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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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<Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^370/?^

gebüßt hatte und jetzt ein anerkannter Führer der Liberalen war. Das Be¬
dürfnis nach politischer Belehrung befriedigte nach Kräften der Vogtländische
Anzeiger unter der Redaktion eines frühern Bürgerschullchrers Gunnel,
eines originellen Kauzes von derber Ehrlichkeit, der sich nie so recht zur An¬
erkennung des Norddeutschen Bundes entschließen konnte, aber in seiner Art
ein gut deutsch gesinnter Mann war und auf ausgedehnten Wanderungen
Land und Leute kennen gelernt hatte. Sehr anspruchslos war ein zweites
kleines Blatt, Der Vogtlünder.

Inmitten dieser Bevölkerung stand das Gymnasium, seit 1854 mit einer
zunächst sechsklassigen Realschule unter derselben Direktion und unter der ge¬
mischten königlich-städtischen Kollatur verbunden und in einem ziemlich neuen
Gebäude in der westlichen Vorstadt untergebracht, das in seiner hohen Lage
die Stadt und die Gegend weithin beherrschte. Die Doppelanstalt hatte damals
etwa dreihundert Schüler. Für vornehmer galt das Gymnasium, in das
auch die meisten Kaufherren und Fabrikanten ihre Söhne zu schicken pflegten.
Viele der Schüler stammten aus der Umgegend und aus sehr bescheidnen Ver¬
hältnissen, aber sie waren im ganzen gutartig und eifrig, betrachteten es auch
noch keineswegs als ein Attentat auf ihre Menschenwürde, wenn bei ernsten
Fällen in den untern Klassen der Rohrstock gebraucht wurde. Noch war das
Andenken an die Vorgänger des damaligen Rektors Theodor Döhner, an
Friedrich Palm und Rudolf Dietsch sehr lebendig; jener hatte das Gymnasium
durch das hohe Ansehen seiner energischen und bedeutenden Persönlichkeit aus
tiefem Verfall emporgehoben und zur Blüte gebracht, wenn auch seine streng
konservative und orthodoxe Gesinnung ihm manche Gegner erweckt hatte.
Dietsch genoß als Verfasser eines weitverbreiteten historischen Lehr- und Hand¬
buchs und als tüchtiger klassischer Philolog einen anerkannten wissenschaftlichen
Ruf und lebte daneben fort in zahlreichen wunderlichen Redensarten.

Unter den Lehrern war damals unzweifelhaft der bedeutendste Charakter¬
kopf Otto Hermann Gesstng, der erste Lehrer der Religion und des Deutschen,
ein geborner Dresdner, damals im Anfange der Sechzig (geb. 1809). Aus
einem mächtigen, fast kahlen Haupte, das er in der Schule und im Hause
mit einem hohen schwarzen Sammetkäppchen zu bedecken pflegte, und das mit
einem dichten weißen Rundbart umgeben war, schauten ein paar große blaue
Augen fest und gebieterisch auf die Schar seiner Schüler. Da war keiner, der
sich ihm gegenüber auch nur mit einer unehrerbietigem Geberde, geschweige
mit einem unpassenden Worte hervorgewagt Hütte. Denn er war nicht nur
ein ausgezeichneter Lehrer, der sogar der Logik ein lebendiges Interesse zu ver¬
leihen wußte, sondern er übte auch auf die Schüler einen außerordentlichen
sittlichen Einfluß, sowohl durch seine Stunden wie durch die wöchentliche Bibel¬
lektion, die er am Sonnabend nach dem Schlüsse des Unterrichts mit dem
ganzen Cötus abhielt, und durch die Andachten vor der gemeinsamen Abend-


<Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^370/?^

gebüßt hatte und jetzt ein anerkannter Führer der Liberalen war. Das Be¬
dürfnis nach politischer Belehrung befriedigte nach Kräften der Vogtländische
Anzeiger unter der Redaktion eines frühern Bürgerschullchrers Gunnel,
eines originellen Kauzes von derber Ehrlichkeit, der sich nie so recht zur An¬
erkennung des Norddeutschen Bundes entschließen konnte, aber in seiner Art
ein gut deutsch gesinnter Mann war und auf ausgedehnten Wanderungen
Land und Leute kennen gelernt hatte. Sehr anspruchslos war ein zweites
kleines Blatt, Der Vogtlünder.

Inmitten dieser Bevölkerung stand das Gymnasium, seit 1854 mit einer
zunächst sechsklassigen Realschule unter derselben Direktion und unter der ge¬
mischten königlich-städtischen Kollatur verbunden und in einem ziemlich neuen
Gebäude in der westlichen Vorstadt untergebracht, das in seiner hohen Lage
die Stadt und die Gegend weithin beherrschte. Die Doppelanstalt hatte damals
etwa dreihundert Schüler. Für vornehmer galt das Gymnasium, in das
auch die meisten Kaufherren und Fabrikanten ihre Söhne zu schicken pflegten.
Viele der Schüler stammten aus der Umgegend und aus sehr bescheidnen Ver¬
hältnissen, aber sie waren im ganzen gutartig und eifrig, betrachteten es auch
noch keineswegs als ein Attentat auf ihre Menschenwürde, wenn bei ernsten
Fällen in den untern Klassen der Rohrstock gebraucht wurde. Noch war das
Andenken an die Vorgänger des damaligen Rektors Theodor Döhner, an
Friedrich Palm und Rudolf Dietsch sehr lebendig; jener hatte das Gymnasium
durch das hohe Ansehen seiner energischen und bedeutenden Persönlichkeit aus
tiefem Verfall emporgehoben und zur Blüte gebracht, wenn auch seine streng
konservative und orthodoxe Gesinnung ihm manche Gegner erweckt hatte.
Dietsch genoß als Verfasser eines weitverbreiteten historischen Lehr- und Hand¬
buchs und als tüchtiger klassischer Philolog einen anerkannten wissenschaftlichen
Ruf und lebte daneben fort in zahlreichen wunderlichen Redensarten.

