Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

gezogen, Cuvier sei kein philosophischer Kopf gewesen. Mir scheint vielmehr die
Klarheit seiner Einsichten hieraus hervorzuleuchten. Er ließ die höhere Aufgabe fallen,
weil er fand, daß sie ihm nicht zur klaren Einsicht verhelfen konnte.... Es verdroß
ihn sogar, wenn man seine "Vergleichende Anatomie" als etwas Vollendetes sehr
erhob. Ich bin nur ein Perugino, sagte er in einer seiner Vorlesungen. "Ich
sammle nur Materialien für einen künftigen großen Anatomen, und wenn ein
solcher kommt, so wünsche ich, daß man mir das Verdienst zuerkennt, ihm vorge¬
arbeitet zu haben." Es war also nicht Mangel an philosophischem Sinn, was
ihn von allen hypothetischen und unbestimmten Ansichten entfernt hielt, sondern
das entschiedne Bedürfnis nach Klarheit. Mir scheint, daß gerade darin der
philosophische Geist sich offenbart" (S. 72-74). Geoffroy Se. Hilaire, der als
Jüngling dem noch unbekannten Cuvier zur ersten Anstellung in Paris verholfen
hatte und sein innigster Freund gewesen war, wurde später sein bedeutendster
wissenschaftlicher Gegner, und Goethe hat in dem Streit der beiden Männer für
den ersten Partei genommen. Baer meint, Goethe habe nur auf den einseitigen
Bericht hin geurteilt, den ihm Geoffroy über die Angelegenheit geschickt hatte.

Am sechsten Tage. Die Erde war geschaffen -- das Ebenbild Gottes hatte -
seinen ersten Tag erlebt.

Die Sonne näherte sich dem Horizonte, da ging Gottvater durch den Garten.
Sinnend ruhte sein alldurchdringendes Auge auf seinen Werken, auf allem, was
fein Schöpferwille hervorgebracht hatte. Da sah er unter einem Strauche den
Menschen in friedlichem Schlummer. Des Staunens und Schauens müde hatte
dieser sich aus dem hellen Sonnenlichte in die Dämmerung des Gebüsches begeben;
dort war er eingeschlafen. Gottvater trat zu ihm. Das war sein Ebenbild, Kraft
und Fülle, Macht und Wille in jeder Linie. Lange schaute Gottvater ----

"-- Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei," sprach er, "ich will ihm
eine Gefährtin geben." Und Gottvater erglühte in heiliger Schöpfungskraft, die
da ist die Liebe. Der Stoff formte sich unter seinen Händen, ein zart Gebilde
entstand -- des Mannes Gegenstück!

Regungslos stand die Gestalt. Da griff Gottvater zur Abendröte und festigte
sie auf dem weißen Körper, aus Sonnengold wob er das wallende Haupthaar --
daun neigte er sich über sie und hauchte ihr in göttlichem Kusse Leben ein. "Sei
Mensch, wie der da! -- Doch einen Vorzug will ich dir gewähre:,: Öffne deine
Augen, und was du zuerst anschaust, davon soll ein Schimmer deinen Augen ver¬
bleiben."

Da hob das Weib die Augen auf zu dem Herrn, seinem Gott. -- --

Sehenden Geistes aber sprach der Herr: "Wehe dem Volk, das den göttliche"
Strahl in des Weibes Augen vernichtet! -- Es wird sich selbst richten."


Karl Gustav




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

gezogen, Cuvier sei kein philosophischer Kopf gewesen. Mir scheint vielmehr die
Klarheit seiner Einsichten hieraus hervorzuleuchten. Er ließ die höhere Aufgabe fallen,
weil er fand, daß sie ihm nicht zur klaren Einsicht verhelfen konnte.... Es verdroß
ihn sogar, wenn man seine »Vergleichende Anatomie« als etwas Vollendetes sehr
erhob. Ich bin nur ein Perugino, sagte er in einer seiner Vorlesungen. »Ich
sammle nur Materialien für einen künftigen großen Anatomen, und wenn ein
solcher kommt, so wünsche ich, daß man mir das Verdienst zuerkennt, ihm vorge¬
arbeitet zu haben.« Es war also nicht Mangel an philosophischem Sinn, was
ihn von allen hypothetischen und unbestimmten Ansichten entfernt hielt, sondern
das entschiedne Bedürfnis nach Klarheit. Mir scheint, daß gerade darin der
philosophische Geist sich offenbart" (S. 72-74). Geoffroy Se. Hilaire, der als
Jüngling dem noch unbekannten Cuvier zur ersten Anstellung in Paris verholfen
hatte und sein innigster Freund gewesen war, wurde später sein bedeutendster
wissenschaftlicher Gegner, und Goethe hat in dem Streit der beiden Männer für
den ersten Partei genommen. Baer meint, Goethe habe nur auf den einseitigen
Bericht hin geurteilt, den ihm Geoffroy über die Angelegenheit geschickt hatte.

