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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

Betrachten wir den Inhalt näher. Die drei Briefe eines jungen Süd¬
deutschen, in dessen Bibliothek Humboldts Kosmos den ersten Platz einnimmt,
ebenso die poetischen Ergüsse des fertigen Sozialdemokraten und die neun Bände
Gedichte des andern künstlerisch begabten, sinnigen Mannes können hier un¬
berücksichtigt bleiben, so viel Reiz sie auch für manchen Hörer und Leser haben
mögen. Sie sind für die durchschnittliche Gedankenwelt unsrer Industriearbeiter,
auch soweit sich diese zu der bekannten Stufe sozialdcmokratischer Halbbildung
"emporentwickelt" haben, doch zu wenig bezeichnend. Auch von den Antworten
auf die Umfrage kann natürlich hier nur eine kleine Probe gegeben werden, die
das eigne Studium der lehrreichen Sammlung niemand erspart.") Im besondern
wird von der Wiedergabe der fast zu reichlich aufgenommnen landläufigen
Grobheiten gesinnungstüchtiger Sozialdemokraten Abstand genommen.

Über die Kirche und die Geistlichkeit giebt ein höflicher Sozialdemokrat
sein Urteil dahin ab: "Die Kirche mag früher, als die Menschen noch nichts
von den Naturwissenschaften wußten, wohl ganz gut und nützlich gewesen sein;
heute dient sie nur zur Verdummungsanstalt. Ich kenne ja nur die evange¬
lische, aber soviel ich gehört habe, soll es mit der katholischen noch viel
schlimmer sein." Ein andrer sagt: "Die Kirche mag früher einmal einen
Zweck gehabt haben, um Deutschland zu kultiviren (gewisse Mönchsorden), ist
aber heute eine ganz reaktionäre volksverdummende Einrichtung geworden."
Aber auch "gemäßigte und christliche" Arbeiter haben viel auszusetzen. So
schreibt ein solcher von den Geistlichen: "Den Weg, den Jesus ging, wandeln
nur wenige; seinem lebendigen Beispiel, das er gab, und das seiner Lehre erst
die siegende, unbezwingliche und ewige Kraft verlieh, folgen nur wenige. Die
Geistlichkeit der katholischen Kirche leistet in ihrer Gesamtheit der weltlichen
Macht des Papsttums Frondienste, diejenigen andrer Konfesstonen erscheinen
leider dem Volke mehr als Staats- denn Religionsdiener." Ein andrer meint:
"Der evangelische Geistliche sieht zu viel zur Regierung hinauf. Wie es der
katholische Geistliche schon thut, so soll auch der evangelische die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse seiner Gemeinde studiren. Der Geistliche soll ganz sozial
empfinden. Aber wer nicht mit Geschick und Glück sozial wirken kann, der
soll die Hände davon lassen: das Amt des Geistlichen muß immer ein hohes,
vor Gott verantwortliches Amt bleiben." Ein dritter: "Die Geistlichkeit
handelt nicht seelsorgerisch, wie sie müßte, denn sie bevorzugt die Reichen und
vernachlässigt die Armen; die Geistlichkeit ist viel schuld daran, daß sich die
Masse des Volks auf so tiefer geistiger und sittlicher Stufe befindet. Es darf
aber auch der ehrliche Geistliche nicht nach seiner Überzeugung handeln, denn
dann kommt er mit seiner Behörde in Konflikt."



Der Vortrag ist einzeln im Buchhandel erschienen (Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen)
zum Ladenpreise von 1 Mark 40 Pfennigen.
Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

Betrachten wir den Inhalt näher. Die drei Briefe eines jungen Süd¬
deutschen, in dessen Bibliothek Humboldts Kosmos den ersten Platz einnimmt,
ebenso die poetischen Ergüsse des fertigen Sozialdemokraten und die neun Bände
Gedichte des andern künstlerisch begabten, sinnigen Mannes können hier un¬
berücksichtigt bleiben, so viel Reiz sie auch für manchen Hörer und Leser haben
mögen. Sie sind für die durchschnittliche Gedankenwelt unsrer Industriearbeiter,
auch soweit sich diese zu der bekannten Stufe sozialdcmokratischer Halbbildung
„emporentwickelt" haben, doch zu wenig bezeichnend. Auch von den Antworten
auf die Umfrage kann natürlich hier nur eine kleine Probe gegeben werden, die
das eigne Studium der lehrreichen Sammlung niemand erspart.") Im besondern
wird von der Wiedergabe der fast zu reichlich aufgenommnen landläufigen
Grobheiten gesinnungstüchtiger Sozialdemokraten Abstand genommen.

