Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Karl Ernst von Baer und der Darwinismus

stehen, daß die Umgebung und die Lebensbedingungen die Organe schufen und
umbildeten, sondern umgekehrt, die Organe seien so und nicht anders gebaut,
weil das Tier für diese und keine andre Umgebung und Lebensweise bestimmt
sei; der Aufenthaltsort, das Element oder Medium, die Nahrung, die Lebens¬
weise des Tieres entscheiden darüber, wie es vom ersten Anfange seines Ent¬
stehens an aufgebaut werden muß; das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige,
nicht umgekehrt.

Alles das stand für Baer schon vor Darwins Auftreten fest. In seiner
Polemik gegen diesen (vorzugsweise in der 1876 erschienenen Schrift: Über
Darwins Lehre) entwickelte er hauptsächlich folgende Gegengründe. Art sei
durchaus kein schwankender, sondern ein ganz fester Begriff, die Variabilität
sei keineswegs unbegrenzt und bewege sich nicht planlos nach allen Richtungen
hin; das seien Erfahrungsthatsachen. Die in Ägypten gefundnen Tiermumien
und mehrere tausend Jahre alte Pflanzenteile bewiesen, daß die damals be¬
stehenden Arten mit den heutigen völlig identisch seien. Wenn die von den
Darwinianern behaupteten Umwandlungen Thatsache wären, dann müßten sich
in historischer Zeit irgendwo einmal wenigstens nahe verwandte Arten in ein¬
ander, z. B. Schafe in Ziegen verwandelt haben oder umgekehrt, das sei aber
niemals vorgekommen. Nehme man aber zu unendlich langen Zeiträumen seine
Zuflucht, dann lasse sich das Vorhandensein deutlich unterscheidbarer Arten
erst recht nicht erklären. Die unendlich langen Zeiträume würden doch an¬
genommen, weil die Entwicklung in unendlich vielen, winzig kleinen, für den
Beobachter unwahrnehmbaren Schritten vor sich gehen soll. Nun sei es doch
undenkbar, daß je eine bestimmte Anzahl oder Abteilung von Tieren oder
Pflanzen jeden dieser unendlich vielen kleinen Schritte genau zu derselben Zeit,
aber zu andrer Zeit als jede andre Abteilung gethan haben sollte, was man
annehmen muß, wenn dabei unsre heutigen Arten herauskommen sollen. Viel¬
mehr würde jedes organische Wesen bei diesem Fortschritt sein eignes Tempo
innegehalten haben, und es würde eine unendliche Verschiedenheit dabei heraus¬
gekommen sein, lauter unmerkliche Übergänge, sodaß eine Abgrenzung von
Gattungen und Arten gar nicht möglich wäre. Durch Summirung vererbter
Abänderungen sodann könne nur dann eine neue Art oder wenigstens eine
neue Spielart entstehen, wenn die abändernde Ursache durch viele Geschlechts¬
folgen hindurch beständig einwirke, wie das bei der Tierzucht der Fall sei;
eine planlos wirkende Natur könne also nimmermehr einen solchen Erfolg er¬
zielen, wie ihn der mit einer bestimmten Absicht einwirkende Züchter erzielt;
zufällige Wirkungen heben einander gegenseitig auf, und die in der freien Natur
durch solche zufällige Einwirkung entstandnen Abweichungen von der Normal¬
gestalt verschwinden wieder. Deshalb könne auch der Kampf ums Dasein keine
neue Arten hervorbringen. Der Züchter habe ein Ziel, der Kampf ums Dasein
habe nur einen Erfolg, kein Ziel. Sollte der Kampf ums Dasein im Sinne


Karl Ernst von Baer und der Darwinismus

stehen, daß die Umgebung und die Lebensbedingungen die Organe schufen und
umbildeten, sondern umgekehrt, die Organe seien so und nicht anders gebaut,
weil das Tier für diese und keine andre Umgebung und Lebensweise bestimmt
sei; der Aufenthaltsort, das Element oder Medium, die Nahrung, die Lebens¬
weise des Tieres entscheiden darüber, wie es vom ersten Anfange seines Ent¬
stehens an aufgebaut werden muß; das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige,
nicht umgekehrt.

