Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus unsrer Gstmark

zurenken und das preußische Beamtentum bei dem dort allmächtigen polnischen
Adel wieder in Achtung zu bringen. Die Aufgabe war nicht leicht. Der Vor¬
gänger war ein Vertreter des -- ehedem -- in den polnischen Landesteilen
nicht eben seltnen Typus preußischer Beamten gewesen, die das Prinzip
möglichst unbegrenzter konniventer Liebenswürdigkeit gegen die "armen und
unterdrückten Polen" befolgten und dabei, sei es Ungarwein pokulirend oder
dem Kartenspiel frommt oder den pikanten Reizen der scirmatischen Schönen
huldigend, Autorität, Nationalität, Glauben und manchmal auch Gewissen ein¬
büßten. Doch der neue Herr Landrat, des altgriechischen Spruches "Sei
nüchtern und mißtrauisch" eingedenk, löste seine Aufgabe in dem elenden und
von Gott verlassenen Neste, der Kreishauptstadt, ebensosehr zur Zufriedenheit
der vorgesetzten Behörde wie zur Unzufriedenheit der polnischen Kreisinsassen.
Indem er entschieden und besonnen seine Integrität und die Formen der guten
Gesellschaft wahrte, setzte er sich in Respekt und Furcht und war dann den
Stürmen der Jahre 1846/48 gewachsen, wo die Beamten an so vielen Orten
den Kopf und die Zügel aus den Händen verloren, wo der Staat in seinen
Grundfesten erschüttert, zeitweilig in die Gefahr kam, einer für die Existenz des
preußischen Staates notwendigen Provinz verlustig zu gehen, die mit Strömen
deutschen Bluts erkauft worden war, als sich, auf den Schlachtfeldern von
Leipzig und Waterloo Europas Geschicke neu gestalteten.

Für jede" Leser, nicht bloß für den Kenner des damaligen Tohuwabohu
im "Grvßherzogtum" (so nannten die Polen und ihnen nachäffend die biedern
Dentschen die Provinz Posen) und der Unsumme von Unverstand, Unfähigkeit,
Mutlosigkeit und Würdelosigkeit, die sich die Regierenden damals noch öfter
als die Regierten gestatteten, wird es ein Vergnügen sein, aus der Darstellung
des Verfassers zu ersehen, wie tapfer und klug er sein kleines Reich und den
nördlichen Distrikt des wochenlang durch die polnischen Insurgenten besetzten
Nachbarkreises Obornik zu schützen und zu verteidigen gewußt hat. Und das
zunächst ohne Truppen, dann nur zeitweise von fliegenden Kolonnen unterstützt,
auf wenige Gendarmen und die schnell und schlecht bewaffneten Bauern von
jenseits des breiten, schwer Passirbaren Netzebruchs angewiesen- Schon in
Friedenszeiten war sein Amt eine schwere Bürde gewesen. Der -- heute
übrigens geteilte -- Kreis Czarnikau war annähernd dreißig Quadratmeilen
groß, langgedehnt und in seiner ganzen Länge von der Netze, mit nur drei
Flußübergüngen, durchschnitten. In der nordwestlichen Ecke der Provinz Posen
gelegen, einst pommersches Land, dann durch das Glück der Waffen den Polen
zugefallen, wies er in seiner nördlichen und westlichen Hälfte eine Reihe wohl¬
habender deutscher Bauerndörfer auf, die ihren Ursprung teilweise bis in das
Reformationszeitalter zurückführen können und mit Zähigkeit die Drangsale
religiöser und nationaler Verfolgung während zweier Jahrhunderte bis zu den
Tagen der Erlösung durch Friedrich deu Großen überdauert haben, heute aber
schon vielfach mit zugewanderten Polen durchsetzt sind. In seinem östlichen


Aus unsrer Gstmark

zurenken und das preußische Beamtentum bei dem dort allmächtigen polnischen
Adel wieder in Achtung zu bringen. Die Aufgabe war nicht leicht. Der Vor¬
gänger war ein Vertreter des — ehedem — in den polnischen Landesteilen
nicht eben seltnen Typus preußischer Beamten gewesen, die das Prinzip
möglichst unbegrenzter konniventer Liebenswürdigkeit gegen die „armen und
unterdrückten Polen" befolgten und dabei, sei es Ungarwein pokulirend oder
dem Kartenspiel frommt oder den pikanten Reizen der scirmatischen Schönen
huldigend, Autorität, Nationalität, Glauben und manchmal auch Gewissen ein¬
büßten. Doch der neue Herr Landrat, des altgriechischen Spruches „Sei
nüchtern und mißtrauisch" eingedenk, löste seine Aufgabe in dem elenden und
von Gott verlassenen Neste, der Kreishauptstadt, ebensosehr zur Zufriedenheit
der vorgesetzten Behörde wie zur Unzufriedenheit der polnischen Kreisinsassen.