Unter den Lehrern war damals unzweifelhaft der bedeutendste Charakter¬
kopf Otto Hermann Gesstng, der erste Lehrer der Religion und des Deutschen,
ein geborner Dresdner, damals im Anfange der Sechzig (geb. 1809). Aus
einem mächtigen, fast kahlen Haupte, das er in der Schule und im Hause
mit einem hohen schwarzen Sammetkäppchen zu bedecken pflegte, und das mit
einem dichten weißen Rundbart umgeben war, schauten ein paar große blaue
Augen fest und gebieterisch auf die Schar seiner Schüler. Da war keiner, der
sich ihm gegenüber auch nur mit einer unehrerbietigem Geberde, geschweige
mit einem unpassenden Worte hervorgewagt Hütte. Denn er war nicht nur
ein ausgezeichneter Lehrer, der sogar der Logik ein lebendiges Interesse zu ver¬
leihen wußte, sondern er übte auch auf die Schüler einen außerordentlichen
sittlichen Einfluß, sowohl durch seine Stunden wie durch die wöchentliche Bibel¬
lektion, die er am Sonnabend nach dem Schlüsse des Unterrichts mit dem
ganzen Cötus abhielt, und durch die Andachten vor der gemeinsamen Abend-


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[0204] <Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^370/?^ gebüßt hatte und jetzt ein anerkannter Führer der Liberalen war. Das Be¬ dürfnis nach politischer Belehrung befriedigte nach Kräften der Vogtländische Anzeiger unter der Redaktion eines frühern Bürgerschullchrers Gunnel, eines originellen Kauzes von derber Ehrlichkeit, der sich nie so recht zur An¬ erkennung des Norddeutschen Bundes entschließen konnte, aber in seiner Art ein gut deutsch gesinnter Mann war und auf ausgedehnten Wanderungen Land und Leute kennen gelernt hatte. Sehr anspruchslos war ein zweites kleines Blatt, Der Vogtlünder. Inmitten dieser Bevölkerung stand das Gymnasium, seit 1854 mit einer zunächst sechsklassigen Realschule unter derselben Direktion und unter der ge¬ mischten königlich-städtischen Kollatur verbunden und in einem ziemlich neuen Gebäude in der westlichen Vorstadt untergebracht, das in seiner hohen Lage die Stadt und die Gegend weithin beherrschte. Die Doppelanstalt hatte damals etwa dreihundert Schüler. Für vornehmer galt das Gymnasium, in das auch die meisten Kaufherren und Fabrikanten ihre Söhne zu schicken pflegten. Viele der Schüler stammten aus der Umgegend und aus sehr bescheidnen Ver¬ hältnissen, aber sie waren im ganzen gutartig und eifrig, betrachteten es auch noch keineswegs als ein Attentat auf ihre Menschenwürde, wenn bei ernsten Fällen in den untern Klassen der Rohrstock gebraucht wurde. Noch war das Andenken an die Vorgänger des damaligen Rektors Theodor Döhner, an Friedrich Palm und Rudolf Dietsch sehr lebendig; jener hatte das Gymnasium durch das hohe Ansehen seiner energischen und bedeutenden Persönlichkeit aus tiefem Verfall emporgehoben und zur Blüte gebracht, wenn auch seine streng konservative und orthodoxe Gesinnung ihm manche Gegner erweckt hatte. Dietsch genoß als Verfasser eines weitverbreiteten historischen Lehr- und Hand¬ buchs und als tüchtiger klassischer Philolog einen anerkannten wissenschaftlichen Ruf und lebte daneben fort in zahlreichen wunderlichen Redensarten. Unter den Lehrern war damals unzweifelhaft der bedeutendste Charakter¬ kopf Otto Hermann Gesstng, der erste Lehrer der Religion und des Deutschen, ein geborner Dresdner, damals im Anfange der Sechzig (geb. 1809). Aus einem mächtigen, fast kahlen Haupte, das er in der Schule und im Hause mit einem hohen schwarzen Sammetkäppchen zu bedecken pflegte, und das mit einem dichten weißen Rundbart umgeben war, schauten ein paar große blaue Augen fest und gebieterisch auf die Schar seiner Schüler. Da war keiner, der sich ihm gegenüber auch nur mit einer unehrerbietigem Geberde, geschweige mit einem unpassenden Worte hervorgewagt Hütte. Denn er war nicht nur ein ausgezeichneter Lehrer, der sogar der Logik ein lebendiges Interesse zu ver¬ leihen wußte, sondern er übte auch auf die Schüler einen außerordentlichen sittlichen Einfluß, sowohl durch seine Stunden wie durch die wöchentliche Bibel¬ lektion, die er am Sonnabend nach dem Schlüsse des Unterrichts mit dem ganzen Cötus abhielt, und durch die Andachten vor der gemeinsamen Abend-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/204>, abgerufen am 28.07.2024.