Alles das stand für Baer schon vor Darwins Auftreten fest. In seiner
Polemik gegen diesen (vorzugsweise in der 1876 erschienenen Schrift: Über
Darwins Lehre) entwickelte er hauptsächlich folgende Gegengründe. Art sei
durchaus kein schwankender, sondern ein ganz fester Begriff, die Variabilität
sei keineswegs unbegrenzt und bewege sich nicht planlos nach allen Richtungen
hin; das seien Erfahrungsthatsachen. Die in Ägypten gefundnen Tiermumien
und mehrere tausend Jahre alte Pflanzenteile bewiesen, daß die damals be¬
stehenden Arten mit den heutigen völlig identisch seien. Wenn die von den
Darwinianern behaupteten Umwandlungen Thatsache wären, dann müßten sich
in historischer Zeit irgendwo einmal wenigstens nahe verwandte Arten in ein¬
ander, z. B. Schafe in Ziegen verwandelt haben oder umgekehrt, das sei aber
niemals vorgekommen. Nehme man aber zu unendlich langen Zeiträumen seine
Zuflucht, dann lasse sich das Vorhandensein deutlich unterscheidbarer Arten
erst recht nicht erklären. Die unendlich langen Zeiträume würden doch an¬
genommen, weil die Entwicklung in unendlich vielen, winzig kleinen, für den
Beobachter unwahrnehmbaren Schritten vor sich gehen soll. Nun sei es doch
undenkbar, daß je eine bestimmte Anzahl oder Abteilung von Tieren oder
Pflanzen jeden dieser unendlich vielen kleinen Schritte genau zu derselben Zeit,
aber zu andrer Zeit als jede andre Abteilung gethan haben sollte, was man
annehmen muß, wenn dabei unsre heutigen Arten herauskommen sollen. Viel¬
mehr würde jedes organische Wesen bei diesem Fortschritt sein eignes Tempo
innegehalten haben, und es würde eine unendliche Verschiedenheit dabei heraus¬
gekommen sein, lauter unmerkliche Übergänge, sodaß eine Abgrenzung von
Gattungen und Arten gar nicht möglich wäre. Durch Summirung vererbter
Abänderungen sodann könne nur dann eine neue Art oder wenigstens eine
neue Spielart entstehen, wenn die abändernde Ursache durch viele Geschlechts¬
folgen hindurch beständig einwirke, wie das bei der Tierzucht der Fall sei;
eine planlos wirkende Natur könne also nimmermehr einen solchen Erfolg er¬
zielen, wie ihn der mit einer bestimmten Absicht einwirkende Züchter erzielt;
zufällige Wirkungen heben einander gegenseitig auf, und die in der freien Natur
durch solche zufällige Einwirkung entstandnen Abweichungen von der Normal¬
gestalt verschwinden wieder. Deshalb könne auch der Kampf ums Dasein keine
neue Arten hervorbringen. Der Züchter habe ein Ziel, der Kampf ums Dasein
habe nur einen Erfolg, kein Ziel. Sollte der Kampf ums Dasein im Sinne