Indem er entschieden und besonnen seine Integrität und die Formen der guten
Gesellschaft wahrte, setzte er sich in Respekt und Furcht und war dann den
Stürmen der Jahre 1846/48 gewachsen, wo die Beamten an so vielen Orten
den Kopf und die Zügel aus den Händen verloren, wo der Staat in seinen
Grundfesten erschüttert, zeitweilig in die Gefahr kam, einer für die Existenz des
preußischen Staates notwendigen Provinz verlustig zu gehen, die mit Strömen
deutschen Bluts erkauft worden war, als sich, auf den Schlachtfeldern von
Leipzig und Waterloo Europas Geschicke neu gestalteten.

Für jede» Leser, nicht bloß für den Kenner des damaligen Tohuwabohu
im „Grvßherzogtum" (so nannten die Polen und ihnen nachäffend die biedern
Dentschen die Provinz Posen) und der Unsumme von Unverstand, Unfähigkeit,
Mutlosigkeit und Würdelosigkeit, die sich die Regierenden damals noch öfter
als die Regierten gestatteten, wird es ein Vergnügen sein, aus der Darstellung
des Verfassers zu ersehen, wie tapfer und klug er sein kleines Reich und den
nördlichen Distrikt des wochenlang durch die polnischen Insurgenten besetzten
Nachbarkreises Obornik zu schützen und zu verteidigen gewußt hat. Und das
zunächst ohne Truppen, dann nur zeitweise von fliegenden Kolonnen unterstützt,
auf wenige Gendarmen und die schnell und schlecht bewaffneten Bauern von
jenseits des breiten, schwer Passirbaren Netzebruchs angewiesen- Schon in
Friedenszeiten war sein Amt eine schwere Bürde gewesen. Der — heute
übrigens geteilte — Kreis Czarnikau war annähernd dreißig Quadratmeilen
groß, langgedehnt und in seiner ganzen Länge von der Netze, mit nur drei
Flußübergüngen, durchschnitten. In der nordwestlichen Ecke der Provinz Posen
gelegen, einst pommersches Land, dann durch das Glück der Waffen den Polen
zugefallen, wies er in seiner nördlichen und westlichen Hälfte eine Reihe wohl¬
habender deutscher Bauerndörfer auf, die ihren Ursprung teilweise bis in das
Reformationszeitalter zurückführen können und mit Zähigkeit die Drangsale
religiöser und nationaler Verfolgung während zweier Jahrhunderte bis zu den
Tagen der Erlösung durch Friedrich deu Großen überdauert haben, heute aber
schon vielfach mit zugewanderten Polen durchsetzt sind. In seinem östlichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0106" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228408"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus unsrer Gstmark</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_327" prev="#ID_326"> zurenken und das preußische Beamtentum bei dem dort allmächtigen polnischen<lb/>
Adel wieder in Achtung zu bringen. Die Aufgabe war nicht leicht. Der Vor¬<lb/>
gänger war ein Vertreter des &#x2014; ehedem &#x2014; in den polnischen Landesteilen<lb/>
nicht eben seltnen Typus preußischer Beamten gewesen, die das Prinzip<lb/>
möglichst unbegrenzter konniventer Liebenswürdigkeit gegen die &#x201E;armen und<lb/>
unterdrückten Polen" befolgten und dabei, sei es Ungarwein pokulirend oder<lb/>
dem Kartenspiel frommt oder den pikanten Reizen der scirmatischen Schönen<lb/>