Am sechsten Tage. Die Erde war geschaffen — das Ebenbild Gottes hatte -
seinen ersten Tag erlebt.

Die Sonne näherte sich dem Horizonte, da ging Gottvater durch den Garten.
Sinnend ruhte sein alldurchdringendes Auge auf seinen Werken, auf allem, was
fein Schöpferwille hervorgebracht hatte. Da sah er unter einem Strauche den
Menschen in friedlichem Schlummer. Des Staunens und Schauens müde hatte
dieser sich aus dem hellen Sonnenlichte in die Dämmerung des Gebüsches begeben;
dort war er eingeschlafen. Gottvater trat zu ihm. Das war sein Ebenbild, Kraft
und Fülle, Macht und Wille in jeder Linie. Lange schaute Gottvater —--

„— Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei," sprach er, „ich will ihm
eine Gefährtin geben." Und Gottvater erglühte in heiliger Schöpfungskraft, die
da ist die Liebe. Der Stoff formte sich unter seinen Händen, ein zart Gebilde
entstand — des Mannes Gegenstück!

Regungslos stand die Gestalt. Da griff Gottvater zur Abendröte und festigte
sie auf dem weißen Körper, aus Sonnengold wob er das wallende Haupthaar —
daun neigte er sich über sie und hauchte ihr in göttlichem Kusse Leben ein. „Sei
Mensch, wie der da! — Doch einen Vorzug will ich dir gewähre:,: Öffne deine
Augen, und was du zuerst anschaust, davon soll ein Schimmer deinen Augen ver¬
bleiben."

Da hob das Weib die Augen auf zu dem Herrn, seinem Gott. — —

Sehenden Geistes aber sprach der Herr: „Wehe dem Volk, das den göttliche»
Strahl in des Weibes Augen vernichtet! — Es wird sich selbst richten."


