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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

bei Bismarck. Nichts, gar nichts ist bisher vom Kaiser und vom preußischen
Königshause oder der preußischen Regierung gethan, was im Ernst dahin gedeutet
werden konnte. Daß Ärgernisse, Übereilungen, Mißstimmungen persönlicher Natur
auch unter den deutschen Fürsten nach der Errichtung des neuen Reichs wie vor ihr
möglich sind, versteht sich ganz von selbst. Ob solche Fälle zu Zeiten des heiligen
römischen Reichs unter Habsburgs Szepter weniger oder mehr vorgekommen sind,
und ob deutsche Fürsten und Grafen damals am Wiener und am Berliner Hofe
seltner ihrer Meinung nach mit ungenügender Ehrfurcht behandelt worden sind als
heute, wollen wir nicht untersuchen. Fest steht, daß sich seit Jahr und Tag in
Deutschland in zunehmendem Maße eine Preußen- und damit thatsächlich auch reichs¬
feindliche Agitation geltend macht, gegen die es lohnte, den Nationalverein seligen
Andenkens wieder zu beleben. Viel eher als in Übergriffen der Reichsgewalt
liegt heute im Pochen auf die souveränen Machtvollkommenheiten der Einzelstaaten
eine Gefahr. Vielleicht werden die buntscheckigen Militärkonventionen am Anfang
des neuen Jahrhunderts alle gekündigt werden, Um den Nechtsstandpnnkt zu wahren,
vielleicht ernennen die deutschen Fürsten wieder Agenten in Wien, London und
Petersburg zur Vertretung ihrer Sonderrechte wie vormals, vielleicht wird schlie߬
lich jede Lücke im Reichsstaatsrechte im Laufe der nächsten Jahre bis zur äußersten
Konsequenz im Sinne der unantastbaren Sonderrechte der deutschen Groß-, Mittel¬
uno Kleinstaaten gegen Preußen und, den Kaiser ausgebeutet, um nach weitern
Jahrzehnten den österreichischen, englischen, russischen Einflüssen im Deutschen Reich
die alte Macht zurückzugeben. Wer weiß, wie es kommt, wenn die hochherzigen
deutschen Fürsten, die vor einem Menschenalter das neue Reich geschaffen haben,
bis aus den letzten den Weg alles Fleisches gegangen sein werden. Wer weiß, ob
die partikularistischen Rechtsparteien nicht dann die Lage beherrschen. Das Zentrum
wird sich jedenfalls herzlich gern mit ihnen vertragen. Aber die deutsch-nationale
Presse sollte doch ernstlich bedenken, was dann aus dem deutscheu Volke und dem
Deutschen Reiche würde. Das Spielen mit dem Fall Lippe, wie wirs kennen ge¬
lernt haben, zeigt genugsam, daß sie gegen arge Fehlgriffe nicht durchweg auf der
Hut ist.

Die lippische Erbschaftsfrage mag noch Erörterungen vertragen, die lippische
Telegrammaffaire geht die Öffentlichkeit nichts an. Es fehlte gerade noch, daß
mau durch amtliche Aufklärungen oder dergleichen dem Sensationsbedürfnis der
/? Sauerngurkenzeit sich gefällig erwiese.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

bei Bismarck. Nichts, gar nichts ist bisher vom Kaiser und vom preußischen
Königshause oder der preußischen Regierung gethan, was im Ernst dahin gedeutet
werden konnte. Daß Ärgernisse, Übereilungen, Mißstimmungen persönlicher Natur
auch unter den deutschen Fürsten nach der Errichtung des neuen Reichs wie vor ihr
möglich sind, versteht sich ganz von selbst. Ob solche Fälle zu Zeiten des heiligen
römischen Reichs unter Habsburgs Szepter weniger oder mehr vorgekommen sind,
und ob deutsche Fürsten und Grafen damals am Wiener und am Berliner Hofe
seltner ihrer Meinung nach mit ungenügender Ehrfurcht behandelt worden sind als
heute, wollen wir nicht untersuchen. Fest steht, daß sich seit Jahr und Tag in
Deutschland in zunehmendem Maße eine Preußen- und damit thatsächlich auch reichs¬
feindliche Agitation geltend macht, gegen die es lohnte, den Nationalverein seligen
Andenkens wieder zu beleben. Viel eher als in Übergriffen der Reichsgewalt
liegt heute im Pochen auf die souveränen Machtvollkommenheiten der Einzelstaaten
eine Gefahr. Vielleicht werden die buntscheckigen Militärkonventionen am Anfang
des neuen Jahrhunderts alle gekündigt werden, Um den Nechtsstandpnnkt zu wahren,
vielleicht ernennen die deutschen Fürsten wieder Agenten in Wien, London und
Petersburg zur Vertretung ihrer Sonderrechte wie vormals, vielleicht wird schlie߬
lich jede Lücke im Reichsstaatsrechte im Laufe der nächsten Jahre bis zur äußersten
Konsequenz im Sinne der unantastbaren Sonderrechte der deutschen Groß-, Mittel¬
uno Kleinstaaten gegen Preußen und, den Kaiser ausgebeutet, um nach weitern
Jahrzehnten den österreichischen, englischen, russischen Einflüssen im Deutschen Reich
die alte Macht zurückzugeben. Wer weiß, wie es kommt, wenn die hochherzigen
deutschen Fürsten, die vor einem Menschenalter das neue Reich geschaffen haben,
bis aus den letzten den Weg alles Fleisches gegangen sein werden. Wer weiß, ob
die partikularistischen Rechtsparteien nicht dann die Lage beherrschen. Das Zentrum
wird sich jedenfalls herzlich gern mit ihnen vertragen. Aber die deutsch-nationale
Presse sollte doch ernstlich bedenken, was dann aus dem deutscheu Volke und dem
Deutschen Reiche würde. Das Spielen mit dem Fall Lippe, wie wirs kennen ge¬
lernt haben, zeigt genugsam, daß sie gegen arge Fehlgriffe nicht durchweg auf der
Hut ist.