Über die Kirche und die Geistlichkeit giebt ein höflicher Sozialdemokrat
sein Urteil dahin ab: „Die Kirche mag früher, als die Menschen noch nichts
von den Naturwissenschaften wußten, wohl ganz gut und nützlich gewesen sein;
heute dient sie nur zur Verdummungsanstalt. Ich kenne ja nur die evange¬
lische, aber soviel ich gehört habe, soll es mit der katholischen noch viel
schlimmer sein." Ein andrer sagt: „Die Kirche mag früher einmal einen
Zweck gehabt haben, um Deutschland zu kultiviren (gewisse Mönchsorden), ist
aber heute eine ganz reaktionäre volksverdummende Einrichtung geworden."
Aber auch „gemäßigte und christliche" Arbeiter haben viel auszusetzen. So
schreibt ein solcher von den Geistlichen: „Den Weg, den Jesus ging, wandeln
nur wenige; seinem lebendigen Beispiel, das er gab, und das seiner Lehre erst
die siegende, unbezwingliche und ewige Kraft verlieh, folgen nur wenige. Die
Geistlichkeit der katholischen Kirche leistet in ihrer Gesamtheit der weltlichen
Macht des Papsttums Frondienste, diejenigen andrer Konfesstonen erscheinen
leider dem Volke mehr als Staats- denn Religionsdiener." Ein andrer meint:
„Der evangelische Geistliche sieht zu viel zur Regierung hinauf. Wie es der
katholische Geistliche schon thut, so soll auch der evangelische die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse seiner Gemeinde studiren. Der Geistliche soll ganz sozial
empfinden. Aber wer nicht mit Geschick und Glück sozial wirken kann, der
soll die Hände davon lassen: das Amt des Geistlichen muß immer ein hohes,
vor Gott verantwortliches Amt bleiben." Ein dritter: „Die Geistlichkeit
handelt nicht seelsorgerisch, wie sie müßte, denn sie bevorzugt die Reichen und
vernachlässigt die Armen; die Geistlichkeit ist viel schuld daran, daß sich die
Masse des Volks auf so tiefer geistiger und sittlicher Stufe befindet. Es darf
aber auch der ehrliche Geistliche nicht nach seiner Überzeugung handeln, denn
dann kommt er mit seiner Behörde in Konflikt."



Der Vortrag ist einzeln im Buchhandel erschienen (Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen)
zum Ladenpreise von 1 Mark 40 Pfennigen.
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[0356] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses Betrachten wir den Inhalt näher. Die drei Briefe eines jungen Süd¬ deutschen, in dessen Bibliothek Humboldts Kosmos den ersten Platz einnimmt, ebenso die poetischen Ergüsse des fertigen Sozialdemokraten und die neun Bände Gedichte des andern künstlerisch begabten, sinnigen Mannes können hier un¬ berücksichtigt bleiben, so viel Reiz sie auch für manchen Hörer und Leser haben mögen. Sie sind für die durchschnittliche Gedankenwelt unsrer Industriearbeiter, auch soweit sich diese zu der bekannten Stufe sozialdcmokratischer Halbbildung „emporentwickelt" haben, doch zu wenig bezeichnend. Auch von den Antworten auf die Umfrage kann natürlich hier nur eine kleine Probe gegeben werden, die das eigne Studium der lehrreichen Sammlung niemand erspart.") Im besondern wird von der Wiedergabe der fast zu reichlich aufgenommnen landläufigen Grobheiten gesinnungstüchtiger Sozialdemokraten Abstand genommen. Über die Kirche und die Geistlichkeit giebt ein höflicher Sozialdemokrat sein Urteil dahin ab: „Die Kirche mag früher, als die Menschen noch nichts von den Naturwissenschaften wußten, wohl ganz gut und nützlich gewesen sein; heute dient sie nur zur Verdummungsanstalt. Ich kenne ja nur die evange¬ lische, aber soviel ich gehört habe, soll es mit der katholischen noch viel schlimmer sein." Ein andrer sagt: „Die Kirche mag früher einmal einen Zweck gehabt haben, um Deutschland zu kultiviren (gewisse Mönchsorden), ist aber heute eine ganz reaktionäre volksverdummende Einrichtung geworden." Aber auch „gemäßigte und christliche" Arbeiter haben viel auszusetzen. So schreibt ein solcher von den Geistlichen: „Den Weg, den Jesus ging, wandeln nur wenige; seinem lebendigen Beispiel, das er gab, und das seiner Lehre erst die siegende, unbezwingliche und ewige Kraft verlieh, folgen nur wenige. Die Geistlichkeit der katholischen Kirche leistet in ihrer Gesamtheit der weltlichen Macht des Papsttums Frondienste, diejenigen andrer Konfesstonen erscheinen leider dem Volke mehr als Staats- denn Religionsdiener." Ein andrer meint: „Der evangelische Geistliche sieht zu viel zur Regierung hinauf. Wie es der katholische Geistliche schon thut, so soll auch der evangelische die wirtschaft¬ lichen Verhältnisse seiner Gemeinde studiren. Der Geistliche soll ganz sozial empfinden. Aber wer nicht mit Geschick und Glück sozial wirken kann, der soll die Hände davon lassen: das Amt des Geistlichen muß immer ein hohes, vor Gott verantwortliches Amt bleiben." Ein dritter: „Die Geistlichkeit handelt nicht seelsorgerisch, wie sie müßte, denn sie bevorzugt die Reichen und vernachlässigt die Armen; die Geistlichkeit ist viel schuld daran, daß sich die Masse des Volks auf so tiefer geistiger und sittlicher Stufe befindet. Es darf aber auch der ehrliche Geistliche nicht nach seiner Überzeugung handeln, denn dann kommt er mit seiner Behörde in Konflikt." Der Vortrag ist einzeln im Buchhandel erschienen (Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen) zum Ladenpreise von 1 Mark 40 Pfennigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/356>, abgerufen am 28.07.2024.