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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Vie Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

gezeichneter Gedichte "von einem ebenfalls künstlerisch begabten, sinnigen
Mann," aus denen jedoch nur ein Gedicht im Vortrag wiedergegeben ist; und
endlich vor allem viertens achtundvierzig Antworten auf die Umfrage, die mit
Freundeshilfe an Arbeiter "ohne Auswahl," aber doch zur Hälfte an Sozial¬
demokraten, zur andern Hälfte an Gemäßigte und Christlich-Kirchliche er¬
gangen war. Die Antworten und sonstigen Mitteilungen stammen aus Bremen,
Hamburg, Berlin, Frankfurt a. O., dem Anhaltischen, aus Leipzig, Chemnitz,
Thüringen, Frankfurt a. M., der Rheinpfalz, ans Stuttgart, aus der Schweiz
und rühren von Angehörigen sehr verschiedner Industriezweige her. Die Um¬
frage betraf in elf Nummern (Wie urteilen Sie -- ernsthaft, offen, ehrlich
und ungeschminkt -- über?): Kirche und Geistlichkeit; Predigt; kirchliche Feste;
Bibel; Christus; Luther und die Reformation; Gott, die Weltschöpfung und
die Wunder; Tod und Leben nach dem Tode; Ehe und Familienleben; christ¬
liche Wohlthätigkeit. Die zwölfte Frage lautete: Wie muß ucich Ihrer Mei¬
nung ein tüchtiger Mensch beschaffen sein? Welche Eigenschaften muß er
haben?

Die Antworten -- der Vortragende teilte nur eine Auswahl mit -- ent¬
halten, wenn man von denen absieht, denen die erwünschte Originalität wegen
ihrer Verwandtschaft mit den bekannten durch Tausende von Reden und Schriften
alljährlich den Arbeitern eingeprägten sozialistischen Schlagworten fehlt, einen
reichen Schatz an Wahrheiten und guten Lehren für uns alle, für die evange¬
lische Kirche, für die Regierungen und ihre berufnen Organe. Sie verdienen
die weiteste Verbreitung und ernste Beherzigung, sie zeigen deutlich, daß es
nicht etwa nur ganz interessant, sondern daß es eine Pflicht der gebildeten
Männer und Frauen ist, der Gedankenwelt der Arbeiter, wo immer sie mit
ihnen in Berührung kommen, achtungsvolle Berücksichtigung zu schenken.

Freilich, um die Sammlung ihrer guten Wirkung nicht zu berauben, wird
man sich vor unberechtigten Verallgemeinerungen bei Schlüssen von den Ge¬
danken einzelner und immerhin weniger Industriearbeiter auf die Gedanken¬
welt aller zu hüten haben. Das verbietet schon der Umfang und die Form
der Quellen, ans denen das Bild geschöpft ist. Aber vor allem beweist der
Inhalt, daß, wie in der Besprechung Pfarrer Arndt aus Volmarstein sagte,
Rade uns einen Arbeiter vorgeführt hat, "der eigentlich ein wissenschaftlicher
Arbeiter ist." Auch wenn man sich an die von Rade vermeintlich ganz fest
begrenzte Einschränkung auf die Industriearbeiter halten wollte, die mehr oder
weniger den Einflüssen der Sozialdemokratie unterliegen, so wäre es falsch,
das Bild, das geboten wird, als das der Gedankenwelt und des Bilduugs-
standes dieser Millionen zu bezeichnen. Es kann nur Verwirrung anrichten,
wenn Harnack nach dem Vortrage sagte: "Wie ein Drittel unsrer Nation über
die höchsten Fragen des Lebens und über die wichtigsten Institutionen urteilt,
das haben wir gehört."


Vie Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

gezeichneter Gedichte „von einem ebenfalls künstlerisch begabten, sinnigen
Mann," aus denen jedoch nur ein Gedicht im Vortrag wiedergegeben ist; und
endlich vor allem viertens achtundvierzig Antworten auf die Umfrage, die mit
Freundeshilfe an Arbeiter „ohne Auswahl," aber doch zur Hälfte an Sozial¬
demokraten, zur andern Hälfte an Gemäßigte und Christlich-Kirchliche er¬
gangen war. Die Antworten und sonstigen Mitteilungen stammen aus Bremen,
Hamburg, Berlin, Frankfurt a. O., dem Anhaltischen, aus Leipzig, Chemnitz,
Thüringen, Frankfurt a. M., der Rheinpfalz, ans Stuttgart, aus der Schweiz
und rühren von Angehörigen sehr verschiedner Industriezweige her. Die Um¬
frage betraf in elf Nummern (Wie urteilen Sie — ernsthaft, offen, ehrlich
und ungeschminkt — über?): Kirche und Geistlichkeit; Predigt; kirchliche Feste;
Bibel; Christus; Luther und die Reformation; Gott, die Weltschöpfung und
die Wunder; Tod und Leben nach dem Tode; Ehe und Familienleben; christ¬
liche Wohlthätigkeit. Die zwölfte Frage lautete: Wie muß ucich Ihrer Mei¬
nung ein tüchtiger Mensch beschaffen sein? Welche Eigenschaften muß er
haben?

Die Antworten — der Vortragende teilte nur eine Auswahl mit — ent¬
halten, wenn man von denen absieht, denen die erwünschte Originalität wegen
ihrer Verwandtschaft mit den bekannten durch Tausende von Reden und Schriften
alljährlich den Arbeitern eingeprägten sozialistischen Schlagworten fehlt, einen
reichen Schatz an Wahrheiten und guten Lehren für uns alle, für die evange¬
lische Kirche, für die Regierungen und ihre berufnen Organe. Sie verdienen
die weiteste Verbreitung und ernste Beherzigung, sie zeigen deutlich, daß es
nicht etwa nur ganz interessant, sondern daß es eine Pflicht der gebildeten
Männer und Frauen ist, der Gedankenwelt der Arbeiter, wo immer sie mit
ihnen in Berührung kommen, achtungsvolle Berücksichtigung zu schenken.

Freilich, um die Sammlung ihrer guten Wirkung nicht zu berauben, wird
man sich vor unberechtigten Verallgemeinerungen bei Schlüssen von den Ge¬
danken einzelner und immerhin weniger Industriearbeiter auf die Gedanken¬
welt aller zu hüten haben. Das verbietet schon der Umfang und die Form
der Quellen, ans denen das Bild geschöpft ist. Aber vor allem beweist der
Inhalt, daß, wie in der Besprechung Pfarrer Arndt aus Volmarstein sagte,
Rade uns einen Arbeiter vorgeführt hat, „der eigentlich ein wissenschaftlicher
Arbeiter ist." Auch wenn man sich an die von Rade vermeintlich ganz fest
begrenzte Einschränkung auf die Industriearbeiter halten wollte, die mehr oder
weniger den Einflüssen der Sozialdemokratie unterliegen, so wäre es falsch,
das Bild, das geboten wird, als das der Gedankenwelt und des Bilduugs-
standes dieser Millionen zu bezeichnen. Es kann nur Verwirrung anrichten,
wenn Harnack nach dem Vortrage sagte: „Wie ein Drittel unsrer Nation über
die höchsten Fragen des Lebens und über die wichtigsten Institutionen urteilt,
das haben wir gehört."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/355>, abgerufen am 27.07.2024.