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0579" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228215"/>
          <fw type="header" place="top"> Karl Ernst von Baer und der Darwinismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1625" prev="#ID_1624"> stehen, daß die Umgebung und die Lebensbedingungen die Organe schufen und<lb/>
umbildeten, sondern umgekehrt, die Organe seien so und nicht anders gebaut,<lb/>
weil das Tier für diese und keine andre Umgebung und Lebensweise bestimmt<lb/>
sei; der Aufenthaltsort, das Element oder Medium, die Nahrung, die Lebens¬<lb/>
weise des Tieres entscheiden darüber, wie es vom ersten Anfange seines Ent¬<lb/>
stehens an aufgebaut werden muß; das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige,<lb/>
nicht umgekehrt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1626" next="#ID_1627"> Alles das stand für Baer schon vor Darwins Auftreten fest. In seiner<lb/>
Polemik gegen diesen (vorzugsweise in der 1876 erschienenen Schrift: Über<lb/>
Darwins Lehre) entwickelte er hauptsächlich folgende Gegengründe. Art sei<lb/>
durchaus kein schwankender, sondern ein ganz fester Begriff, die Variabilität<lb/>
sei keineswegs unbegrenzt und bewege sich nicht planlos nach allen Richtungen<lb/>
hin; das seien Erfahrungsthatsachen. Die in Ägypten gefundnen Tiermumien<lb/>
und mehrere tausend Jahre alte Pflanzenteile bewiesen, daß die damals be¬<lb/>
stehenden Arten mit den heutigen völlig identisch seien. Wenn die von den<lb/>
Darwinianern behaupteten Umwandlungen Thatsache wären, dann müßten sich<lb/>
in historischer Zeit irgendwo einmal wenigstens nahe verwandte Arten in ein¬<lb/>
ander, z. B. Schafe in Ziegen verwandelt haben oder umgekehrt, das sei aber<lb/>
niemals vorgekommen. Nehme man aber zu unendlich langen Zeiträumen seine<lb/>
Zuflucht, dann lasse sich das Vorhandensein deutlich unterscheidbarer Arten<lb/>
erst recht nicht erklären. Die unendlich langen Zeiträume würden doch an¬<lb/>
genommen, weil die Entwicklung in unendlich vielen, winzig kleinen, für den<lb/>
Beobachter unwahrnehmbaren Schritten vor sich gehen soll. Nun sei es doch<lb/>
undenkbar, daß je eine bestimmte Anzahl oder Abteilung von Tieren oder<lb/>
Pflanzen jeden dieser unendlich vielen kleinen Schritte genau zu derselben Zeit,<lb/>
aber zu andrer Zeit als jede andre Abteilung gethan haben sollte, was man<lb/>
annehmen muß, wenn dabei unsre heutigen Arten herauskommen sollen. Viel¬<lb/>
mehr würde jedes organische Wesen bei diesem Fortschritt sein eignes Tempo<lb/>
innegehalten haben, und es würde eine unendliche Verschiedenheit dabei heraus¬<lb/>
gekommen sein, lauter unmerkliche Übergänge, sodaß eine Abgrenzung von<lb/>
Gattungen und Arten gar nicht möglich wäre. Durch Summirung vererbter<lb/>
Abänderungen sodann könne nur dann eine neue Art oder wenigstens eine<lb/>
neue Spielart entstehen, wenn die abändernde Ursache durch viele Geschlechts¬<lb/>
folgen hindurch beständig einwirke, wie das bei der Tierzucht der Fall sei;<lb/>
eine planlos wirkende Natur könne also nimmermehr einen solchen Erfolg er¬<lb/>
zielen, wie ihn der mit einer bestimmten Absicht einwirkende Züchter erzielt;<lb/>
zufällige Wirkungen heben einander gegenseitig auf, und die in der freien Natur<lb/>
durch solche zufällige Einwirkung entstandnen Abweichungen von der Normal¬<lb/>
gestalt verschwinden wieder. Deshalb könne auch der Kampf ums Dasein keine<lb/>
neue Arten hervorbringen. Der Züchter habe ein Ziel, der Kampf ums Dasein<lb/>
habe nur einen Erfolg, kein Ziel.  Sollte der Kampf ums Dasein im Sinne</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0579] Karl Ernst von Baer und der Darwinismus stehen, daß die Umgebung und die Lebensbedingungen die Organe schufen und umbildeten, sondern umgekehrt, die Organe seien so und nicht anders gebaut, weil das Tier für diese und keine andre Umgebung und Lebensweise bestimmt sei; der Aufenthaltsort, das Element oder Medium, die Nahrung, die Lebens¬ weise des Tieres entscheiden darüber, wie es vom ersten Anfange seines Ent¬ stehens an aufgebaut werden muß; das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, nicht umgekehrt. Alles das stand für Baer schon vor Darwins Auftreten fest. In seiner Polemik gegen diesen (vorzugsweise in der 1876 erschienenen Schrift: Über Darwins Lehre) entwickelte er hauptsächlich folgende Gegengründe. Art sei durchaus kein schwankender, sondern ein ganz fester Begriff, die Variabilität sei keineswegs unbegrenzt und bewege sich nicht planlos nach allen Richtungen hin; das seien Erfahrungsthatsachen. Die in Ägypten gefundnen Tiermumien und mehrere tausend Jahre alte Pflanzenteile bewiesen, daß die damals be¬ stehenden Arten mit den heutigen völlig identisch seien. Wenn die von den Darwinianern behaupteten Umwandlungen Thatsache wären, dann müßten sich in historischer Zeit irgendwo einmal wenigstens nahe verwandte Arten in ein¬ ander, z. B. Schafe in Ziegen verwandelt haben oder umgekehrt, das sei aber niemals vorgekommen. Nehme man aber zu unendlich langen Zeiträumen seine Zuflucht, dann lasse sich das Vorhandensein deutlich unterscheidbarer Arten erst recht nicht erklären. Die unendlich langen Zeiträume würden doch an¬ genommen, weil die Entwicklung in unendlich vielen, winzig kleinen, für den Beobachter unwahrnehmbaren Schritten vor sich gehen soll. Nun sei es doch undenkbar, daß je eine bestimmte Anzahl oder Abteilung von Tieren oder Pflanzen jeden dieser unendlich vielen kleinen Schritte genau zu derselben Zeit, aber zu andrer Zeit als jede andre Abteilung gethan haben sollte, was man annehmen muß, wenn dabei unsre heutigen Arten herauskommen sollen. Viel¬ mehr würde jedes organische Wesen bei diesem Fortschritt sein eignes Tempo innegehalten haben, und es würde eine unendliche Verschiedenheit dabei heraus¬ gekommen sein, lauter unmerkliche Übergänge, sodaß eine Abgrenzung von Gattungen und Arten gar nicht möglich wäre. Durch Summirung vererbter Abänderungen sodann könne nur dann eine neue Art oder wenigstens eine neue Spielart entstehen, wenn die abändernde Ursache durch viele Geschlechts¬ folgen hindurch beständig einwirke, wie das bei der Tierzucht der Fall sei; eine planlos wirkende Natur könne also nimmermehr einen solchen Erfolg er¬ zielen, wie ihn der mit einer bestimmten Absicht einwirkende Züchter erzielt; zufällige Wirkungen heben einander gegenseitig auf, und die in der freien Natur durch solche zufällige Einwirkung entstandnen Abweichungen von der Normal¬ gestalt verschwinden wieder. Deshalb könne auch der Kampf ums Dasein keine neue Arten hervorbringen. Der Züchter habe ein Ziel, der Kampf ums Dasein habe nur einen Erfolg, kein Ziel. Sollte der Kampf ums Dasein im Sinne

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/579
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/579>, abgerufen am 23.07.2024.