huldigend, Autorität, Nationalität, Glauben und manchmal auch Gewissen ein¬<lb/>
büßten. Doch der neue Herr Landrat, des altgriechischen Spruches &#x201E;Sei<lb/>
nüchtern und mißtrauisch" eingedenk, löste seine Aufgabe in dem elenden und<lb/>
von Gott verlassenen Neste, der Kreishauptstadt, ebensosehr zur Zufriedenheit<lb/>
der vorgesetzten Behörde wie zur Unzufriedenheit der polnischen Kreisinsassen.<lb/>
Indem er entschieden und besonnen seine Integrität und die Formen der guten<lb/>
Gesellschaft wahrte, setzte er sich in Respekt und Furcht und war dann den<lb/>
Stürmen der Jahre 1846/48 gewachsen, wo die Beamten an so vielen Orten<lb/>
den Kopf und die Zügel aus den Händen verloren, wo der Staat in seinen<lb/>
Grundfesten erschüttert, zeitweilig in die Gefahr kam, einer für die Existenz des<lb/>
preußischen Staates notwendigen Provinz verlustig zu gehen, die mit Strömen<lb/>
deutschen Bluts erkauft worden war, als sich, auf den Schlachtfeldern von<lb/>
Leipzig und Waterloo Europas Geschicke neu gestalteten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_328" next="#ID_329"> Für jede» Leser, nicht bloß für den Kenner des damaligen Tohuwabohu<lb/>
im &#x201E;Grvßherzogtum" (so nannten die Polen und ihnen nachäffend die biedern<lb/>
Dentschen die Provinz Posen) und der Unsumme von Unverstand, Unfähigkeit,<lb/>
Mutlosigkeit und Würdelosigkeit, die sich die Regierenden damals noch öfter<lb/>
als die Regierten gestatteten, wird es ein Vergnügen sein, aus der Darstellung<lb/>
des Verfassers zu ersehen, wie tapfer und klug er sein kleines Reich und den<lb/>
nördlichen Distrikt des wochenlang durch die polnischen Insurgenten besetzten<lb/>
Nachbarkreises Obornik zu schützen und zu verteidigen gewußt hat. Und das<lb/>
zunächst ohne Truppen, dann nur zeitweise von fliegenden Kolonnen unterstützt,<lb/>
auf wenige Gendarmen und die schnell und schlecht bewaffneten Bauern von<lb/>
jenseits des breiten, schwer Passirbaren Netzebruchs angewiesen- Schon in<lb/>
Friedenszeiten war sein Amt eine schwere Bürde gewesen. Der &#x2014; heute<lb/>
übrigens geteilte &#x2014; Kreis Czarnikau war annähernd dreißig Quadratmeilen<lb/>
groß, langgedehnt und in seiner ganzen Länge von der Netze, mit nur drei<lb/>
Flußübergüngen, durchschnitten. In der nordwestlichen Ecke der Provinz Posen<lb/>
gelegen, einst pommersches Land, dann durch das Glück der Waffen den Polen<lb/>
zugefallen, wies er in seiner nördlichen und westlichen Hälfte eine Reihe wohl¬<lb/>
habender deutscher Bauerndörfer auf, die ihren Ursprung teilweise bis in das<lb/>
Reformationszeitalter zurückführen können und mit Zähigkeit die Drangsale<lb/>
religiöser und nationaler Verfolgung während zweier Jahrhunderte bis zu den<lb/>
Tagen der Erlösung durch Friedrich deu Großen überdauert haben, heute aber<lb/>