Die lippische Erbschaftsfrage mag noch Erörterungen vertragen, die lippische
Telegrammaffaire geht die Öffentlichkeit nichts an. Es fehlte gerade noch, daß
mau durch amtliche Aufklärungen oder dergleichen dem Sensationsbedürfnis der
/? Sauerngurkenzeit sich gefällig erwiese.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0248] Maßgebliches und Unmaßgebliches bei Bismarck. Nichts, gar nichts ist bisher vom Kaiser und vom preußischen Königshause oder der preußischen Regierung gethan, was im Ernst dahin gedeutet werden konnte. Daß Ärgernisse, Übereilungen, Mißstimmungen persönlicher Natur auch unter den deutschen Fürsten nach der Errichtung des neuen Reichs wie vor ihr möglich sind, versteht sich ganz von selbst. Ob solche Fälle zu Zeiten des heiligen römischen Reichs unter Habsburgs Szepter weniger oder mehr vorgekommen sind, und ob deutsche Fürsten und Grafen damals am Wiener und am Berliner Hofe seltner ihrer Meinung nach mit ungenügender Ehrfurcht behandelt worden sind als heute, wollen wir nicht untersuchen. Fest steht, daß sich seit Jahr und Tag in Deutschland in zunehmendem Maße eine Preußen- und damit thatsächlich auch reichs¬ feindliche Agitation geltend macht, gegen die es lohnte, den Nationalverein seligen Andenkens wieder zu beleben. Viel eher als in Übergriffen der Reichsgewalt liegt heute im Pochen auf die souveränen Machtvollkommenheiten der Einzelstaaten eine Gefahr. Vielleicht werden die buntscheckigen Militärkonventionen am Anfang des neuen Jahrhunderts alle gekündigt werden, Um den Nechtsstandpnnkt zu wahren, vielleicht ernennen die deutschen Fürsten wieder Agenten in Wien, London und Petersburg zur Vertretung ihrer Sonderrechte wie vormals, vielleicht wird schlie߬ lich jede Lücke im Reichsstaatsrechte im Laufe der nächsten Jahre bis zur äußersten Konsequenz im Sinne der unantastbaren Sonderrechte der deutschen Groß-, Mittel¬ uno Kleinstaaten gegen Preußen und, den Kaiser ausgebeutet, um nach weitern Jahrzehnten den österreichischen, englischen, russischen Einflüssen im Deutschen Reich die alte Macht zurückzugeben. Wer weiß, wie es kommt, wenn die hochherzigen deutschen Fürsten, die vor einem Menschenalter das neue Reich geschaffen haben, bis aus den letzten den Weg alles Fleisches gegangen sein werden. Wer weiß, ob die partikularistischen Rechtsparteien nicht dann die Lage beherrschen. Das Zentrum wird sich jedenfalls herzlich gern mit ihnen vertragen. Aber die deutsch-nationale Presse sollte doch ernstlich bedenken, was dann aus dem deutscheu Volke und dem Deutschen Reiche würde. Das Spielen mit dem Fall Lippe, wie wirs kennen ge¬ lernt haben, zeigt genugsam, daß sie gegen arge Fehlgriffe nicht durchweg auf der Hut ist. Die lippische Erbschaftsfrage mag noch Erörterungen vertragen, die lippische Telegrammaffaire geht die Öffentlichkeit nichts an. Es fehlte gerade noch, daß mau durch amtliche Aufklärungen oder dergleichen dem Sensationsbedürfnis der /? Sauerngurkenzeit sich gefällig erwiese. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/248>, abgerufen am 01.09.2024.