetzter, also östlicher Richtung hinter der
Stadt steigt der felsige Berg steil bis zu einer Höhe von 627 Metern empor:
zwei fast parallele Niesenmauern, von denen die eine am nördlichen, die andre
am südlichen Thore anhebt, ziehen sich den Berg hinauf und reichen sich auf
der Höhe die Hände. So wird ein energisch in die Höhe führender Land¬
streifen parabolischer Form von der Mauer umschlossen. Die ganze Anlage
ist weit umfangreicher als die in Alatri, weil Arpinum ein weit größeres Ge¬
meinwesen war und der Berg auch eine weit größere Fläche darbot. Innerhalb


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[0416] Frühlingstage am Garigliano der Schriften Ciceros in diesem Gymnasium gestalten lassen, wo jeder Blick aus dem Fenster die Gegend zeigt, in der sich dieser große Geist bildete. Oder man denke sich einen Spaziergang mit den Schülern in den Klostergarten von San Domenico und auf die Fibrenusinsel Carnello, um den herrlichen Eingang zum zweiten Buche des Gesprächs „über die Gesetze" an eben der Stelle zu lesen, wo es Cicero halten läßt! Leider aber war wegen des Festes der „Ascensione" das Gymnasium drei Tage lang geschlossen. Da besann ich mich, daß ich eine römische Empfehlung an einen angesehenen Arpinaten in der Tasche trug. Ich ließ mich zu ihm führen und traf ihn in einem „Circolo" beim Kartenspiel. Diese Circoli sind kleine geschlossene Gesellschaften mit eignem Lokal und eignem Wein; kleinere Städte als Arpinum haben ihrer mehrere. Die soziale Schichtung der Bürger kommt in diesen Klubs zur Erscheinung, ein jeder hat seine bestimmte gesellschaftliche und zugleich politische Färbung. Diese Art der Geselligkeit ist in Italien viel älter als bei uns und viel mehr politisch ausgeprägt; vielleicht sind diese Circoli eine Fortsetzung der politischen Klubs (Collegia) des Altertums. Als Fremder wurde ich mit großer Liebens¬ würdigkeit empfangen, mußte mitspielen und mittrinken von einem köstlichen weißen Naturwein und sah mit Erstaunen, daß hier niemand mehr, wie es doch früher italischer Brauch war, den starken Wein mit Wasser mischte, ja daß vielmehr ein förmlicher, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beobachteter Trink¬ komment herrschte. Er ging, wie ich zu vermuten Grund habe, auf einige deutsche Angestellte der Papierfabriken des nahen Isola zurück. Das deutsche Bier hat schon seinen Siegeszug durch die romanischen Völker angetreten, sollte nun der deutsche Trinkkomment, der uns so oft zum Vorwurf gemacht wird, denselben Weg ziehen? Wir hoffen es nicht, denn ein solcher „Erfolg" würde unsern Ruf unter den Völkern des Erdkreises nur noch verschlechtern. Noch gegen Abend stieg ich durch steile, finstre Gassen, dann über graue Kalkfelsen, zwischen denen die Schafe weideten, zur Burg hinauf. Beim Aufstieg sieht man erst recht deutlich die herrliche Lage der Stadt. Sie erstreckt sich von Osten nach Westen einen felsigen Berghang hinunter und dann zu beiden Seiten eines schmalen Sattels in derselben Richtung nach einer niedrigern Kuppe (450 Meter) hinüber, auf der auch ansehnliche Steinbauten errichtet sind. Die äußersten Häuser stehen an der Kante des Felsens, der jäh zur Eisenbahn abstürzt. In entgegengesetzter, also östlicher Richtung hinter der Stadt steigt der felsige Berg steil bis zu einer Höhe von 627 Metern empor: zwei fast parallele Niesenmauern, von denen die eine am nördlichen, die andre am südlichen Thore anhebt, ziehen sich den Berg hinauf und reichen sich auf der Höhe die Hände. So wird ein energisch in die Höhe führender Land¬ streifen parabolischer Form von der Mauer umschlossen. Die ganze Anlage ist weit umfangreicher als die in Alatri, weil Arpinum ein weit größeres Ge¬ meinwesen war und der Berg auch eine weit größere Fläche darbot. Innerhalb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/416>, abgerufen am 27.07.2024.