Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Karl Ernst von Baer und der Darwinismus Gestirne, durch Schluß aus der nach einiger Zeit wahrgenommnen Ortsver¬ Schon im Jahre 1826 hatte Baer seine Typenlehre vollendet. Darnach Karl Ernst von Baer und der Darwinismus Gestirne, durch Schluß aus der nach einiger Zeit wahrgenommnen Ortsver¬ Schon im Jahre 1826 hatte Baer seine Typenlehre vollendet. Darnach <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0578" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228214"/> <fw type="header" place="top"> Karl Ernst von Baer und der Darwinismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_1623" prev="#ID_1622"> Gestirne, durch Schluß aus der nach einiger Zeit wahrgenommnen Ortsver¬<lb/> änderung, dem Auge würde das sich bewegende Tier stillzustehen scheinen.<lb/> Beim tausend- oder millionenmal langsamer lebenden Wesen würde sich alles<lb/> entgegengesetzt Verhalten. Also wir lassen das alles beiseite und ziehen nur<lb/> Baers Kritik des Darwinismus in Betracht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1624" next="#ID_1625"> Schon im Jahre 1826 hatte Baer seine Typenlehre vollendet. Darnach<lb/> sind die großen Familien der verwandten Tiere bestimmt, „durch das gegen¬<lb/> seitige Lagerungssystem sämtlicher Organsysteme, welches sür jeden Typus ein<lb/> eigenartiges ist und dadurch die Verschiedenheit bedingt, auch wenn die Or¬<lb/> gane an sich die gleichen sind." Deshalb ist für ihn der Gedanke, daß Tiere<lb/> des einen Typus durch Transmutation aus Tieren eines andern hervorgehen<lb/> könnten, von vornherein ausgeschlossen, obwohl er die Transmutation an sich,<lb/> die sich aber auf ein Schwanken innerhalb gewisser Grenzen beschränke, für<lb/> Thatsache hält. Wie die Tiertypen geworden sind, weiß er nicht zu sagen,<lb/> aber er erklärt es für unwissenschaftlich, durch willkürliche Annahme den Schein<lb/> zu erwecken, als wisse man etwas von Dingen, von denen wir eben nichts<lb/> wissen können; wissenschaftlich sei es allein, unsre Unwissenheit einzugestehen.<lb/> Gewiß sei nur, daß sich in der Entwicklung der organischen Wesen „Ziel¬<lb/> strebigkeit" offenbare. Er zog diesen Ausdruck, den er erfunden hat, dem Worte<lb/> Zweckmäßigkeit vor, einmal, um den geheimnisvollen innern Drang der Wesen<lb/> nach Vervollkommnung und zu einem bestimmten Ziele hin zu bezeichnen, zum<lb/> andern, um die Vorstellung auszuschließen, als ob der nach einem Plane<lb/> schaffende Gott in jedem Augenblick gewissermaßen eigenhändig eingriffe; die<lb/> Welt sei eben mit dem ihr innewohnenden Gestaltungsdrange und der Ge¬<lb/> staltungskraft, die sie bestimmten Zielen zuführt, geschaffen. Als allgemeine<lb/> Ziele erkennt er: für die unorganische Welt die Herstellung der zur Entstehung<lb/> der Organismen notwendigen Bedingungen, für die organische Welt den Sieg<lb/> des Geistes über den Stoff, für alle übrigen Geschöpfe zusammen die Er¬<lb/> möglichung des Daseins des Menschengeschlechts, sür dieses selbst endlich den<lb/> geistigen Fortschritt. Das Ziel oder der Daseinszweck jeder Art von Wesen<lb/> bestimmt ihren Typus, und dieser bestimmt ihre Entwicklung. Baer zeigt z. B.<lb/> ausführlich an der Entwicklung des Vogeleis, daß sie nicht anders verlaufen<lb/> könne, als sie verläuft, wenn ein Vogel daraus werden soll, warum die Bildung<lb/> des Auges viel früher beginnen müsse als die des Schnabels usw., und er<lb/> schließt diese Betrachtung mit der Bemerkung, man dürfe nun nicht etwa sagen:<lb/> weil der Vogel Flügel und Füße hat, kann er fliegen und gehen, sondern man<lb/> müsse sagen: Flügel und Füße bilden sich aus, damit ein Vogel daraus werde;<lb/> von vornherein sei dieses Wesen derart angelegt, daß seine Extremitäten ganz<lb/> anders an den Rumpf befestigt seien als die der Vierfüßer. Gewiß seien alle<lb/> Wesen ihrer Umgebung und ihren Daseinsbedingungen angepaßt, dem Wohnort,<lb/> der Nahrung, dem Himmelsstrich, aber nicht so sei die Anpassung zu ver-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0578]
Karl Ernst von Baer und der Darwinismus
Gestirne, durch Schluß aus der nach einiger Zeit wahrgenommnen Ortsver¬
änderung, dem Auge würde das sich bewegende Tier stillzustehen scheinen.
