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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

vergleichbar der Malerei der Nazarenerschule, und darum nicht ein Buch für
jedermann. Woraus dann weiter folgt, daß das Christentum nicht eine Religion
für jedermann ist, d. h. das esoterische Christentum, das Christentum der Berg¬
predigt, des Johannesevangeliums, des Römer- und Galaterbriefes, denn als
Kultusgemeinschaft und Anstalt zur Fortpflanzung der allein vernünftigen
Metaphysik und der Moralität kann und soll es allerdings universell sein.

Man erinnere sich dessen, was Nietzsche von der Bibel gesagt hat, daß
sie in Jahrtausenden nicht ausgeschöpft werde, und daß eine zwingende Autorität
dazu nötig sei, ein solches Buch, das erst nach Jahrtausenden seine volle
Wirkung ausübt, zu erhalten, vor dem Untergang und vor dem Vergessen zu
bewahren. Damit ist das Dasein der christlichen Kirche gerechtfertigt, mag sie
sich auch zu Zeiten als eine herzlich schlechte Erklärerin des Buches bewähren,
das sie auf bessere Interpreten zu vererben hat. Nietzsche behauptet, ein
lebenskräftiges Volk brauche Götter, um ihnen zu danken; überhaupt sei das
Vorherrschen der Dankbarkeit, das Zurücktreten der Furcht das Kennzeichen
einer vornehmen Religion. Gewiß! Aber was für Götter soll sich denn heute
ein Volk schaffen? Das könnten doch nur neue Auflagen von Zeus, Apollon,
Dionysos oder Wuotan sein, und denen können wir, die wir bei Plato, Ari¬
stoteles, Spinoza, Leibniz, Kant und Hegel in die Schule gegangen sind, doch
beim besten Willen unsern Dank nicht mehr abstatten, und dem größern Teil
des Volkes, der ja in den modernen Gedankenkreis hineingezogen ist, würde
es auch kaum möglich sein. Es ist eben die Hauptleistung des Christentums,
daß es den religiösen Kult mit der in Judäa und Hellas erreichten Stufe der
philosophischen Erkenntnis in Einklang gebracht hat. Die moderne Natur-
wissenschaft hat diese Erkenntnis vollendet, indem sie alle Erscheinungen auf
eine Grundursache zurückführt, die alle Wesen zwingt, sich nach einem einzigen,
das ganze Weltall beherrschenden Gesetze zu bewegen. Seitdem kann der Denkende
nicht mehr Polytheist sein, sondern hat nur die Wahl zwischen dem atheistischen
Monismus und dem Monotheismus, und da jener keine Religion zuläßt, so
bleibt solchen Gebildeten, die eine Religion für notwendig erklären, nur der
zweite übrig. So hat also das Christentum auch in dieser Beziehung im
voraus für unsre Zeiten gesorgt. Um dieser durchaus notwendigen Leistungen
willen muß man die Übeln Wirkungen hinnehmen, die nicht vom Christentum,
sondern von der zu seiner Erhaltung und Verbreitung gegründeten Anstalt,
der Kirche, ausgehen, und zu denen allerdings die Verlogenheit gehört.

Diese entspringt aus drei Quellen. Erstens aus der, die Hartpole Lecky in
seiner Geschichte der Moral ausführlich behandelt hat, aus der Wundersucht,
die die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit in der Auffassung der Thatsachen und
in der Berichterstattung darüber beeinträchtigt und das Fabuliren, Ausschmücken
und Übertreiben nach orientalischer Art in Europa eingeführt hat. Die zweite
Quelle ist der den Heiden -- und auch den vorexilischen Juden -- unbekannte


Friedrich Nietzsche

vergleichbar der Malerei der Nazarenerschule, und darum nicht ein Buch für
jedermann. Woraus dann weiter folgt, daß das Christentum nicht eine Religion
für jedermann ist, d. h. das esoterische Christentum, das Christentum der Berg¬
predigt, des Johannesevangeliums, des Römer- und Galaterbriefes, denn als
Kultusgemeinschaft und Anstalt zur Fortpflanzung der allein vernünftigen
Metaphysik und der Moralität kann und soll es allerdings universell sein.

