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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die bildenden Künste und die natürlichen Bodenverhältnisse

lockerer. Auch diese machte sich zuerst diesseits der Berge selbständig. Das
enge Beieinanderwohnen, das fast ausschließliche Leben im Hause ließ dies
wertvoll, eine Hauptguelle des Behagens werden -- was Wunder, wenn die
Maler ihren Blick mit liebevoller Beobachtung auf dem vielen Kleinen und doch
so wunderlich Wertvollen des alltäglichen Daseins ruhen ließen und es mit
Farbe und Pinsel gestalteten? Von hier, vom Norden, wo das Klima seinen
Zwang ausübte, begann das Genre seinen Siegeszug; und heute herrscht es
fast überall, nachdem auch auf diesem Felde der Südländer von dem Kollegen
aus dem rauhen Schneelande gelernt hat. Denn das Gebiet des Südländers
ist das Schildern panathenäischer Festzuge, der Triumphe vou Feldherrn oder
von Dichtern, das Malen der großen historischen Ereignisse. Dann ist der
südländische Maler auf seinen von den natürlichen Bodenverhältnissen be-
günstigtstcn Gebieten. Auf dem Markte, auf dem Kapitol, inmitten seiner
Mitbürger unter freiem Himmel, vor Aller Augen zu sprechen, zu Handel",
mit einem Worte "zu leben": das ist seine Welt. Deshalb ist das religiöse
und profane Historienbild, frisch und flott in mächtigen Dimensionen auf die
Wand gezaubert, der natürliche Tummelplatz des südlichen Meisters, wie der
vom Halbdunkel märchenhaft umdämmerte Wald und das von tiefer Herzens¬
religion, von zartem, weichem Liebesleben durchzitterte Alltagsdasein das
eigentliche Stoffgebiet des nordischen Künstlers ist.

So sicher wir überzeugt sind, daß die natürlichen Bodenverhältnisse im
engern Sinn auf die Entstehung und Entwicklung der bildenden Künste intensiv
eingewirkt haben und noch einwirken, so wollen wir doch am Schluß unsrer
Betrachtung betonen, daß ihr Einfluß nur mitbestimmend ist. Ihnen zur
Seite stehen der Mensch, der Staat, die Kultur. Die Thätigkeit, die der
Staat hinsichtlich der Kunst auszuüben hat, ist niemals hurtiger und treffender
formulirt worden als von Treitschke, dessen Worte unsre Abhandlung ab¬
schließen mögen. "Es ist auch eine rohe und barbarische Anschauung, wenn
man die Kunstpflege des Staates als Luxus auffaßt. Die Kunst ist dem
Menschen so nötig wie das tägliche Brot. Wir würden aufhören das Volk
zu sein, das wir sind, ohne diese Geistesthätigkeit; und der Staat ist da, um
der Kunst große, monumentale Ausgaben zu setzen."




Die bildenden Künste und die natürlichen Bodenverhältnisse

lockerer. Auch diese machte sich zuerst diesseits der Berge selbständig. Das
enge Beieinanderwohnen, das fast ausschließliche Leben im Hause ließ dies
wertvoll, eine Hauptguelle des Behagens werden — was Wunder, wenn die
Maler ihren Blick mit liebevoller Beobachtung auf dem vielen Kleinen und doch
so wunderlich Wertvollen des alltäglichen Daseins ruhen ließen und es mit
Farbe und Pinsel gestalteten? Von hier, vom Norden, wo das Klima seinen
Zwang ausübte, begann das Genre seinen Siegeszug; und heute herrscht es
fast überall, nachdem auch auf diesem Felde der Südländer von dem Kollegen
aus dem rauhen Schneelande gelernt hat. Denn das Gebiet des Südländers
ist das Schildern panathenäischer Festzuge, der Triumphe vou Feldherrn oder
von Dichtern, das Malen der großen historischen Ereignisse. Dann ist der
südländische Maler auf seinen von den natürlichen Bodenverhältnissen be-
günstigtstcn Gebieten. Auf dem Markte, auf dem Kapitol, inmitten seiner
Mitbürger unter freiem Himmel, vor Aller Augen zu sprechen, zu Handel»,
mit einem Worte „zu leben": das ist seine Welt. Deshalb ist das religiöse
und profane Historienbild, frisch und flott in mächtigen Dimensionen auf die
Wand gezaubert, der natürliche Tummelplatz des südlichen Meisters, wie der
vom Halbdunkel märchenhaft umdämmerte Wald und das von tiefer Herzens¬
religion, von zartem, weichem Liebesleben durchzitterte Alltagsdasein das
eigentliche Stoffgebiet des nordischen Künstlers ist.

