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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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ist es, daß sich die Gotik in Italien kein Heimatrecht erwerben konnte. Dieser
Stil löst das Gebäude in einzelne tragende Glieder auf und betrachtet die
durch mächtige Fenster durchbrochnen Mauern lediglich als raumabschließend.
Der Südländer sucht Kühle und gebrochnes Licht, der Nordländer dagegen
liebt, die Sonue, d. h. Wärme und Licht, auf jede Weise in seine Gebäude
hineinzulocken. Aus denselben Gründen hat der Kuppelbau seine hervor¬
ragendsten Vertreter im regenarmen Süden; das spitze Dach seine begeistertsten
Verehrer in den mit Regen "reichgcsegneten" nordischen Ländern; das stark
vorspringende Dach in besonders schneereichen Gebieten, wie in allen Gebirgs¬
gegenden, in Skandinavien, dem Lande des Holzbaues. Dies Holzhaus ist,
wie nebenbei bemerkt sei, überhaupt so innig mit den natürlichen Bodenver¬
hältnissen verwachsen, daß man an ihm die ganze Theorie bis in alle Einzel¬
heiten, vom Grundriß bis zum Hochbau und den phantastischen, grell bemalten
Ornamenten nachweisen könnte.

Es giebt Leute, und unter ihnen feinfühlige Kunstfreunde, die die Archi¬
tektur nicht als eine Kunst im edelsten Sinne des Ausdrucks anerkennen wollen.
Sie sagen, es klebe ihr zu viel Banausisches an. Man spürt eben bei der
Baukunst sehr stark die engen Beziehungen zu den natürlichen Bodenverhält¬
nissen. Bei der Plastik zeigt sich eine ähnliche Beeinflussung. Als die Väter
der Bildhauerkunst verehren wir die Griechen. Man versetze nun einmal die¬
selben Griechen in die norddeutsche Tiefebene, raube ihnen die weiche balsamische
Luft, den feingekörnten, festgefügten, wie vom Leben durchatmeten Marmor --
was würde aus ihnen geworden sein?

Die natürlichen Bodenverhältnisse sind in der That auch für die Plastik
uach Form wie nach Inhalt bestimmend. Das milde Klima erlaubte den
Griechen, sich im Freien aufzuhalten, ohne zuviel lästige Hülle tragen zu
müssen. Das Auge wurde an die nackten Formen des menschlichen Körpers
gewöhnt; sie wurden ihm natürlich, wie dem unsrigen das Spiel der Wolken¬
schatten. Die leiseste Anregung löste das so oft gesehne Bild in ihrer An¬
schauung aus, sodaß die Griechen, mechanisch möchte man fast sagen, die
schönen körperlichen Gebilde unter ihrem Meißel erstehen ließen. Niemals wären
sie aber dazu gelangt, ihre Trünme in greifbare Schöpfungen umzusetzen, wenn
sie durch die natürlichen Bodenverhältnisse nicht so außerordentlich begünstigt
worden wären. Dieser wunderbare parische Marmor mit der, wie die Griechen
sagten, von den Göttern selbst erwählten goldnen Mitte zwischen Härte und
Weichheit, zwischen: festem und lockeren Gefüge, das das Licht so unbeschreibbar
schön in sich aufsaugt, sich von ihm durchleuchten und es wieder ausstrahlen
läßt -- erst dieses Geschenk des Erdbodens gab dem Künstler die Freiheit des
Schaffens. Niemand wird dies bezweifeln. Man denke sich jedoch, in Griechen¬
lands Boden hätte der harte Granit Ägyptens gelegen, und man wird den
Rückschluß leicht machen können. Die Ägypter haben uns vor nicht gar zu


ist es, daß sich die Gotik in Italien kein Heimatrecht erwerben konnte. Dieser
Stil löst das Gebäude in einzelne tragende Glieder auf und betrachtet die
durch mächtige Fenster durchbrochnen Mauern lediglich als raumabschließend.
Der Südländer sucht Kühle und gebrochnes Licht, der Nordländer dagegen
liebt, die Sonue, d. h. Wärme und Licht, auf jede Weise in seine Gebäude
hineinzulocken. Aus denselben Gründen hat der Kuppelbau seine hervor¬
ragendsten Vertreter im regenarmen Süden; das spitze Dach seine begeistertsten
Verehrer in den mit Regen „reichgcsegneten" nordischen Ländern; das stark
vorspringende Dach in besonders schneereichen Gebieten, wie in allen Gebirgs¬
gegenden, in Skandinavien, dem Lande des Holzbaues. Dies Holzhaus ist,
wie nebenbei bemerkt sei, überhaupt so innig mit den natürlichen Bodenver¬
hältnissen verwachsen, daß man an ihm die ganze Theorie bis in alle Einzel¬
heiten, vom Grundriß bis zum Hochbau und den phantastischen, grell bemalten
Ornamenten nachweisen könnte.

Es giebt Leute, und unter ihnen feinfühlige Kunstfreunde, die die Archi¬
tektur nicht als eine Kunst im edelsten Sinne des Ausdrucks anerkennen wollen.
Sie sagen, es klebe ihr zu viel Banausisches an. Man spürt eben bei der
Baukunst sehr stark die engen Beziehungen zu den natürlichen Bodenverhält¬
nissen. Bei der Plastik zeigt sich eine ähnliche Beeinflussung. Als die Väter
der Bildhauerkunst verehren wir die Griechen. Man versetze nun einmal die¬
selben Griechen in die norddeutsche Tiefebene, raube ihnen die weiche balsamische
Luft, den feingekörnten, festgefügten, wie vom Leben durchatmeten Marmor —
was würde aus ihnen geworden sein?

Die natürlichen Bodenverhältnisse sind in der That auch für die Plastik
uach Form wie nach Inhalt bestimmend. Das milde Klima erlaubte den
Griechen, sich im Freien aufzuhalten, ohne zuviel lästige Hülle tragen zu
müssen. Das Auge wurde an die nackten Formen des menschlichen Körpers
gewöhnt; sie wurden ihm natürlich, wie dem unsrigen das Spiel der Wolken¬
schatten. Die leiseste Anregung löste das so oft gesehne Bild in ihrer An¬
schauung aus, sodaß die Griechen, mechanisch möchte man fast sagen, die
schönen körperlichen Gebilde unter ihrem Meißel erstehen ließen. Niemals wären
sie aber dazu gelangt, ihre Trünme in greifbare Schöpfungen umzusetzen, wenn
sie durch die natürlichen Bodenverhältnisse nicht so außerordentlich begünstigt
worden wären. Dieser wunderbare parische Marmor mit der, wie die Griechen
sagten, von den Göttern selbst erwählten goldnen Mitte zwischen Härte und
Weichheit, zwischen: festem und lockeren Gefüge, das das Licht so unbeschreibbar
schön in sich aufsaugt, sich von ihm durchleuchten und es wieder ausstrahlen
läßt — erst dieses Geschenk des Erdbodens gab dem Künstler die Freiheit des
Schaffens. Niemand wird dies bezweifeln. Man denke sich jedoch, in Griechen¬
lands Boden hätte der harte Granit Ägyptens gelegen, und man wird den
Rückschluß leicht machen können. Die Ägypter haben uns vor nicht gar zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/88>, abgerufen am 27.12.2024.