schon vielfach mit zugewanderten Polen durchsetzt sind.  In seinem östlichen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0106] Aus unsrer Gstmark zurenken und das preußische Beamtentum bei dem dort allmächtigen polnischen Adel wieder in Achtung zu bringen. Die Aufgabe war nicht leicht. Der Vor¬ gänger war ein Vertreter des — ehedem — in den polnischen Landesteilen nicht eben seltnen Typus preußischer Beamten gewesen, die das Prinzip möglichst unbegrenzter konniventer Liebenswürdigkeit gegen die „armen und unterdrückten Polen" befolgten und dabei, sei es Ungarwein pokulirend oder dem Kartenspiel frommt oder den pikanten Reizen der scirmatischen Schönen huldigend, Autorität, Nationalität, Glauben und manchmal auch Gewissen ein¬ büßten. Doch der neue Herr Landrat, des altgriechischen Spruches „Sei nüchtern und mißtrauisch" eingedenk, löste seine Aufgabe in dem elenden und von Gott verlassenen Neste, der Kreishauptstadt, ebensosehr zur Zufriedenheit der vorgesetzten Behörde wie zur Unzufriedenheit der polnischen Kreisinsassen. Indem er entschieden und besonnen seine Integrität und die Formen der guten Gesellschaft wahrte, setzte er sich in Respekt und Furcht und war dann den Stürmen der Jahre 1846/48 gewachsen, wo die Beamten an so vielen Orten den Kopf und die Zügel aus den Händen verloren, wo der Staat in seinen Grundfesten erschüttert, zeitweilig in die Gefahr kam, einer für die Existenz des preußischen Staates notwendigen Provinz verlustig zu gehen, die mit Strömen deutschen Bluts erkauft worden war, als sich, auf den Schlachtfeldern von Leipzig und Waterloo Europas Geschicke neu gestalteten. Für jede» Leser, nicht bloß für den Kenner des damaligen Tohuwabohu im „Grvßherzogtum" (so nannten die Polen und ihnen nachäffend die biedern Dentschen die Provinz Posen) und der Unsumme von Unverstand, Unfähigkeit, Mutlosigkeit und Würdelosigkeit, die sich die Regierenden damals noch öfter als die Regierten gestatteten, wird es ein Vergnügen sein, aus der Darstellung des Verfassers zu ersehen, wie tapfer und klug er sein kleines Reich und den nördlichen Distrikt des wochenlang durch die polnischen Insurgenten besetzten Nachbarkreises Obornik zu schützen und zu verteidigen gewußt hat. Und das zunächst ohne Truppen, dann nur zeitweise von fliegenden Kolonnen unterstützt, auf wenige Gendarmen und die schnell und schlecht bewaffneten Bauern von jenseits des breiten, schwer Passirbaren Netzebruchs angewiesen- Schon in Friedenszeiten war sein Amt eine schwere Bürde gewesen. Der — heute übrigens geteilte — Kreis Czarnikau war annähernd dreißig Quadratmeilen groß, langgedehnt und in seiner ganzen Länge von der Netze, mit nur drei Flußübergüngen, durchschnitten. In der nordwestlichen Ecke der Provinz Posen gelegen, einst pommersches Land, dann durch das Glück der Waffen den Polen zugefallen, wies er in seiner nördlichen und westlichen Hälfte eine Reihe wohl¬ habender deutscher Bauerndörfer auf, die ihren Ursprung teilweise bis in das Reformationszeitalter zurückführen können und mit Zähigkeit die Drangsale religiöser und nationaler Verfolgung während zweier Jahrhunderte bis zu den Tagen der Erlösung durch Friedrich deu Großen überdauert haben, heute aber schon vielfach mit zugewanderten Polen durchsetzt sind. In seinem östlichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/106
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/106>, abgerufen am 27.07.2024.