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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Vie Stenographie im Dienste der Shakespearekunde

bei dem Stenographen eine Feinheit des Gehörs und eine anhaltende Schärfe
der Aufmerksamkeit erfordert haben, wie sie thatsächlich unerreichbar sind, zumal
Shakespeare manchmal die Verse beliebig verkürzt.

Daß zwei verschiedne Reden der Folio in der Quarto einer Person ge¬
geben, daß eine Reihe von Reden den unrechten Personen in den Mund gelegt
wurden, konnte bei der Kürze der Reden und dem schnellen Wechsel der Redenden
nur zu leicht geschehen.

Eine für uns sehr interessante Erscheinung, die auf einem andern Wege
als dem eiliger Nachschrift nach dem Gehör durchaus unerklärlich sein würde,
ist die, daß öfters anstatt des Namens der dramatischen Figur der Name des
Schauspielers, der die Rolle gab, vor die Rede gesetzt wird. Wenn eine neue
Person zu reden begann, so erinnerte sich der Stenograph oft nicht des
Namens, den er auf dein Theaterzettel gelesen hatte, hatte natürlich auch nicht
Zeit, nachzusehen, und so schrieb er den Namen des ihm bekannten Schau¬
spielers nieder, jedenfalls mit der Absicht, später den Rvllennamen einzusetzen.
Aber sei es, daß er etwas flüchtig bei der Abschrift des Stenogramms verfuhr,
sei es, daß er des Theaterzettels später nicht habhaft werden konnte, sei es
auch, daß der Abschreiber des Stenogramms eine andre Person als der Steno¬
graph war: der Name des Schauspielers blieb öfters stehen.

Stellen wir uns schließlich die zahlreichen Möglichkeiten der Verderbtheit
des Textes vor, die auf dem Wege stenographischer Nachschrift lagen. Es war
möglich, daß ein Schauspieler seine Rolle schlecht gelernt hatte, daß er Stellen,
ja ganze Sätze aus seinen Reden wegließ, andre vielleicht hinzufügte, daß er
einzelne Worte, die er vergessen hatte, in der Not des Augenblicks durch ihm
gerade einfallende, wenig passende ersetzte. Es war ferner möglich, daß gewisse
Schauspieler so undeutlich sprachen, daß ihre Reden von dem besten Steno¬
graphen nicht korrekt hätten wiedergegeben werden können. Rollen, die von
derartigen Schauspielern dargestellt wurden, konnten in dem Stenogramm nur
sehr unvollkommen wiedergegeben werden. Setzen wir den gewiß seltnen Fall
voraus, daß alle Schauspieler ihre Rollen vortrefflich gelernt hatten und ver¬
nehmlich sprachen, so hing die Güte des Stenogramms immer noch von der
Schnelligkeit der Auffassungsgabe, der Schärfe des Gehörs und der Voll¬
kommenheit der Technik ab, über die der Stenograph verfügte. Schließlich, nach
der Übertragung des Stenogramms in lateinische Schriftzeichen und englische
Wortbilder, die, wie wir gesehen haben, von dem Abschreiber die geistige
Findigkeit eines Übersetzers verlangte, kamen die Gefahren des Drucks: die
unklare Schrift des Manuskripts, die Beschränktheit und Unbildung, die
mangelhafte technische Fertigkeit der damaligen Setzer, und -- diesen Gefahren
gegenüber -- die Art des damaligen Korrekturlesens. Unter den Original¬
drucken jener Zeit, die ich in Händen gehabt habe, habe ich äußerst wenige
gefunden, die man als korrekt bezeichnen könnte; ich sinne augenblicklich ver-


Vie Stenographie im Dienste der Shakespearekunde

bei dem Stenographen eine Feinheit des Gehörs und eine anhaltende Schärfe
der Aufmerksamkeit erfordert haben, wie sie thatsächlich unerreichbar sind, zumal
Shakespeare manchmal die Verse beliebig verkürzt.

Daß zwei verschiedne Reden der Folio in der Quarto einer Person ge¬
geben, daß eine Reihe von Reden den unrechten Personen in den Mund gelegt
wurden, konnte bei der Kürze der Reden und dem schnellen Wechsel der Redenden
nur zu leicht geschehen.

Eine für uns sehr interessante Erscheinung, die auf einem andern Wege
als dem eiliger Nachschrift nach dem Gehör durchaus unerklärlich sein würde,
ist die, daß öfters anstatt des Namens der dramatischen Figur der Name des
Schauspielers, der die Rolle gab, vor die Rede gesetzt wird. Wenn eine neue
Person zu reden begann, so erinnerte sich der Stenograph oft nicht des
Namens, den er auf dein Theaterzettel gelesen hatte, hatte natürlich auch nicht
Zeit, nachzusehen, und so schrieb er den Namen des ihm bekannten Schau¬
spielers nieder, jedenfalls mit der Absicht, später den Rvllennamen einzusetzen.
Aber sei es, daß er etwas flüchtig bei der Abschrift des Stenogramms verfuhr,
sei es, daß er des Theaterzettels später nicht habhaft werden konnte, sei es
auch, daß der Abschreiber des Stenogramms eine andre Person als der Steno¬
graph war: der Name des Schauspielers blieb öfters stehen.