Man erinnere sich dessen, was Nietzsche von der Bibel gesagt hat, daß
sie in Jahrtausenden nicht ausgeschöpft werde, und daß eine zwingende Autorität
dazu nötig sei, ein solches Buch, das erst nach Jahrtausenden seine volle
Wirkung ausübt, zu erhalten, vor dem Untergang und vor dem Vergessen zu
bewahren. Damit ist das Dasein der christlichen Kirche gerechtfertigt, mag sie
sich auch zu Zeiten als eine herzlich schlechte Erklärerin des Buches bewähren,
das sie auf bessere Interpreten zu vererben hat. Nietzsche behauptet, ein
lebenskräftiges Volk brauche Götter, um ihnen zu danken; überhaupt sei das
Vorherrschen der Dankbarkeit, das Zurücktreten der Furcht das Kennzeichen
einer vornehmen Religion. Gewiß! Aber was für Götter soll sich denn heute
ein Volk schaffen? Das könnten doch nur neue Auflagen von Zeus, Apollon,
Dionysos oder Wuotan sein, und denen können wir, die wir bei Plato, Ari¬
stoteles, Spinoza, Leibniz, Kant und Hegel in die Schule gegangen sind, doch
beim besten Willen unsern Dank nicht mehr abstatten, und dem größern Teil
des Volkes, der ja in den modernen Gedankenkreis hineingezogen ist, würde
es auch kaum möglich sein. Es ist eben die Hauptleistung des Christentums,
daß es den religiösen Kult mit der in Judäa und Hellas erreichten Stufe der
philosophischen Erkenntnis in Einklang gebracht hat. Die moderne Natur-
wissenschaft hat diese Erkenntnis vollendet, indem sie alle Erscheinungen auf
eine Grundursache zurückführt, die alle Wesen zwingt, sich nach einem einzigen,
das ganze Weltall beherrschenden Gesetze zu bewegen. Seitdem kann der Denkende
nicht mehr Polytheist sein, sondern hat nur die Wahl zwischen dem atheistischen
Monismus und dem Monotheismus, und da jener keine Religion zuläßt, so
bleibt solchen Gebildeten, die eine Religion für notwendig erklären, nur der
zweite übrig. So hat also das Christentum auch in dieser Beziehung im
voraus für unsre Zeiten gesorgt. Um dieser durchaus notwendigen Leistungen
willen muß man die Übeln Wirkungen hinnehmen, die nicht vom Christentum,
sondern von der zu seiner Erhaltung und Verbreitung gegründeten Anstalt,
der Kirche, ausgehen, und zu denen allerdings die Verlogenheit gehört.

Diese entspringt aus drei Quellen. Erstens aus der, die Hartpole Lecky in
seiner Geschichte der Moral ausführlich behandelt hat, aus der Wundersucht,
die die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit in der Auffassung der Thatsachen und
in der Berichterstattung darüber beeinträchtigt und das Fabuliren, Ausschmücken
und Übertreiben nach orientalischer Art in Europa eingeführt hat. Die zweite
Quelle ist der den Heiden — und auch den vorexilischen Juden — unbekannte


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[0306] Friedrich Nietzsche vergleichbar der Malerei der Nazarenerschule, und darum nicht ein Buch für jedermann. Woraus dann weiter folgt, daß das Christentum nicht eine Religion für jedermann ist, d. h. das esoterische Christentum, das Christentum der Berg¬ predigt, des Johannesevangeliums, des Römer- und Galaterbriefes, denn als Kultusgemeinschaft und Anstalt zur Fortpflanzung der allein vernünftigen Metaphysik und der Moralität kann und soll es allerdings universell sein. Man erinnere sich dessen, was Nietzsche von der Bibel gesagt hat, daß sie in Jahrtausenden nicht ausgeschöpft werde, und daß eine zwingende Autorität dazu nötig sei, ein solches Buch, das erst nach Jahrtausenden seine volle Wirkung ausübt, zu erhalten, vor dem Untergang und vor dem Vergessen zu bewahren. Damit ist das Dasein der christlichen Kirche gerechtfertigt, mag sie sich auch zu Zeiten als eine herzlich schlechte Erklärerin des Buches bewähren, das sie auf bessere Interpreten zu vererben hat. Nietzsche behauptet, ein lebenskräftiges Volk brauche Götter, um ihnen zu danken; überhaupt sei das Vorherrschen der Dankbarkeit, das Zurücktreten der Furcht das Kennzeichen einer vornehmen Religion. Gewiß! Aber was für Götter soll sich denn heute ein Volk schaffen? Das könnten doch nur neue Auflagen von Zeus, Apollon, Dionysos oder Wuotan sein, und denen können wir, die wir bei Plato, Ari¬ stoteles, Spinoza, Leibniz, Kant und Hegel in die Schule gegangen sind, doch beim besten Willen unsern Dank nicht mehr abstatten, und dem größern Teil des Volkes, der ja in den modernen Gedankenkreis hineingezogen ist, würde es auch kaum möglich sein. Es ist eben die Hauptleistung des Christentums, daß es den religiösen Kult mit der in Judäa und Hellas erreichten Stufe der philosophischen Erkenntnis in Einklang gebracht hat. Die moderne Natur- wissenschaft hat diese Erkenntnis vollendet, indem sie alle Erscheinungen auf eine Grundursache zurückführt, die alle Wesen zwingt, sich nach einem einzigen, das ganze Weltall beherrschenden Gesetze zu bewegen. Seitdem kann der Denkende nicht mehr Polytheist sein, sondern hat nur die Wahl zwischen dem atheistischen Monismus und dem Monotheismus, und da jener keine Religion zuläßt, so bleibt solchen Gebildeten, die eine Religion für notwendig erklären, nur der zweite übrig. So hat also das Christentum auch in dieser Beziehung im voraus für unsre Zeiten gesorgt. Um dieser durchaus notwendigen Leistungen willen muß man die Übeln Wirkungen hinnehmen, die nicht vom Christentum, sondern von der zu seiner Erhaltung und Verbreitung gegründeten Anstalt, der Kirche, ausgehen, und zu denen allerdings die Verlogenheit gehört. Diese entspringt aus drei Quellen. Erstens aus der, die Hartpole Lecky in seiner Geschichte der Moral ausführlich behandelt hat, aus der Wundersucht, die die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit in der Auffassung der Thatsachen und in der Berichterstattung darüber beeinträchtigt und das Fabuliren, Ausschmücken und Übertreiben nach orientalischer Art in Europa eingeführt hat. Die zweite Quelle ist der den Heiden — und auch den vorexilischen Juden — unbekannte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/306>, abgerufen am 01.09.2024.