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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Aongresses

"das Bedürfnis des aufgeklärten Arbeiterstandes" (sonst niemandes? auch nicht
die Ehre und Wahrhaftigkeit der evangelischen Geistlichkeit?) ebenso wie die
"einmütige Erkenntnis der evangelischen Theologen" fordere, "daß in den
Schulen und im Konfirmandenunterricht die mosaische Schöpfungsgeschichte
nicht als geschichtlicher Bericht über die Weltentstehung, sondern als religiöse
Lehre oder Predigt von dem Schöpfergott erläutert werde." Selbst zu dieser
Erklärung hat der Kongreß sich nicht zu entschließen vermocht. Er scheute
sich vor der Klarheit und Wahrheit da, wo sie das Volk am dringendsten
fordert. Glaubte er etwa mit der Nespektversicherung vor den "Emporent¬
wickelten" um die Wahrheitsfrage und die Wahrheitspflicht herum zu kommen?

Über die Wunder hat Rade Antworten nicht erhalten, die sich der Mit¬
teilung verlohnt hätten. Es steht da vermutlich gerade so wie mit der
Schöpfungsgeschichte. Wann wird der Bann der Orthodoxie endlich im Lande
Friedrichs des Großen gebrochen werden? Wann wird es dem wahrheits¬
liebenden Mann in Preußen wieder möglich werden, des kirchlichen Lebens
und der Kirchenbauten ohne Scham zu gedenken? Anglikanische Heuchelei
wird man dem deutschen evangelischen Volke nicht leicht anerziehen, mögen die
obern Zehntausend in Preußen ihre englischen Vorbilder auch darin schon
weit übertreffen!

Die Antworten über Ehe und Familienleben beweisen fast durchweg die
Hochschützung beider, stehen aber überwiegend unter dem Einfluß der sozia¬
listischen Lehre von der Unmöglichkeit für den Arbeiter, unter den bestehenden
Verhältnissen ein sittliches Leben zu führen. Der Kongreß selbst hat, obwohl
die Veranlassung besonders nahe lag, kein Wort der Berichtigung und Abwehr
gegenüber diesem verlogensten, unchristlichsten und demoralisirendsten Dogma
der sozialistischen Propaganda gefunden. Wenn die Frage von Einzelnen, wie
von Höpel, Pfannkuche und Tischendörfer, flüchtig berührt wurde und es sich
dabei zeigte, daß man die Thatsache anerkennt, so wirkt dieses Stillschweigen
nur umso befremdlicher. Die deutschen Arbeiter verdienen und vertragen auch in
diesem Punkte die reine ungeschminkte Wahrheit. Erfreulicherweise wagen zwei
von den befragten Arbeitern selbst, wenigstens was die Kindererziehung betrifft,
das eigne, durch keine "Verhältnisse" zu beschönigende schwere Verschulden der
Eltern offen zu rügen. Der eine schreibt: "Der Arbeiter ist nun einmal in
seine Kinder sehr verliebt -- Haß und Feindschaft unter den Arbeitern ent¬
stehen meist um der Kinder willen --, und an diesem Punkte dürfte sich der
Traum der Zukunftsgesellschaft am allerersten als undurchführbar erweisen.
Leider beschränkt sich die Erziehung seitens des Vaters meist nur auf ein ge¬
legentliches kräftiges Donnerwetter. Bei uns sehen die Kinder nichts böses,
das ist die Hauptsumme aller Erziehungsweisheit." Der andre sagt: "Die
Eltern verziehen ihre Kinder zum Teil, meist erziehen sie sie gar nicht. Sie
schreien sie nach Laune an, nach Laune lassen sie ihnen Freiheit; das ver-


Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Aongresses

„das Bedürfnis des aufgeklärten Arbeiterstandes" (sonst niemandes? auch nicht
die Ehre und Wahrhaftigkeit der evangelischen Geistlichkeit?) ebenso wie die
„einmütige Erkenntnis der evangelischen Theologen" fordere, „daß in den
Schulen und im Konfirmandenunterricht die mosaische Schöpfungsgeschichte
nicht als geschichtlicher Bericht über die Weltentstehung, sondern als religiöse
Lehre oder Predigt von dem Schöpfergott erläutert werde." Selbst zu dieser
Erklärung hat der Kongreß sich nicht zu entschließen vermocht. Er scheute
sich vor der Klarheit und Wahrheit da, wo sie das Volk am dringendsten
fordert. Glaubte er etwa mit der Nespektversicherung vor den „Emporent¬
wickelten" um die Wahrheitsfrage und die Wahrheitspflicht herum zu kommen?

Über die Wunder hat Rade Antworten nicht erhalten, die sich der Mit¬
teilung verlohnt hätten. Es steht da vermutlich gerade so wie mit der
Schöpfungsgeschichte. Wann wird der Bann der Orthodoxie endlich im Lande
Friedrichs des Großen gebrochen werden? Wann wird es dem wahrheits¬
liebenden Mann in Preußen wieder möglich werden, des kirchlichen Lebens
und der Kirchenbauten ohne Scham zu gedenken? Anglikanische Heuchelei
wird man dem deutschen evangelischen Volke nicht leicht anerziehen, mögen die
obern Zehntausend in Preußen ihre englischen Vorbilder auch darin schon
weit übertreffen!

