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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der größte Fehler, den die englische Negierung bei der Räumung von
Südwestafrika machte, war der, daß sie nicht außer der Walfischbai auch noch
die ganze Küste zwischen Oranje und Cunene der Kapkolonie einverleibte. Das
hätte ihr etwa 10000 Mark jährlich mehr gekostet und ihr die Sorgen gespart,
die ihr Südwestafrika jetzt bereitet. Wer hätte aber eines damals daran denken
können, daß das Deutsche Reich von dieser wüsten Küste je Besitz ergreifen
würde. Die Bewegung in Deutschland, die auf koloniale Erwerbungen hin¬
wirkte, 1379 bis 1881 durch die Schriften von Hübbe-Schleiden und Fabri
festere Form erhielt und 1882 zu der Gründung des deutschen Kolonialvereins
führte, mochte wohl den englischen Diplomaten entgangen oder zu unbedeutend
erschienen sein. Die britischen Anschauungen waren vielleicht auch nicht un¬
berechtigt, wenn man den deutscheu Reichstag für den Ausdruck der Stimmung
des deutscheu Volkes ansah. Geringere Sympathien für koloniale und über¬
seeische deutsche Erwerbungen konnte der deutsche Reichstag gar uicht zeigen,
als er 1880 die Klagen der Missionare beiseite schob und die Dampfersubven¬
tionen nach Ostasien ablehnte. Aber wie häufig hat schon der deutsche Reichs¬
tag der Stimmung breiter Volksschichten einen ganz falschen Ausdruck ver¬
liehen. Er ist auch nicht imstande gewesen, der kolonialen Bewegung einen
Damm vorzubauen, wie die schnelle Ausbreitung des Kolonialvereius, das
Interesse der Presse und breiter Schichten des Volkes bewiesen haben.

Als daher nach der Verzichtleistung Englands der für die koloniale Sache
begeisterte Bremer Großknnfmann Lüderitz Besitz an der herrenlosen Küste
Südwestafrikas erwarb, war der Boden in Deutschland schon bearbeitet. Die
Neichsregierung, längst aufmerksam gemacht auf die koloniale Bewegung im
Volke, freute sich über die Unternehmungslust und war bereit, den Lüderitzschen
Unternehmungen ihren diplomatischen Schutz cingedeiheu zu lassen. Die Absicht,
sich in Südwestafrika materiell stärker zu engagiren, mußte ihr damals ganz
fern liegen; denn ein Gebiet, das England verschmähte, mußte herzlich wenig
bieten, und die ablehnende Haltung des deutschen Reichstags konnte die
Kolonialverwaltung nicht ermutigen, sich so des Schutzgebiets anzunehmen, wie
die Kvlonialfreuude es wünschten. Nur durch den Gang der Ereignisse wurde
sie Schritt für Schritt gezwungen, viel mehr zu thun, als ihr lieb war. Sie
glaubte der Unternehmungslust des Kaufmanns und des Industriellen nur
folgen zu brauchen, hat aber jetzt nach dreizehn Jahren den Schutz und die
Erschließung der Kolonie selbst in die Hand nehmen müssen und wird noch viel
mehr dafür thun müssen, um einen wenig ehrenvollen Rückzug zu vermeiden.




Der größte Fehler, den die englische Negierung bei der Räumung von
Südwestafrika machte, war der, daß sie nicht außer der Walfischbai auch noch
die ganze Küste zwischen Oranje und Cunene der Kapkolonie einverleibte. Das
hätte ihr etwa 10000 Mark jährlich mehr gekostet und ihr die Sorgen gespart,
die ihr Südwestafrika jetzt bereitet. Wer hätte aber eines damals daran denken
können, daß das Deutsche Reich von dieser wüsten Küste je Besitz ergreifen
würde. Die Bewegung in Deutschland, die auf koloniale Erwerbungen hin¬
wirkte, 1379 bis 1881 durch die Schriften von Hübbe-Schleiden und Fabri
festere Form erhielt und 1882 zu der Gründung des deutschen Kolonialvereins
führte, mochte wohl den englischen Diplomaten entgangen oder zu unbedeutend
erschienen sein. Die britischen Anschauungen waren vielleicht auch nicht un¬
berechtigt, wenn man den deutscheu Reichstag für den Ausdruck der Stimmung
des deutscheu Volkes ansah. Geringere Sympathien für koloniale und über¬
seeische deutsche Erwerbungen konnte der deutsche Reichstag gar uicht zeigen,
als er 1880 die Klagen der Missionare beiseite schob und die Dampfersubven¬
tionen nach Ostasien ablehnte. Aber wie häufig hat schon der deutsche Reichs¬
tag der Stimmung breiter Volksschichten einen ganz falschen Ausdruck ver¬
liehen. Er ist auch nicht imstande gewesen, der kolonialen Bewegung einen
Damm vorzubauen, wie die schnelle Ausbreitung des Kolonialvereius, das
Interesse der Presse und breiter Schichten des Volkes bewiesen haben.

Als daher nach der Verzichtleistung Englands der für die koloniale Sache
begeisterte Bremer Großknnfmann Lüderitz Besitz an der herrenlosen Küste
Südwestafrikas erwarb, war der Boden in Deutschland schon bearbeitet. Die
Neichsregierung, längst aufmerksam gemacht auf die koloniale Bewegung im
Volke, freute sich über die Unternehmungslust und war bereit, den Lüderitzschen
Unternehmungen ihren diplomatischen Schutz cingedeiheu zu lassen. Die Absicht,
sich in Südwestafrika materiell stärker zu engagiren, mußte ihr damals ganz
fern liegen; denn ein Gebiet, das England verschmähte, mußte herzlich wenig
bieten, und die ablehnende Haltung des deutschen Reichstags konnte die
Kolonialverwaltung nicht ermutigen, sich so des Schutzgebiets anzunehmen, wie
die Kvlonialfreuude es wünschten. Nur durch den Gang der Ereignisse wurde
sie Schritt für Schritt gezwungen, viel mehr zu thun, als ihr lieb war. Sie
glaubte der Unternehmungslust des Kaufmanns und des Industriellen nur
folgen zu brauchen, hat aber jetzt nach dreizehn Jahren den Schutz und die
Erschließung der Kolonie selbst in die Hand nehmen müssen und wird noch viel
mehr dafür thun müssen, um einen wenig ehrenvollen Rückzug zu vermeiden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/266>, abgerufen am 27.07.2024.