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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Lin sächsisches Gymnasium während des Rrieges von ^370/7^

Allmählich begriff man, daß sich der Charakter des Krieges änderte. Mit
einer Art wilden Gleichmuth fand man sich darein, daß er den Winter über
andauern und statt sich in gewaltigen raschen Entscheidnngsschlcigen wie bisher
zu entladen, in langwierigen, erschöpfenden Kämpfen verlaufen werde. Die
Truppendurchzüge, jetzt meist Landwehren, und die Verwundetentransporte
waren etwas alltägliches geworden -- vom 23. August bis Ende Oktober
Passirten die Stadt allein an Kranken, Verwundeten, Gefangnen und Bedeckungs-
mannschaften gegen 18000 Mann --; unverdrossen waltete draußen auf dem
Bahnhofe der Verpflegungsausschuß, von Lehrern und ältern Schülern nach
Kräften unterstützt, seines nicht immer leichten Amtes, und von Zeit zu Zeit
wurden neue Sammlungen von Erfrischungen und Geld veranstaltet. Man
war gewohnt, jeden Abend regelmäßig seine Kriegsdepeschen in Empfang zu
nehmen; man ärgerte sich, wenn Podbielski immer wieder telegraphirte: "Vor
Paris nichts neues," und man fand es ganz selbstverständlich, daß jeden
Tag ein siegreiches Gefecht oder die Übergabe einer Festung gemeldet wurde.
So ging es bis gegen Ende Oktober. Endlich, am Abend des 27. Oktober,
lief die geradezu erschütternde und überwältigende Nachricht ein, daß Metz ge¬
fallen sei; mit 170000 Mann, 53 Adlern und Fahnen, 541 Feld- und
800 Festungsgeschützen war die jungfräuliche Festung in deutscher Hand! Uu-
bezühmbar brach da wieder der Jubel los. Freudenschüsse krachten durch die
Nacht, auf dem Markte drängten sich die Menschenmassen Kopf an Kopf, von
den erleuchteten Häusern wehten die Fahnen, vor dem Rathause brannten die
Gaspyramiden, ein Musikkorps spielte patriotische Weisen, die die Tausende
andächtig mitsängen: Was ist des Deutschen Vaterland?, die Wacht am
Rhein u. a., und der Bürgermeister Kunze brachte ein begeistertes Hoch aus
auf Deutschland, sein tapferes Heer und seine Führer. Am nächsten Tage
war die ganze Stadt reich beflaggt; auch vom Gymnasium wehten zum ersten¬
male mit den sächsischen die neuen deutschen Farben.

Und nun kamen in langen Zügen, ununterbrochen bei Tag und Nacht,
auf ihrer endlosen Fahrt nach den schlesischen Festungen die Gefangnen von
Metz, in acht kalten Novembertagen im ganzen 20000 Mann mit 1000 Mann
Bedeckung. Es waren unvergeßliche Bilder, die sich da entrollten. Ich hatte
1866 Scharen gefangner Österreicher gesehen, doch was war das dagegen!
Ein ungeheures Schicksal zog an uns vorüber. Der erste Zug, den ich sah,
brachte am 4. November 900 französische Offiziere, gehütet von 40 strammen
Westfalen, die schlicht und ohne viel Worte von unsäglichen Strapazen er¬
zählten. Die gefangnen Offiziere waren zum Teil stattliche Leute und hielten
sich gut; in ihre dunkelblauen Kapuzenmäntel gehüllt sahen sie meist finster
und stumm vor sich nieder. Am nächsten Tage kam unter anderm ein ge¬
waltiger Zug von 2000 Gefangnen mit 150 Mann Bedeckung, zu je 40 in
einem Packwagen. Ein bunter und doch ein erschütternder Anblick! Leute aller


Grenzboten III 1898 26
Lin sächsisches Gymnasium während des Rrieges von ^370/7^

Allmählich begriff man, daß sich der Charakter des Krieges änderte. Mit
einer Art wilden Gleichmuth fand man sich darein, daß er den Winter über
andauern und statt sich in gewaltigen raschen Entscheidnngsschlcigen wie bisher
zu entladen, in langwierigen, erschöpfenden Kämpfen verlaufen werde. Die
Truppendurchzüge, jetzt meist Landwehren, und die Verwundetentransporte
waren etwas alltägliches geworden — vom 23. August bis Ende Oktober
Passirten die Stadt allein an Kranken, Verwundeten, Gefangnen und Bedeckungs-
mannschaften gegen 18000 Mann —; unverdrossen waltete draußen auf dem
Bahnhofe der Verpflegungsausschuß, von Lehrern und ältern Schülern nach
Kräften unterstützt, seines nicht immer leichten Amtes, und von Zeit zu Zeit
wurden neue Sammlungen von Erfrischungen und Geld veranstaltet. Man
war gewohnt, jeden Abend regelmäßig seine Kriegsdepeschen in Empfang zu
nehmen; man ärgerte sich, wenn Podbielski immer wieder telegraphirte: „Vor
Paris nichts neues," und man fand es ganz selbstverständlich, daß jeden
Tag ein siegreiches Gefecht oder die Übergabe einer Festung gemeldet wurde.
So ging es bis gegen Ende Oktober. Endlich, am Abend des 27. Oktober,
lief die geradezu erschütternde und überwältigende Nachricht ein, daß Metz ge¬
fallen sei; mit 170000 Mann, 53 Adlern und Fahnen, 541 Feld- und
800 Festungsgeschützen war die jungfräuliche Festung in deutscher Hand! Uu-
bezühmbar brach da wieder der Jubel los. Freudenschüsse krachten durch die
Nacht, auf dem Markte drängten sich die Menschenmassen Kopf an Kopf, von
den erleuchteten Häusern wehten die Fahnen, vor dem Rathause brannten die
Gaspyramiden, ein Musikkorps spielte patriotische Weisen, die die Tausende
andächtig mitsängen: Was ist des Deutschen Vaterland?, die Wacht am
Rhein u. a., und der Bürgermeister Kunze brachte ein begeistertes Hoch aus
auf Deutschland, sein tapferes Heer und seine Führer. Am nächsten Tage
war die ganze Stadt reich beflaggt; auch vom Gymnasium wehten zum ersten¬
male mit den sächsischen die neuen deutschen Farben.

Und nun kamen in langen Zügen, ununterbrochen bei Tag und Nacht,
auf ihrer endlosen Fahrt nach den schlesischen Festungen die Gefangnen von
Metz, in acht kalten Novembertagen im ganzen 20000 Mann mit 1000 Mann
Bedeckung. Es waren unvergeßliche Bilder, die sich da entrollten. Ich hatte
1866 Scharen gefangner Österreicher gesehen, doch was war das dagegen!
Ein ungeheures Schicksal zog an uns vorüber. Der erste Zug, den ich sah,
brachte am 4. November 900 französische Offiziere, gehütet von 40 strammen
Westfalen, die schlicht und ohne viel Worte von unsäglichen Strapazen er¬
zählten. Die gefangnen Offiziere waren zum Teil stattliche Leute und hielten
sich gut; in ihre dunkelblauen Kapuzenmäntel gehüllt sahen sie meist finster
und stumm vor sich nieder. Am nächsten Tage kam unter anderm ein ge¬
waltiger Zug von 2000 Gefangnen mit 150 Mann Bedeckung, zu je 40 in
einem Packwagen. Ein bunter und doch ein erschütternder Anblick! Leute aller


Grenzboten III 1898 26
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/209>, abgerufen am 28.07.2024.