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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

"göttliche Weltordnung" ist von A bis Z ein Hohn auf diese Grundlage der
Religion- Da wird von oben gepredigt: "Dem Volke muß die Religion er¬
halten werden." Aber wer entreißt sie ihm denn? Wer macht sie ihm wert¬
los? Hauptsächlich gerade die, die so predigen und meinen, mit ihren Worten
sei genug gethan, und im übrigen ist alles um sie her Luft! O möchten doch
nur einmal diese ihre Nase in die Bibel stecken, statt in die norddeutsche All¬
gemeine, so würden sie ihren Wert erkennen und einsehen, daß sie auch nur
ein Sandkörnchen im Dasein bedeuten." Von dem Worte: "Dem Volke muß
die Religion erhalten werden" ist in einer Fußnote von Rade gesagt, es sei
in seiner Wirkung auf das "denkende Volk" eins der verhängnisvollsten, die
je gesprochen worden wären. Warum? Das Wort war nicht nur gut ge¬
meint, sondern an sich gut und berechtigt. Aber die preußische Orthodoxie
hat es gemißbraucht in ihrem unduldsamen unchristlichen Sinne, und dieser
Mißbrauch ists, den die sozialdemokratische Agitation mit Geschick gegen den,
von dem es stammt, ausbeutet. Wenn eine Bemerkung gemacht werden
mußte, wäre es am Platze gewesen, dem Leser volle Aufklärung zu geben.

An Christus verehren die antwortenden Arbeiter seine Lehre und sein
Leben, auch die sozialdemokratischen. "War ein sehr ehrlicher und guter
Mensch, bloß ein bischen zu sehr phantastisch -- sagt ein solcher --, den
Großen hats keiner so gesteckt, wie der." "Ein wahrer Menschenfreund, nicht
bloß mit dem Munde wie seine Nachbeter, sondern mit der That. Wurde
ebenso gehaßt und verfolgt, wie heute wir Sozialdemokraten. Würde, wenn
er heute lebte, gewiß zu uus gehören/' schreibt ein andrer. Ein christlicher
Arbeiter sagt: "Christus steht in seiner Lehre bis jetzt unerreicht da, und
wenn nur die Menschheit darnach handeln würde, so wären alle sozialen
Fragen mit einem Schlage gelöst." Mehrere Antworten zeigen, wie schwer
die Antwortenden mit den Sätzen des Apostolikums über Christi Person zurecht
kommen können. Ein christlicher Arbeiter hat sich allerdings noch nicht Zeit
genommen, darüber nachzudenken, wie es "mit Christi geheimnisvoller Geburt"
stehe, es scheint ihm aber das auch nebensächlich: "Ich nehme ihn, wie er sich
im Leben gab, wie er den Armen half, die Kranken gesunden ließ, den Reichen
die ungeschminkte Wahrheit sagte und auch vor hohen Ratsherren und der
stolzen Partei der Pharisäer nicht Halt machte usw."

Die Frage über Gott beantwortet einer folgendermaßen: "Über die Pracht
und Herrlichkeit eines Gottes soll ich Ihnen als dreißigjähriger Fabrikarbeiter
etwas erläutern? Kein Menschengehirn der Philosophen kann über die Gestalt,
über das Wesen und den Geist Gottes eine Vorstellung machen. Ich erkläre
aber den Menschen für dumm, der an keine Allmacht glaubt."

Sehr schweren Anstoß nehmen die meisten Antwvrtgeber daran, daß ihnen
oder ihren Kindern der Glaube an die biblische Schöpfungsgeschichte zugemutet
wird. Rade verlangte denn auch ganz dringend, der Kongreß möge erklären.


Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

»göttliche Weltordnung« ist von A bis Z ein Hohn auf diese Grundlage der
Religion- Da wird von oben gepredigt: »Dem Volke muß die Religion er¬
halten werden.« Aber wer entreißt sie ihm denn? Wer macht sie ihm wert¬
los? Hauptsächlich gerade die, die so predigen und meinen, mit ihren Worten
sei genug gethan, und im übrigen ist alles um sie her Luft! O möchten doch
nur einmal diese ihre Nase in die Bibel stecken, statt in die norddeutsche All¬
gemeine, so würden sie ihren Wert erkennen und einsehen, daß sie auch nur
ein Sandkörnchen im Dasein bedeuten." Von dem Worte: „Dem Volke muß
die Religion erhalten werden" ist in einer Fußnote von Rade gesagt, es sei
in seiner Wirkung auf das „denkende Volk" eins der verhängnisvollsten, die
je gesprochen worden wären. Warum? Das Wort war nicht nur gut ge¬
meint, sondern an sich gut und berechtigt. Aber die preußische Orthodoxie
hat es gemißbraucht in ihrem unduldsamen unchristlichen Sinne, und dieser
Mißbrauch ists, den die sozialdemokratische Agitation mit Geschick gegen den,
von dem es stammt, ausbeutet. Wenn eine Bemerkung gemacht werden
mußte, wäre es am Platze gewesen, dem Leser volle Aufklärung zu geben.

