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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Kanzler von Müller über Goethe

Daß ein Mann, dem so weitgehendes Vertrauen geschenkt worden war, und
der sich jahrzehntelang der besondern Schätzung Karl Augusts zu erfreuen gehabt
hatte, hervorragend gewesen sein muß, braucht nicht erst gesagt zu werden:
daß eines solchen Mannes Aufzeichnungen über Goethe die andrer Zeitgenossen
an Wert übertreffen, versteht sich von selbst. Nichtsdestoweniger gehören die
(neuerdings in zweiter Auflage erschienenen) Unterhaltungen Goethes mit
dem Kanzler von Müller (herausgegeben von C. A. H. Burkhardt, Stutt¬
gart, I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, 1898) zu den Büchern, die trotz
unzweifelhafter Bedeutung auf einen engen Kreis beschränkt geblieben und nicht
einmal der Mehrzahl der eigentlichen Freunde Goethes gehörig bekannt ge¬
worden sind. Zwei Umstände haben dazu hauptsächlich beigetragen. Müllers
Auszeichnungen erschienen in dem für Publikationen solcher Art ungünstigsten
Zeitpunkte (unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges von 1870), und
erst ein Vierteljahrhundert nachdem ein Buch verwandten Inhalts, Ecker¬
manns berühmte "Gespräche mit Goethe," in aller Welt Hände gekommen und
zum Gemeingut der Deutschen geworden war. In mehr als einer Rücksicht
hatte dieses in seiner Weise unvergleichliche Werk den Bedürfnissen der Lese¬
welt entsprochen. Wenige Jahre nach dem Tode des größten aller neuern
Dichter veröffentlicht, von dem Geiste reinster Pietät gegen ihn getragen, an
stofflichen Reichtum allen Büchern über Goethe überlegen und mit höchster
Sorgfalt redigirt, war diese Publikation darnach beschaffen, dem Dankbarkeits¬
gefühl der Nation genugzuthun. Durch Eckermann ist das Idealbild fixirt
worden, das sich die Deutschen von dem wunderbaren Greise gemacht haben,
dessen Tod den denkwürdigsten Abschnitt der neuern deutschen Geschichte, das
Zeitalter des klassischen Idealismus beschloß. Eines Bildes des idealen
Goethe, des großen Geistes, der auf den Höhen der Menschheit wandelnd die
Schlacken des Irdischen und Vergänglichen abgestreift zu haben schien -- eines
solchen Bildes bedurften wir, und ein solches bot das Eckermcinnsche Buch.
Daß sich der Verfasser dem großen Freunde gegenüber mit einer dienenden
Rolle begnügte, daß er in der Bewunderung für ihn aufging und der eignen
Person eine bloß subalterne Stellung anwies, erschien als Verdienst des
Mannes und als Vorzug des Schriftstellers. Die von Eckermann geübte Be¬
scheidung entsprach der Stimmung des Lesers, bürgte sür die Treue der Dar¬
stellung und hielt fern, was die Reinheit des entworfnen Bildes hätte stören
können. Darauf, und darauf allein mußte es einer Zeit ankommen, die ganz
unter dem Eindruck des Verlustes stand, den sie erlitten hatte, und die vor
allem das unsterbliche Teil des Unsterblichen festgehalten zu sehen verlangte.
Wenn bei genauerer Betrachtung nicht verborgen bleiben konnte, daß der
"Erdenrest," den auch Goethe zu tragen hatte, von dem Verfasser "zurück¬
gelassen" worden war, daß die Form der Eckermannschen "Gespräche" Spuren
redaktioneller Überarbeitung an sich trug, und daß von des Dichters hin-


Kanzler von Müller über Goethe

Daß ein Mann, dem so weitgehendes Vertrauen geschenkt worden war, und
der sich jahrzehntelang der besondern Schätzung Karl Augusts zu erfreuen gehabt
hatte, hervorragend gewesen sein muß, braucht nicht erst gesagt zu werden:
daß eines solchen Mannes Aufzeichnungen über Goethe die andrer Zeitgenossen
an Wert übertreffen, versteht sich von selbst. Nichtsdestoweniger gehören die
(neuerdings in zweiter Auflage erschienenen) Unterhaltungen Goethes mit
dem Kanzler von Müller (herausgegeben von C. A. H. Burkhardt, Stutt¬
gart, I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, 1898) zu den Büchern, die trotz
unzweifelhafter Bedeutung auf einen engen Kreis beschränkt geblieben und nicht
einmal der Mehrzahl der eigentlichen Freunde Goethes gehörig bekannt ge¬
worden sind. Zwei Umstände haben dazu hauptsächlich beigetragen. Müllers
Auszeichnungen erschienen in dem für Publikationen solcher Art ungünstigsten
Zeitpunkte (unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges von 1870), und
erst ein Vierteljahrhundert nachdem ein Buch verwandten Inhalts, Ecker¬
manns berühmte „Gespräche mit Goethe," in aller Welt Hände gekommen und
zum Gemeingut der Deutschen geworden war. In mehr als einer Rücksicht
hatte dieses in seiner Weise unvergleichliche Werk den Bedürfnissen der Lese¬
welt entsprochen. Wenige Jahre nach dem Tode des größten aller neuern
Dichter veröffentlicht, von dem Geiste reinster Pietät gegen ihn getragen, an
stofflichen Reichtum allen Büchern über Goethe überlegen und mit höchster
Sorgfalt redigirt, war diese Publikation darnach beschaffen, dem Dankbarkeits¬
gefühl der Nation genugzuthun. Durch Eckermann ist das Idealbild fixirt
worden, das sich die Deutschen von dem wunderbaren Greise gemacht haben,
dessen Tod den denkwürdigsten Abschnitt der neuern deutschen Geschichte, das
Zeitalter des klassischen Idealismus beschloß. Eines Bildes des idealen
Goethe, des großen Geistes, der auf den Höhen der Menschheit wandelnd die
Schlacken des Irdischen und Vergänglichen abgestreift zu haben schien — eines
solchen Bildes bedurften wir, und ein solches bot das Eckermcinnsche Buch.
Daß sich der Verfasser dem großen Freunde gegenüber mit einer dienenden
Rolle begnügte, daß er in der Bewunderung für ihn aufging und der eignen
Person eine bloß subalterne Stellung anwies, erschien als Verdienst des
Mannes und als Vorzug des Schriftstellers. Die von Eckermann geübte Be¬
scheidung entsprach der Stimmung des Lesers, bürgte sür die Treue der Dar¬
stellung und hielt fern, was die Reinheit des entworfnen Bildes hätte stören
können. Darauf, und darauf allein mußte es einer Zeit ankommen, die ganz
unter dem Eindruck des Verlustes stand, den sie erlitten hatte, und die vor
allem das unsterbliche Teil des Unsterblichen festgehalten zu sehen verlangte.
Wenn bei genauerer Betrachtung nicht verborgen bleiben konnte, daß der
„Erdenrest," den auch Goethe zu tragen hatte, von dem Verfasser „zurück¬
gelassen" worden war, daß die Form der Eckermannschen „Gespräche" Spuren
redaktioneller Überarbeitung an sich trug, und daß von des Dichters hin-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/290>, abgerufen am 01.09.2024.