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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Stenographie im Dienste der Shakespearekunde

geblich darüber nach, ob mir außer Camdens Geschichte Elisabeths noch ein
andrer guter Druck begegnet ist. Für gewöhnlich sind sie so fehlerhaft, daß
man in vielen Fällen zweifeln könnte, ob überhaupt eine Korrektur von dem
Verfasser oder einem gebildeten Stellvertreter gelesen worden ist. Welchen
Wert könnte die Folioausgabe der Shakespearischen Dramen haben, die doch
sicher auf Manuskripte von Shakespeare selbst oder auf Abschriften davon ge¬
gründet ist, wenn sie mit der heute üblichen Gewissenhaftigkeit gedruckt
worden wäre!

Daß auf diesem Wege auch nur eine erträgliche Tcxtausgabc hätte ge¬
liefert werden können, ist gänzlich ausgeschlossen. Die verschiednen Abstufungen
der Fehlerhaftigkeit sind vorzugsweise auf den Grad der Tüchtigkeit des Steno¬
graphen zurückzuführen. Die erste Quarto von "Hamlet" ist eine so entsetzliche
Verstümmlung des Dramas, daß sie von einem in jeder Beziehung unfähigen
Arbeiter herrühren muß; die zweite dagegen verhältnismäßig so vollkommen,
daß ihre Herstellung ausschließlich auf stenographischen Wege undenkbar ist.

Was also hat die wissenschaftliche, die historische Behandlung der Steno¬
graphie sür die Shakespearekunde geleistet?

Sie hat erstens nachgewiesen, daß es zu Shakespeares Zeit nicht bloß
eine Stenographie gab, was vorher schon bekannt war, sondern daß ihre Ver¬
wendung ungemein verbreitet war.

Sie hat ferner unwiderleglich festgestellt, daß die große Masse der Fehler
in den Quartoausgaben der Shakespearischen Dramen nicht durch Gedanken¬
losigkeit und Nachlässigkeit von Abschreibern, wie Delius will, sondern nur
durch die Unvollkommenheit der während der Aufführung angefertigten Steno¬
gramme zu erklären sind.

Sie hat damit drittens zur Gewißheit gemacht, was der Schöpfer des
Shakespearelexikous und der größte Shakespearephilolog, Alexander Schmidt,
schon vor zwei Jahrzehnten als eine unabweisbare Hypothese hingestellt hatte,
daß die meisten Quartausgaben auf stenographischen Wege entstanden sind,
nämlich alle, die gewisse nur durch unvollkommne stenographische Nachschriften
zu erklärende Arten von Fehlern aufweisen.

Sie hat das für verschollen gehaltne stenographische Shstem, wodurch die
Reden der Shakespearischen Truppe fixirt wurden, -- den vieljührigeu Gegen¬
stand unsrer sehnsüchtigen Wißbegierde -- aufgefunden. Und damit können die
Shalespearcforscher in eine neue Ära der Textkritik eintreten, insofern wenigstens,
als jetzt mit dem Handwerkszeuge dieses Systems der textkritische Wert jeder
einzelnen Quarto der Folio gegenüber festgestellt und ausgenutzt werden kann.

Schließlich hat sie durch ihre Entdeckung von vornherein die ungeheure
Überlegenheit des Textes der Folio so entstandnen Quartos gegenüber nach¬
gewiesen und so wiederum eine tcxtkritische These Alexander Schmidts gegen
seine Widersacher bestätigt.


Die Stenographie im Dienste der Shakespearekunde

geblich darüber nach, ob mir außer Camdens Geschichte Elisabeths noch ein
andrer guter Druck begegnet ist. Für gewöhnlich sind sie so fehlerhaft, daß
man in vielen Fällen zweifeln könnte, ob überhaupt eine Korrektur von dem
Verfasser oder einem gebildeten Stellvertreter gelesen worden ist. Welchen
Wert könnte die Folioausgabe der Shakespearischen Dramen haben, die doch
sicher auf Manuskripte von Shakespeare selbst oder auf Abschriften davon ge¬
gründet ist, wenn sie mit der heute üblichen Gewissenhaftigkeit gedruckt
worden wäre!

Daß auf diesem Wege auch nur eine erträgliche Tcxtausgabc hätte ge¬
liefert werden können, ist gänzlich ausgeschlossen. Die verschiednen Abstufungen
der Fehlerhaftigkeit sind vorzugsweise auf den Grad der Tüchtigkeit des Steno¬
graphen zurückzuführen. Die erste Quarto von „Hamlet" ist eine so entsetzliche
Verstümmlung des Dramas, daß sie von einem in jeder Beziehung unfähigen
Arbeiter herrühren muß; die zweite dagegen verhältnismäßig so vollkommen,
daß ihre Herstellung ausschließlich auf stenographischen Wege undenkbar ist.

Was also hat die wissenschaftliche, die historische Behandlung der Steno¬
graphie sür die Shakespearekunde geleistet?

Sie hat erstens nachgewiesen, daß es zu Shakespeares Zeit nicht bloß
eine Stenographie gab, was vorher schon bekannt war, sondern daß ihre Ver¬
wendung ungemein verbreitet war.

Sie hat ferner unwiderleglich festgestellt, daß die große Masse der Fehler
in den Quartoausgaben der Shakespearischen Dramen nicht durch Gedanken¬
losigkeit und Nachlässigkeit von Abschreibern, wie Delius will, sondern nur
durch die Unvollkommenheit der während der Aufführung angefertigten Steno¬
gramme zu erklären sind.

Sie hat damit drittens zur Gewißheit gemacht, was der Schöpfer des
Shakespearelexikous und der größte Shakespearephilolog, Alexander Schmidt,
schon vor zwei Jahrzehnten als eine unabweisbare Hypothese hingestellt hatte,
daß die meisten Quartausgaben auf stenographischen Wege entstanden sind,
nämlich alle, die gewisse nur durch unvollkommne stenographische Nachschriften
zu erklärende Arten von Fehlern aufweisen.

Sie hat das für verschollen gehaltne stenographische Shstem, wodurch die
Reden der Shakespearischen Truppe fixirt wurden, — den vieljührigeu Gegen¬
stand unsrer sehnsüchtigen Wißbegierde — aufgefunden. Und damit können die
Shalespearcforscher in eine neue Ära der Textkritik eintreten, insofern wenigstens,
als jetzt mit dem Handwerkszeuge dieses Systems der textkritische Wert jeder
einzelnen Quarto der Folio gegenüber festgestellt und ausgenutzt werden kann.

Schließlich hat sie durch ihre Entdeckung von vornherein die ungeheure
Überlegenheit des Textes der Folio so entstandnen Quartos gegenüber nach¬
gewiesen und so wiederum eine tcxtkritische These Alexander Schmidts gegen
seine Widersacher bestätigt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/128>, abgerufen am 01.09.2024.