An Christus verehren die antwortenden Arbeiter seine Lehre und sein
Leben, auch die sozialdemokratischen. „War ein sehr ehrlicher und guter
Mensch, bloß ein bischen zu sehr phantastisch — sagt ein solcher —, den
Großen hats keiner so gesteckt, wie der." „Ein wahrer Menschenfreund, nicht
bloß mit dem Munde wie seine Nachbeter, sondern mit der That. Wurde
ebenso gehaßt und verfolgt, wie heute wir Sozialdemokraten. Würde, wenn
er heute lebte, gewiß zu uus gehören/' schreibt ein andrer. Ein christlicher
Arbeiter sagt: „Christus steht in seiner Lehre bis jetzt unerreicht da, und
wenn nur die Menschheit darnach handeln würde, so wären alle sozialen
Fragen mit einem Schlage gelöst." Mehrere Antworten zeigen, wie schwer
die Antwortenden mit den Sätzen des Apostolikums über Christi Person zurecht
kommen können. Ein christlicher Arbeiter hat sich allerdings noch nicht Zeit
genommen, darüber nachzudenken, wie es „mit Christi geheimnisvoller Geburt"
stehe, es scheint ihm aber das auch nebensächlich: „Ich nehme ihn, wie er sich
im Leben gab, wie er den Armen half, die Kranken gesunden ließ, den Reichen
die ungeschminkte Wahrheit sagte und auch vor hohen Ratsherren und der
stolzen Partei der Pharisäer nicht Halt machte usw."

Die Frage über Gott beantwortet einer folgendermaßen: „Über die Pracht
und Herrlichkeit eines Gottes soll ich Ihnen als dreißigjähriger Fabrikarbeiter
etwas erläutern? Kein Menschengehirn der Philosophen kann über die Gestalt,
über das Wesen und den Geist Gottes eine Vorstellung machen. Ich erkläre
aber den Menschen für dumm, der an keine Allmacht glaubt."

Sehr schweren Anstoß nehmen die meisten Antwvrtgeber daran, daß ihnen
oder ihren Kindern der Glaube an die biblische Schöpfungsgeschichte zugemutet
wird. Rade verlangte denn auch ganz dringend, der Kongreß möge erklären.


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[0358] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses »göttliche Weltordnung« ist von A bis Z ein Hohn auf diese Grundlage der Religion- Da wird von oben gepredigt: »Dem Volke muß die Religion er¬ halten werden.« Aber wer entreißt sie ihm denn? Wer macht sie ihm wert¬ los? Hauptsächlich gerade die, die so predigen und meinen, mit ihren Worten sei genug gethan, und im übrigen ist alles um sie her Luft! O möchten doch nur einmal diese ihre Nase in die Bibel stecken, statt in die norddeutsche All¬ gemeine, so würden sie ihren Wert erkennen und einsehen, daß sie auch nur ein Sandkörnchen im Dasein bedeuten." Von dem Worte: „Dem Volke muß die Religion erhalten werden" ist in einer Fußnote von Rade gesagt, es sei in seiner Wirkung auf das „denkende Volk" eins der verhängnisvollsten, die je gesprochen worden wären. Warum? Das Wort war nicht nur gut ge¬ meint, sondern an sich gut und berechtigt. Aber die preußische Orthodoxie hat es gemißbraucht in ihrem unduldsamen unchristlichen Sinne, und dieser Mißbrauch ists, den die sozialdemokratische Agitation mit Geschick gegen den, von dem es stammt, ausbeutet. Wenn eine Bemerkung gemacht werden mußte, wäre es am Platze gewesen, dem Leser volle Aufklärung zu geben. An Christus verehren die antwortenden Arbeiter seine Lehre und sein Leben, auch die sozialdemokratischen. „War ein sehr ehrlicher und guter Mensch, bloß ein bischen zu sehr phantastisch — sagt ein solcher —, den Großen hats keiner so gesteckt, wie der." „Ein wahrer Menschenfreund, nicht bloß mit dem Munde wie seine Nachbeter, sondern mit der That. Wurde ebenso gehaßt und verfolgt, wie heute wir Sozialdemokraten. Würde, wenn er heute lebte, gewiß zu uus gehören/' schreibt ein andrer. Ein christlicher Arbeiter sagt: „Christus steht in seiner Lehre bis jetzt unerreicht da, und wenn nur die Menschheit darnach handeln würde, so wären alle sozialen Fragen mit einem Schlage gelöst." Mehrere Antworten zeigen, wie schwer die Antwortenden mit den Sätzen des Apostolikums über Christi Person zurecht kommen können. Ein christlicher Arbeiter hat sich allerdings noch nicht Zeit genommen, darüber nachzudenken, wie es „mit Christi geheimnisvoller Geburt" stehe, es scheint ihm aber das auch nebensächlich: „Ich nehme ihn, wie er sich im Leben gab, wie er den Armen half, die Kranken gesunden ließ, den Reichen die ungeschminkte Wahrheit sagte und auch vor hohen Ratsherren und der stolzen Partei der Pharisäer nicht Halt machte usw." Die Frage über Gott beantwortet einer folgendermaßen: „Über die Pracht und Herrlichkeit eines Gottes soll ich Ihnen als dreißigjähriger Fabrikarbeiter etwas erläutern? Kein Menschengehirn der Philosophen kann über die Gestalt, über das Wesen und den Geist Gottes eine Vorstellung machen. Ich erkläre aber den Menschen für dumm, der an keine Allmacht glaubt." Sehr schweren Anstoß nehmen die meisten Antwvrtgeber daran, daß ihnen oder ihren Kindern der Glaube an die biblische Schöpfungsgeschichte zugemutet wird. Rade verlangte denn auch ganz dringend, der Kongreß möge erklären.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/358>, abgerufen am 28.07.2024.