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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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neuen Bundesverbände zu reißen, und als Preußen nicht den Mut hatte, auf
die Gefahr eines neuen Krieges hin die Wahrung der alten Reichsgrenzen zu
fordern, da die preußischen Diplomaten den schlauen Künsten des prvteus-
artigen Talleyrand nicht gewachsen waren, und des Reiches Eckstein, der
Neichsfreiherr vom Stein, nicht mehr in amtlicher Stellung war, da waren
die kleinen deutschen Kabinette mehr um die Erhaltung und größtenteils
widerrechtliche Vergrößerung ihres Besitzstandes besorgt, als um das Vater¬
land selbst, das doch ihr Nährboden war und dank der äußern Einheit die
Dynastien trotz all ihrer schweren Fehler um des Reiches Wohlfahrt willen auch
weiter geschützt hat und schirmen wird. Aber es ist noch eine große Dankes¬
schuld an dieses verstümmelte Vaterland abzutragen, nicht im Sinne der
französischen Chauvinisten und der Reunionskammern des Sonnenkönigs,
sondern auf Grund der unverwischbaren nationalen Gemeinschaft, die in
Europa trotz aller sozialen und wirtschaftlichen Wirren die Voraussetzung
aller Staatsbildungen der Gegenwart geworden ist und auch bleiben wird.
Selbst das Ländergemengsel der österreichischen Monarchie empfindet schwer
diesen Zustand, wo die nationale Gleichgiltigkeit des Deutschtums verabsäumt
hat, sich wie das übrige Reich die kleinen slawischen Volkssplitter dauernd
anzugliedern und mit seinem Wesen zu erfüllen. Dasselbe Habsburg hat
auch Belgien seinem Mutterlande entfremdet. An dem neuen Geschlecht ist
es, die alte Unterlassungssünde durch neue Thatkraft auf nationalem Gebiete
zu sühnen. Die Knochen des pommerschen Grenadiers dürfen auf keinem
türkischen Schlachtfelde bleichen. Aber auf Waterlvvs Gefilden siegte er
über den französischen Erbfeind und rettete Belgien wenigstens vor der
unmittelbaren Einverleibung in den französischen Staat. Bekanntlich standen
damals in den englischen Regimentern auch hannöversche Bauern und
sonstige deutsche Freiwillige. Das deutsche Mutterland hat damals seine
lange vernachlässigte Tochter, die österreichischen Niederlande, das heutige
Belgien, vor der welschen Vergewaltigung bewahrt.

Das verrottete kleine Griechenland schreit trotz seiner schlechten euro¬
päischen Aufführung nach nationaler Befreiung und Einheit; Wünsche, deren
Erfüllung ihm auch bei etwas größerer Bescheidenheit ebenso gewiß ist, wie
Europa die künftige Angliederung Kretas an Hellas weder hindern wird
noch kann- Aber Deutschland soll die Sammlung seiner Volksgenossen bei
Wahrung aller Stammesselbständigkeit, die freilich auch stets unsre verhäng¬
nisvolle Schwäche bleiben wird, versagt sein? Die Thaten eines Kaisers
Wilhelm, Bismarcks und Moltkes sind nicht der Abschluß der deutschen Einheit,
sondern der Beginn der nationalen Wiedergeburt. Möge uns die Zukunft
gleiche Männer schenken; wir dürfen nicht auf unsern Lorbeern ruhen, wie in
der unseligen Schlummer- und Schlemmerzeit nach des großen Friedrichs Ne¬
gierung. Stillstand ist Rückschritt. Der nationale Bestand unsers Volkstums


neuen Bundesverbände zu reißen, und als Preußen nicht den Mut hatte, auf
die Gefahr eines neuen Krieges hin die Wahrung der alten Reichsgrenzen zu
fordern, da die preußischen Diplomaten den schlauen Künsten des prvteus-
artigen Talleyrand nicht gewachsen waren, und des Reiches Eckstein, der
Neichsfreiherr vom Stein, nicht mehr in amtlicher Stellung war, da waren
die kleinen deutschen Kabinette mehr um die Erhaltung und größtenteils
widerrechtliche Vergrößerung ihres Besitzstandes besorgt, als um das Vater¬
land selbst, das doch ihr Nährboden war und dank der äußern Einheit die
Dynastien trotz all ihrer schweren Fehler um des Reiches Wohlfahrt willen auch
weiter geschützt hat und schirmen wird. Aber es ist noch eine große Dankes¬
schuld an dieses verstümmelte Vaterland abzutragen, nicht im Sinne der
französischen Chauvinisten und der Reunionskammern des Sonnenkönigs,
sondern auf Grund der unverwischbaren nationalen Gemeinschaft, die in
Europa trotz aller sozialen und wirtschaftlichen Wirren die Voraussetzung
aller Staatsbildungen der Gegenwart geworden ist und auch bleiben wird.
Selbst das Ländergemengsel der österreichischen Monarchie empfindet schwer
diesen Zustand, wo die nationale Gleichgiltigkeit des Deutschtums verabsäumt
hat, sich wie das übrige Reich die kleinen slawischen Volkssplitter dauernd
anzugliedern und mit seinem Wesen zu erfüllen. Dasselbe Habsburg hat
auch Belgien seinem Mutterlande entfremdet. An dem neuen Geschlecht ist
es, die alte Unterlassungssünde durch neue Thatkraft auf nationalem Gebiete
zu sühnen. Die Knochen des pommerschen Grenadiers dürfen auf keinem
türkischen Schlachtfelde bleichen. Aber auf Waterlvvs Gefilden siegte er
über den französischen Erbfeind und rettete Belgien wenigstens vor der
unmittelbaren Einverleibung in den französischen Staat. Bekanntlich standen
damals in den englischen Regimentern auch hannöversche Bauern und
sonstige deutsche Freiwillige. Das deutsche Mutterland hat damals seine
lange vernachlässigte Tochter, die österreichischen Niederlande, das heutige
Belgien, vor der welschen Vergewaltigung bewahrt.

Das verrottete kleine Griechenland schreit trotz seiner schlechten euro¬
päischen Aufführung nach nationaler Befreiung und Einheit; Wünsche, deren
Erfüllung ihm auch bei etwas größerer Bescheidenheit ebenso gewiß ist, wie
Europa die künftige Angliederung Kretas an Hellas weder hindern wird
noch kann- Aber Deutschland soll die Sammlung seiner Volksgenossen bei
Wahrung aller Stammesselbständigkeit, die freilich auch stets unsre verhäng¬
nisvolle Schwäche bleiben wird, versagt sein? Die Thaten eines Kaisers
Wilhelm, Bismarcks und Moltkes sind nicht der Abschluß der deutschen Einheit,
sondern der Beginn der nationalen Wiedergeburt. Möge uns die Zukunft
gleiche Männer schenken; wir dürfen nicht auf unsern Lorbeern ruhen, wie in
der unseligen Schlummer- und Schlemmerzeit nach des großen Friedrichs Ne¬
gierung. Stillstand ist Rückschritt. Der nationale Bestand unsers Volkstums


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/78>, abgerufen am 27.12.2024.