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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Stenographie im Dienste der Shakespearekunde

-- schrägen oder wagerechten -- Strichen oder verschiedenartigen Häkchen und
Bogen an der Spitze. Jeder dieser Anfangsbuchstaben konnte 12 verschiedne
Zeichen dieser Art auch am Fußende haben, er konnte senkrecht oder liegend,
rechts oder links schräg gestellt werden, konnte somit je nach seinem Fußzeichen
und seiner Stellung 48 verschiedne Wörter bezeichnen, sodaß Bright 864 ver¬
schiedne Wortzeichen hätte verwenden können -- er brauchte aber nur 556.

Wie aber war es möglich, mit 556 Zeichen auszukommen bei der Nach¬
schrift shakespearischer Dramen, die den ungeheuern Reichtum von 20000
Wörtern in sich fassen? Das geschah folgendermaßen: Ein Wortzeichen be¬
zeichnete zwar ein einzelnes, bestimmtes Wort, aber es bezeichnete zugleich jedes
Synonhmum, wenn man den stenographischen Anfangsbuchstaben des betref¬
fenden gleichbedeutenden Wortes davorsetzte, und jedes das Gegenteil bezeichnende
Wort, wenn man den Anfangsbuchstaben dieses dahinter setzte. Es gab z. B.
ein Zeichen für "hoch"; wollte man "erhaben" ausdrücken, so setzte man das
Zeichen für e davor; wollte man "niedrig" ausdrücken, so nahm man das
nämliche Wortbild und setzte das Zeichen für n dahinter. Übrigens ging die
Gleichmäßigkeit der Bezeichnung über die gleichbedeutenden Wörter weit hinaus;
Bright hatte für ganze Gattungen nur ein Zeichen und unterschied die Arten
bloß durch Vorsetzung des betreffenden Anfangsbuchstaben. Alle Vaumarteu
bezeichnete er mit dem "Baum"zeichen; wollte er um "Eiche" darstelle", so
setzte er vor das "Baum"zeichen ein e. Aber "Esche," "Erle" konnten auch
nicht anders bezeichnet werden; der Abschreiber hatte also bei diesem einen
Zeichen zwischen allen Bäumen, die mit e begannen, zu wählen. Bright hatte
nur ein Zeichen sür "vierfüßiges Tier"; wollte er "Hund" darstellen, so setzte
er ein h davor; aber "Hase" fängt auch mit h an. Zu Irrtümern konnte
auch unzähligemal die sehr mangelhafte Bezeichnung der Flexion führen. Ein
Punkt hinter dem Wortbilde bezeichnete den Plural; "Menschen sterben" konnte
also nicht von "Menschen, sterbt!" unterschieden werden. Ein Punkt vor einem
Verbum setzte es ins Imperfectum, zwei Punkte dahinter bezeichneten das
Partizip eine Durchkreuzung des Substantiv- oder Vcrbalzeichens zeigte die
negativ" an.

Durch die Annahme, daß die meisten Quartausgaben der Shakespearischen
Dramen aus Stenogrammen nach dem Brightschen System herrühren, die
während der Aufführung angefertigt wurden, lassen sich die Fehler dieser Aus¬
gaben zum großen Teil erklären. Große Schwierigkeit hat den Herausgebern
die Erscheinung gemacht, daß sich in den Quartos an vielen Stellen Ausdrücke
finden, die von denen der Folio, die zweifellos die authentischere Ausgabe,
aber leider durchaus kein Muster von Korrektheit ist, verschieden sind. Mitunter
sind beide Worte ganz gleichwertig, und man begreift nicht, warum der Quarto¬
herausgeber oder die Folioherausgeber (oder der Dichter) die Thorheit einer
solchen Änderung begangen hat. Ein andermal ist der Ausdruck der Quarto


Die Stenographie im Dienste der Shakespearekunde

— schrägen oder wagerechten — Strichen oder verschiedenartigen Häkchen und
Bogen an der Spitze. Jeder dieser Anfangsbuchstaben konnte 12 verschiedne
Zeichen dieser Art auch am Fußende haben, er konnte senkrecht oder liegend,
rechts oder links schräg gestellt werden, konnte somit je nach seinem Fußzeichen
und seiner Stellung 48 verschiedne Wörter bezeichnen, sodaß Bright 864 ver¬
schiedne Wortzeichen hätte verwenden können — er brauchte aber nur 556.

Wie aber war es möglich, mit 556 Zeichen auszukommen bei der Nach¬
schrift shakespearischer Dramen, die den ungeheuern Reichtum von 20000
Wörtern in sich fassen? Das geschah folgendermaßen: Ein Wortzeichen be¬
zeichnete zwar ein einzelnes, bestimmtes Wort, aber es bezeichnete zugleich jedes
Synonhmum, wenn man den stenographischen Anfangsbuchstaben des betref¬
fenden gleichbedeutenden Wortes davorsetzte, und jedes das Gegenteil bezeichnende
Wort, wenn man den Anfangsbuchstaben dieses dahinter setzte. Es gab z. B.
ein Zeichen für „hoch"; wollte man „erhaben" ausdrücken, so setzte man das
Zeichen für e davor; wollte man „niedrig" ausdrücken, so nahm man das
nämliche Wortbild und setzte das Zeichen für n dahinter. Übrigens ging die
Gleichmäßigkeit der Bezeichnung über die gleichbedeutenden Wörter weit hinaus;
Bright hatte für ganze Gattungen nur ein Zeichen und unterschied die Arten
bloß durch Vorsetzung des betreffenden Anfangsbuchstaben. Alle Vaumarteu
bezeichnete er mit dem „Baum"zeichen; wollte er um „Eiche" darstelle», so
setzte er vor das „Baum"zeichen ein e. Aber „Esche," „Erle" konnten auch
nicht anders bezeichnet werden; der Abschreiber hatte also bei diesem einen
Zeichen zwischen allen Bäumen, die mit e begannen, zu wählen. Bright hatte
nur ein Zeichen sür „vierfüßiges Tier"; wollte er „Hund" darstellen, so setzte
er ein h davor; aber „Hase" fängt auch mit h an. Zu Irrtümern konnte
auch unzähligemal die sehr mangelhafte Bezeichnung der Flexion führen. Ein
Punkt hinter dem Wortbilde bezeichnete den Plural; „Menschen sterben" konnte
also nicht von „Menschen, sterbt!" unterschieden werden. Ein Punkt vor einem
Verbum setzte es ins Imperfectum, zwei Punkte dahinter bezeichneten das
Partizip eine Durchkreuzung des Substantiv- oder Vcrbalzeichens zeigte die
negativ» an.