Karl Gustav




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0608" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228244"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1763" prev="#ID_1762"> gezogen, Cuvier sei kein philosophischer Kopf gewesen. Mir scheint vielmehr die<lb/>
Klarheit seiner Einsichten hieraus hervorzuleuchten. Er ließ die höhere Aufgabe fallen,<lb/>
weil er fand, daß sie ihm nicht zur klaren Einsicht verhelfen konnte.... Es verdroß<lb/>
ihn sogar, wenn man seine »Vergleichende Anatomie« als etwas Vollendetes sehr<lb/>
erhob. Ich bin nur ein Perugino, sagte er in einer seiner Vorlesungen. »Ich<lb/>
sammle nur Materialien für einen künftigen großen Anatomen, und wenn ein<lb/>
solcher kommt, so wünsche ich, daß man mir das Verdienst zuerkennt, ihm vorge¬<lb/>
arbeitet zu haben.« Es war also nicht Mangel an philosophischem Sinn, was<lb/>
ihn von allen hypothetischen und unbestimmten Ansichten entfernt hielt, sondern<lb/>
das entschiedne Bedürfnis nach Klarheit. Mir scheint, daß gerade darin der<lb/>
philosophische Geist sich offenbart" (S. 72-74). Geoffroy Se. Hilaire, der als<lb/>
Jüngling dem noch unbekannten Cuvier zur ersten Anstellung in Paris verholfen<lb/>
hatte und sein innigster Freund gewesen war, wurde später sein bedeutendster<lb/>
wissenschaftlicher Gegner, und Goethe hat in dem Streit der beiden Männer für<lb/>
den ersten Partei genommen. Baer meint, Goethe habe nur auf den einseitigen<lb/>
Bericht hin geurteilt, den ihm Geoffroy über die Angelegenheit geschickt hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1764"> Am sechsten Tage. Die Erde war geschaffen &#x2014; das Ebenbild Gottes hatte -<lb/>
seinen ersten Tag erlebt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1765"> Die Sonne näherte sich dem Horizonte, da ging Gottvater durch den Garten.<lb/>
Sinnend ruhte sein alldurchdringendes Auge auf seinen Werken, auf allem, was<lb/>
fein Schöpferwille hervorgebracht hatte. Da sah er unter einem Strauche den<lb/>
Menschen in friedlichem Schlummer. Des Staunens und Schauens müde hatte<lb/>
dieser sich aus dem hellen Sonnenlichte in die Dämmerung des Gebüsches begeben;<lb/>
dort war er eingeschlafen. Gottvater trat zu ihm. Das war sein Ebenbild, Kraft<lb/>
und Fülle, Macht und Wille in jeder Linie.  Lange schaute Gottvater &#x2014;--</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1766"> &#x201E;&#x2014; Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei," sprach er, &#x201E;ich will ihm<lb/>
eine Gefährtin geben." Und Gottvater erglühte in heiliger Schöpfungskraft, die<lb/>
da ist die Liebe. Der Stoff formte sich unter seinen Händen, ein zart Gebilde<lb/>
entstand &#x2014; des Mannes Gegenstück!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1767"> Regungslos stand die Gestalt. Da griff Gottvater zur Abendröte und festigte<lb/>
sie auf dem weißen Körper, aus Sonnengold wob er das wallende Haupthaar &#x2014;<lb/>
daun neigte er sich über sie und hauchte ihr in göttlichem Kusse Leben ein. &#x201E;Sei<lb/>
Mensch, wie der da! &#x2014; Doch einen Vorzug will ich dir gewähre:,: Öffne deine<lb/>
Augen, und was du zuerst anschaust, davon soll ein Schimmer deinen Augen ver¬<lb/>
bleiben."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1768"> Da hob das Weib die Augen auf zu dem Herrn, seinem Gott. &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1769"> Sehenden Geistes aber sprach der Herr: &#x201E;Wehe dem Volk, das den göttliche»<lb/>
Strahl in des Weibes Augen vernichtet! &#x2014; Es wird sich selbst richten."</p><lb/>
            <note type="byline"> Karl Gustav</note><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <note type="byline"> Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig<lb/>
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. &#x2014; Druck von Carl Marquart in Leipzig</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0608] Maßgebliches und Unmaßgebliches gezogen, Cuvier sei kein philosophischer Kopf gewesen. Mir scheint vielmehr die Klarheit seiner Einsichten hieraus hervorzuleuchten. Er ließ die höhere Aufgabe fallen, weil er fand, daß sie ihm nicht zur klaren Einsicht verhelfen konnte.... Es verdroß ihn sogar, wenn man seine »Vergleichende Anatomie« als etwas Vollendetes sehr erhob. Ich bin nur ein Perugino, sagte er in einer seiner Vorlesungen. »Ich sammle nur Materialien für einen künftigen großen Anatomen, und wenn ein solcher kommt, so wünsche ich, daß man mir das Verdienst zuerkennt, ihm vorge¬ arbeitet zu haben.« Es war also nicht Mangel an philosophischem Sinn, was ihn von allen hypothetischen und unbestimmten Ansichten entfernt hielt, sondern das entschiedne Bedürfnis nach Klarheit. Mir scheint, daß gerade darin der philosophische Geist sich offenbart" (S. 72-74). Geoffroy Se. Hilaire, der als Jüngling dem noch unbekannten Cuvier zur ersten Anstellung in Paris verholfen hatte und sein innigster Freund gewesen war, wurde später sein bedeutendster wissenschaftlicher Gegner, und Goethe hat in dem Streit der beiden Männer für den ersten Partei genommen. Baer meint, Goethe habe nur auf den einseitigen Bericht hin geurteilt, den ihm Geoffroy über die Angelegenheit geschickt hatte. Am sechsten Tage. Die Erde war geschaffen — das Ebenbild Gottes hatte - seinen ersten Tag erlebt. Die Sonne näherte sich dem Horizonte, da ging Gottvater durch den Garten. Sinnend ruhte sein alldurchdringendes Auge auf seinen Werken, auf allem, was fein Schöpferwille hervorgebracht hatte. Da sah er unter einem Strauche den Menschen in friedlichem Schlummer. Des Staunens und Schauens müde hatte dieser sich aus dem hellen Sonnenlichte in die Dämmerung des Gebüsches begeben; dort war er eingeschlafen. Gottvater trat zu ihm. Das war sein Ebenbild, Kraft und Fülle, Macht und Wille in jeder Linie. Lange schaute Gottvater —-- „— Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei," sprach er, „ich will ihm eine Gefährtin geben." Und Gottvater erglühte in heiliger Schöpfungskraft, die da ist die Liebe. Der Stoff formte sich unter seinen Händen, ein zart Gebilde entstand — des Mannes Gegenstück! Regungslos stand die Gestalt. Da griff Gottvater zur Abendröte und festigte sie auf dem weißen Körper, aus Sonnengold wob er das wallende Haupthaar — daun neigte er sich über sie und hauchte ihr in göttlichem Kusse Leben ein. „Sei Mensch, wie der da! — Doch einen Vorzug will ich dir gewähre:,: Öffne deine Augen, und was du zuerst anschaust, davon soll ein Schimmer deinen Augen ver¬ bleiben." Da hob das Weib die Augen auf zu dem Herrn, seinem Gott. — — Sehenden Geistes aber sprach der Herr: „Wehe dem Volk, das den göttliche» Strahl in des Weibes Augen vernichtet! — Es wird sich selbst richten." Karl Gustav Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/608
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/608>, abgerufen am 27.12.2024.