Die Antworten über Ehe und Familienleben beweisen fast durchweg die
Hochschützung beider, stehen aber überwiegend unter dem Einfluß der sozia¬
listischen Lehre von der Unmöglichkeit für den Arbeiter, unter den bestehenden
Verhältnissen ein sittliches Leben zu führen. Der Kongreß selbst hat, obwohl
die Veranlassung besonders nahe lag, kein Wort der Berichtigung und Abwehr
gegenüber diesem verlogensten, unchristlichsten und demoralisirendsten Dogma
der sozialistischen Propaganda gefunden. Wenn die Frage von Einzelnen, wie
von Höpel, Pfannkuche und Tischendörfer, flüchtig berührt wurde und es sich
dabei zeigte, daß man die Thatsache anerkennt, so wirkt dieses Stillschweigen
nur umso befremdlicher. Die deutschen Arbeiter verdienen und vertragen auch in
diesem Punkte die reine ungeschminkte Wahrheit. Erfreulicherweise wagen zwei
von den befragten Arbeitern selbst, wenigstens was die Kindererziehung betrifft,
das eigne, durch keine „Verhältnisse" zu beschönigende schwere Verschulden der
Eltern offen zu rügen. Der eine schreibt: „Der Arbeiter ist nun einmal in
seine Kinder sehr verliebt — Haß und Feindschaft unter den Arbeitern ent¬
stehen meist um der Kinder willen —, und an diesem Punkte dürfte sich der
Traum der Zukunftsgesellschaft am allerersten als undurchführbar erweisen.
Leider beschränkt sich die Erziehung seitens des Vaters meist nur auf ein ge¬
legentliches kräftiges Donnerwetter. Bei uns sehen die Kinder nichts böses,
das ist die Hauptsumme aller Erziehungsweisheit." Der andre sagt: „Die
Eltern verziehen ihre Kinder zum Teil, meist erziehen sie sie gar nicht. Sie
schreien sie nach Laune an, nach Laune lassen sie ihnen Freiheit; das ver-


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[0359] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Aongresses „das Bedürfnis des aufgeklärten Arbeiterstandes" (sonst niemandes? auch nicht die Ehre und Wahrhaftigkeit der evangelischen Geistlichkeit?) ebenso wie die „einmütige Erkenntnis der evangelischen Theologen" fordere, „daß in den Schulen und im Konfirmandenunterricht die mosaische Schöpfungsgeschichte nicht als geschichtlicher Bericht über die Weltentstehung, sondern als religiöse Lehre oder Predigt von dem Schöpfergott erläutert werde." Selbst zu dieser Erklärung hat der Kongreß sich nicht zu entschließen vermocht. Er scheute sich vor der Klarheit und Wahrheit da, wo sie das Volk am dringendsten fordert. Glaubte er etwa mit der Nespektversicherung vor den „Emporent¬ wickelten" um die Wahrheitsfrage und die Wahrheitspflicht herum zu kommen? Über die Wunder hat Rade Antworten nicht erhalten, die sich der Mit¬ teilung verlohnt hätten. Es steht da vermutlich gerade so wie mit der Schöpfungsgeschichte. Wann wird der Bann der Orthodoxie endlich im Lande Friedrichs des Großen gebrochen werden? Wann wird es dem wahrheits¬ liebenden Mann in Preußen wieder möglich werden, des kirchlichen Lebens und der Kirchenbauten ohne Scham zu gedenken? Anglikanische Heuchelei wird man dem deutschen evangelischen Volke nicht leicht anerziehen, mögen die obern Zehntausend in Preußen ihre englischen Vorbilder auch darin schon weit übertreffen! Die Antworten über Ehe und Familienleben beweisen fast durchweg die Hochschützung beider, stehen aber überwiegend unter dem Einfluß der sozia¬ listischen Lehre von der Unmöglichkeit für den Arbeiter, unter den bestehenden Verhältnissen ein sittliches Leben zu führen. Der Kongreß selbst hat, obwohl die Veranlassung besonders nahe lag, kein Wort der Berichtigung und Abwehr gegenüber diesem verlogensten, unchristlichsten und demoralisirendsten Dogma der sozialistischen Propaganda gefunden. Wenn die Frage von Einzelnen, wie von Höpel, Pfannkuche und Tischendörfer, flüchtig berührt wurde und es sich dabei zeigte, daß man die Thatsache anerkennt, so wirkt dieses Stillschweigen nur umso befremdlicher. Die deutschen Arbeiter verdienen und vertragen auch in diesem Punkte die reine ungeschminkte Wahrheit. Erfreulicherweise wagen zwei von den befragten Arbeitern selbst, wenigstens was die Kindererziehung betrifft, das eigne, durch keine „Verhältnisse" zu beschönigende schwere Verschulden der Eltern offen zu rügen. Der eine schreibt: „Der Arbeiter ist nun einmal in seine Kinder sehr verliebt — Haß und Feindschaft unter den Arbeitern ent¬ stehen meist um der Kinder willen —, und an diesem Punkte dürfte sich der Traum der Zukunftsgesellschaft am allerersten als undurchführbar erweisen. Leider beschränkt sich die Erziehung seitens des Vaters meist nur auf ein ge¬ legentliches kräftiges Donnerwetter. Bei uns sehen die Kinder nichts böses, das ist die Hauptsumme aller Erziehungsweisheit." Der andre sagt: „Die Eltern verziehen ihre Kinder zum Teil, meist erziehen sie sie gar nicht. Sie schreien sie nach Laune an, nach Laune lassen sie ihnen Freiheit; das ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/359>, abgerufen am 28.07.2024.