Durch die Annahme, daß die meisten Quartausgaben der Shakespearischen
Dramen aus Stenogrammen nach dem Brightschen System herrühren, die
während der Aufführung angefertigt wurden, lassen sich die Fehler dieser Aus¬
gaben zum großen Teil erklären. Große Schwierigkeit hat den Herausgebern
die Erscheinung gemacht, daß sich in den Quartos an vielen Stellen Ausdrücke
finden, die von denen der Folio, die zweifellos die authentischere Ausgabe,
aber leider durchaus kein Muster von Korrektheit ist, verschieden sind. Mitunter
sind beide Worte ganz gleichwertig, und man begreift nicht, warum der Quarto¬
herausgeber oder die Folioherausgeber (oder der Dichter) die Thorheit einer
solchen Änderung begangen hat. Ein andermal ist der Ausdruck der Quarto


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[0125] Die Stenographie im Dienste der Shakespearekunde — schrägen oder wagerechten — Strichen oder verschiedenartigen Häkchen und Bogen an der Spitze. Jeder dieser Anfangsbuchstaben konnte 12 verschiedne Zeichen dieser Art auch am Fußende haben, er konnte senkrecht oder liegend, rechts oder links schräg gestellt werden, konnte somit je nach seinem Fußzeichen und seiner Stellung 48 verschiedne Wörter bezeichnen, sodaß Bright 864 ver¬ schiedne Wortzeichen hätte verwenden können — er brauchte aber nur 556. Wie aber war es möglich, mit 556 Zeichen auszukommen bei der Nach¬ schrift shakespearischer Dramen, die den ungeheuern Reichtum von 20000 Wörtern in sich fassen? Das geschah folgendermaßen: Ein Wortzeichen be¬ zeichnete zwar ein einzelnes, bestimmtes Wort, aber es bezeichnete zugleich jedes Synonhmum, wenn man den stenographischen Anfangsbuchstaben des betref¬ fenden gleichbedeutenden Wortes davorsetzte, und jedes das Gegenteil bezeichnende Wort, wenn man den Anfangsbuchstaben dieses dahinter setzte. Es gab z. B. ein Zeichen für „hoch"; wollte man „erhaben" ausdrücken, so setzte man das Zeichen für e davor; wollte man „niedrig" ausdrücken, so nahm man das nämliche Wortbild und setzte das Zeichen für n dahinter. Übrigens ging die Gleichmäßigkeit der Bezeichnung über die gleichbedeutenden Wörter weit hinaus; Bright hatte für ganze Gattungen nur ein Zeichen und unterschied die Arten bloß durch Vorsetzung des betreffenden Anfangsbuchstaben. Alle Vaumarteu bezeichnete er mit dem „Baum"zeichen; wollte er um „Eiche" darstelle», so setzte er vor das „Baum"zeichen ein e. Aber „Esche," „Erle" konnten auch nicht anders bezeichnet werden; der Abschreiber hatte also bei diesem einen Zeichen zwischen allen Bäumen, die mit e begannen, zu wählen. Bright hatte nur ein Zeichen sür „vierfüßiges Tier"; wollte er „Hund" darstellen, so setzte er ein h davor; aber „Hase" fängt auch mit h an. Zu Irrtümern konnte auch unzähligemal die sehr mangelhafte Bezeichnung der Flexion führen. Ein Punkt hinter dem Wortbilde bezeichnete den Plural; „Menschen sterben" konnte also nicht von „Menschen, sterbt!" unterschieden werden. Ein Punkt vor einem Verbum setzte es ins Imperfectum, zwei Punkte dahinter bezeichneten das Partizip eine Durchkreuzung des Substantiv- oder Vcrbalzeichens zeigte die negativ» an. Durch die Annahme, daß die meisten Quartausgaben der Shakespearischen Dramen aus Stenogrammen nach dem Brightschen System herrühren, die während der Aufführung angefertigt wurden, lassen sich die Fehler dieser Aus¬ gaben zum großen Teil erklären. Große Schwierigkeit hat den Herausgebern die Erscheinung gemacht, daß sich in den Quartos an vielen Stellen Ausdrücke finden, die von denen der Folio, die zweifellos die authentischere Ausgabe, aber leider durchaus kein Muster von Korrektheit ist, verschieden sind. Mitunter sind beide Worte ganz gleichwertig, und man begreift nicht, warum der Quarto¬ herausgeber oder die Folioherausgeber (oder der Dichter) die Thorheit einer solchen Änderung begangen hat. Ein andermal ist der Ausdruck der Quarto

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/125>, abgerufen am 28.07.2024.