Stellen wir uns schließlich die zahlreichen Möglichkeiten der Verderbtheit
des Textes vor, die auf dem Wege stenographischer Nachschrift lagen. Es war
möglich, daß ein Schauspieler seine Rolle schlecht gelernt hatte, daß er Stellen,
ja ganze Sätze aus seinen Reden wegließ, andre vielleicht hinzufügte, daß er
einzelne Worte, die er vergessen hatte, in der Not des Augenblicks durch ihm
gerade einfallende, wenig passende ersetzte. Es war ferner möglich, daß gewisse
Schauspieler so undeutlich sprachen, daß ihre Reden von dem besten Steno¬
graphen nicht korrekt hätten wiedergegeben werden können. Rollen, die von
derartigen Schauspielern dargestellt wurden, konnten in dem Stenogramm nur
sehr unvollkommen wiedergegeben werden. Setzen wir den gewiß seltnen Fall
voraus, daß alle Schauspieler ihre Rollen vortrefflich gelernt hatten und ver¬
nehmlich sprachen, so hing die Güte des Stenogramms immer noch von der
Schnelligkeit der Auffassungsgabe, der Schärfe des Gehörs und der Voll¬
kommenheit der Technik ab, über die der Stenograph verfügte. Schließlich, nach
der Übertragung des Stenogramms in lateinische Schriftzeichen und englische
Wortbilder, die, wie wir gesehen haben, von dem Abschreiber die geistige
Findigkeit eines Übersetzers verlangte, kamen die Gefahren des Drucks: die
unklare Schrift des Manuskripts, die Beschränktheit und Unbildung, die
mangelhafte technische Fertigkeit der damaligen Setzer, und — diesen Gefahren
gegenüber — die Art des damaligen Korrekturlesens. Unter den Original¬
drucken jener Zeit, die ich in Händen gehabt habe, habe ich äußerst wenige
gefunden, die man als korrekt bezeichnen könnte; ich sinne augenblicklich ver-


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[0127] Vie Stenographie im Dienste der Shakespearekunde bei dem Stenographen eine Feinheit des Gehörs und eine anhaltende Schärfe der Aufmerksamkeit erfordert haben, wie sie thatsächlich unerreichbar sind, zumal Shakespeare manchmal die Verse beliebig verkürzt. Daß zwei verschiedne Reden der Folio in der Quarto einer Person ge¬ geben, daß eine Reihe von Reden den unrechten Personen in den Mund gelegt wurden, konnte bei der Kürze der Reden und dem schnellen Wechsel der Redenden nur zu leicht geschehen. Eine für uns sehr interessante Erscheinung, die auf einem andern Wege als dem eiliger Nachschrift nach dem Gehör durchaus unerklärlich sein würde, ist die, daß öfters anstatt des Namens der dramatischen Figur der Name des Schauspielers, der die Rolle gab, vor die Rede gesetzt wird. Wenn eine neue Person zu reden begann, so erinnerte sich der Stenograph oft nicht des Namens, den er auf dein Theaterzettel gelesen hatte, hatte natürlich auch nicht Zeit, nachzusehen, und so schrieb er den Namen des ihm bekannten Schau¬ spielers nieder, jedenfalls mit der Absicht, später den Rvllennamen einzusetzen. Aber sei es, daß er etwas flüchtig bei der Abschrift des Stenogramms verfuhr, sei es, daß er des Theaterzettels später nicht habhaft werden konnte, sei es auch, daß der Abschreiber des Stenogramms eine andre Person als der Steno¬ graph war: der Name des Schauspielers blieb öfters stehen. Stellen wir uns schließlich die zahlreichen Möglichkeiten der Verderbtheit des Textes vor, die auf dem Wege stenographischer Nachschrift lagen. Es war möglich, daß ein Schauspieler seine Rolle schlecht gelernt hatte, daß er Stellen, ja ganze Sätze aus seinen Reden wegließ, andre vielleicht hinzufügte, daß er einzelne Worte, die er vergessen hatte, in der Not des Augenblicks durch ihm gerade einfallende, wenig passende ersetzte. Es war ferner möglich, daß gewisse Schauspieler so undeutlich sprachen, daß ihre Reden von dem besten Steno¬ graphen nicht korrekt hätten wiedergegeben werden können. Rollen, die von derartigen Schauspielern dargestellt wurden, konnten in dem Stenogramm nur sehr unvollkommen wiedergegeben werden. Setzen wir den gewiß seltnen Fall voraus, daß alle Schauspieler ihre Rollen vortrefflich gelernt hatten und ver¬ nehmlich sprachen, so hing die Güte des Stenogramms immer noch von der Schnelligkeit der Auffassungsgabe, der Schärfe des Gehörs und der Voll¬ kommenheit der Technik ab, über die der Stenograph verfügte. Schließlich, nach der Übertragung des Stenogramms in lateinische Schriftzeichen und englische Wortbilder, die, wie wir gesehen haben, von dem Abschreiber die geistige Findigkeit eines Übersetzers verlangte, kamen die Gefahren des Drucks: die unklare Schrift des Manuskripts, die Beschränktheit und Unbildung, die mangelhafte technische Fertigkeit der damaligen Setzer, und — diesen Gefahren gegenüber — die Art des damaligen Korrekturlesens. Unter den Original¬ drucken jener Zeit, die ich in Händen gehabt habe, habe ich äußerst wenige gefunden, die man als korrekt bezeichnen könnte; ich sinne augenblicklich ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/127>, abgerufen am 28.07.2024.