So sicher wir überzeugt sind, daß die natürlichen Bodenverhältnisse im
engern Sinn auf die Entstehung und Entwicklung der bildenden Künste intensiv
eingewirkt haben und noch einwirken, so wollen wir doch am Schluß unsrer
Betrachtung betonen, daß ihr Einfluß nur mitbestimmend ist. Ihnen zur
Seite stehen der Mensch, der Staat, die Kultur. Die Thätigkeit, die der
Staat hinsichtlich der Kunst auszuüben hat, ist niemals hurtiger und treffender
formulirt worden als von Treitschke, dessen Worte unsre Abhandlung ab¬
schließen mögen. „Es ist auch eine rohe und barbarische Anschauung, wenn
man die Kunstpflege des Staates als Luxus auffaßt. Die Kunst ist dem
Menschen so nötig wie das tägliche Brot. Wir würden aufhören das Volk
zu sein, das wir sind, ohne diese Geistesthätigkeit; und der Staat ist da, um
der Kunst große, monumentale Ausgaben zu setzen."




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[0096] Die bildenden Künste und die natürlichen Bodenverhältnisse lockerer. Auch diese machte sich zuerst diesseits der Berge selbständig. Das enge Beieinanderwohnen, das fast ausschließliche Leben im Hause ließ dies wertvoll, eine Hauptguelle des Behagens werden — was Wunder, wenn die Maler ihren Blick mit liebevoller Beobachtung auf dem vielen Kleinen und doch so wunderlich Wertvollen des alltäglichen Daseins ruhen ließen und es mit Farbe und Pinsel gestalteten? Von hier, vom Norden, wo das Klima seinen Zwang ausübte, begann das Genre seinen Siegeszug; und heute herrscht es fast überall, nachdem auch auf diesem Felde der Südländer von dem Kollegen aus dem rauhen Schneelande gelernt hat. Denn das Gebiet des Südländers ist das Schildern panathenäischer Festzuge, der Triumphe vou Feldherrn oder von Dichtern, das Malen der großen historischen Ereignisse. Dann ist der südländische Maler auf seinen von den natürlichen Bodenverhältnissen be- günstigtstcn Gebieten. Auf dem Markte, auf dem Kapitol, inmitten seiner Mitbürger unter freiem Himmel, vor Aller Augen zu sprechen, zu Handel», mit einem Worte „zu leben": das ist seine Welt. Deshalb ist das religiöse und profane Historienbild, frisch und flott in mächtigen Dimensionen auf die Wand gezaubert, der natürliche Tummelplatz des südlichen Meisters, wie der vom Halbdunkel märchenhaft umdämmerte Wald und das von tiefer Herzens¬ religion, von zartem, weichem Liebesleben durchzitterte Alltagsdasein das eigentliche Stoffgebiet des nordischen Künstlers ist. So sicher wir überzeugt sind, daß die natürlichen Bodenverhältnisse im engern Sinn auf die Entstehung und Entwicklung der bildenden Künste intensiv eingewirkt haben und noch einwirken, so wollen wir doch am Schluß unsrer Betrachtung betonen, daß ihr Einfluß nur mitbestimmend ist. Ihnen zur Seite stehen der Mensch, der Staat, die Kultur. Die Thätigkeit, die der Staat hinsichtlich der Kunst auszuüben hat, ist niemals hurtiger und treffender formulirt worden als von Treitschke, dessen Worte unsre Abhandlung ab¬ schließen mögen. „Es ist auch eine rohe und barbarische Anschauung, wenn man die Kunstpflege des Staates als Luxus auffaßt. Die Kunst ist dem Menschen so nötig wie das tägliche Brot. Wir würden aufhören das Volk zu sein, das wir sind, ohne diese Geistesthätigkeit; und der Staat ist da, um der Kunst große, monumentale Ausgaben zu setzen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/96>, abgerufen am 27.12.2024.