Beim tausend- oder millionenmal langsamer lebenden Wesen würde sich alles
entgegengesetzt Verhalten. Also wir lassen das alles beiseite und ziehen nur
Baers Kritik des Darwinismus in Betracht.
Schon im Jahre 1826 hatte Baer seine Typenlehre vollendet. Darnach
sind die großen Familien der verwandten Tiere bestimmt, „durch das gegen¬
seitige Lagerungssystem sämtlicher Organsysteme, welches sür jeden Typus ein
eigenartiges ist und dadurch die Verschiedenheit bedingt, auch wenn die Or¬
gane an sich die gleichen sind." Deshalb ist für ihn der Gedanke, daß Tiere
des einen Typus durch Transmutation aus Tieren eines andern hervorgehen
könnten, von vornherein ausgeschlossen, obwohl er die Transmutation an sich,
die sich aber auf ein Schwanken innerhalb gewisser Grenzen beschränke, für
Thatsache hält. Wie die Tiertypen geworden sind, weiß er nicht zu sagen,
aber er erklärt es für unwissenschaftlich, durch willkürliche Annahme den Schein
zu erwecken, als wisse man etwas von Dingen, von denen wir eben nichts
wissen können; wissenschaftlich sei es allein, unsre Unwissenheit einzugestehen.
Gewiß sei nur, daß sich in der Entwicklung der organischen Wesen „Ziel¬
strebigkeit" offenbare. Er zog diesen Ausdruck, den er erfunden hat, dem Worte
Zweckmäßigkeit vor, einmal, um den geheimnisvollen innern Drang der Wesen
nach Vervollkommnung und zu einem bestimmten Ziele hin zu bezeichnen, zum
andern, um die Vorstellung auszuschließen, als ob der nach einem Plane
schaffende Gott in jedem Augenblick gewissermaßen eigenhändig eingriffe; die
Welt sei eben mit dem ihr innewohnenden Gestaltungsdrange und der Ge¬
staltungskraft, die sie bestimmten Zielen zuführt, geschaffen. Als allgemeine
Ziele erkennt er: für die unorganische Welt die Herstellung der zur Entstehung
der Organismen notwendigen Bedingungen, für die organische Welt den Sieg
des Geistes über den Stoff, für alle übrigen Geschöpfe zusammen die Er¬
möglichung des Daseins des Menschengeschlechts, sür dieses selbst endlich den
geistigen Fortschritt. Das Ziel oder der Daseinszweck jeder Art von Wesen
bestimmt ihren Typus, und dieser bestimmt ihre Entwicklung. Baer zeigt z. B.
ausführlich an der Entwicklung des Vogeleis, daß sie nicht anders verlaufen
könne, als sie verläuft, wenn ein Vogel daraus werden soll, warum die Bildung
des Auges viel früher beginnen müsse als die des Schnabels usw., und er
schließt diese Betrachtung mit der Bemerkung, man dürfe nun nicht etwa sagen:
weil der Vogel Flügel und Füße hat, kann er fliegen und gehen, sondern man
müsse sagen: Flügel und Füße bilden sich aus, damit ein Vogel daraus werde;
von vornherein sei dieses Wesen derart angelegt, daß seine Extremitäten ganz
anders an den Rumpf befestigt seien als die der Vierfüßer. Gewiß seien alle
Wesen ihrer Umgebung und ihren Daseinsbedingungen angepaßt, dem Wohnort,
der Nahrung, dem Himmelsstrich, aber nicht so sei die Anpassung zu ver-
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