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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Tieb seit dem Tode Richard Ivagners

sehen den Himmel offen. Im übrigen ist dieses Heft, das den Titel "Schlichte
Weisen" führt, das beste, das Strauß bis jetzt vorgelegt hat. Hervorzuheben
ist namentlich die Nummer "Ach, weh mir unglückhaften Mann," in der er
einen Fuhrmann mit Peitschenknallen und den andern Allüren des Gewerbes
sehr hübsch zur Belebung des Ganzen einführt. Äußerlich zeichnet die Melodik
von Strauß der Gebrauch von Figuren aus.

Noch verdient unter den allgemeiner bekanntern Musikern Felix Model an
dieser Stelle wegen drei (ohne Opuszcihl veröffentlichten) Heften erwähnt zu
werden, die neunzehn deutsche Gedichte in Musik bringen. Sie sind in den
ernsten und schwermütigen Stücken zum Teil bedeutend, wenn auch nicht gleich¬
mäßig und nicht frei von barocken Elementen und von Anklängen an Vrahms
und an "Tristan." Die freundlichen Nummern stehen im Durchschnitt eine
Stufe tiefer, wenn sie auch manchen hübschen Schnbertschen Zug bringen. In
der Mehrzahl sind sie in erster Linie Klavierstücke. Eins von ihnen, "Don
Fadrique," erregt besondre Aufmerksamkeit, weil es außerhalb der Oper zum
erstenmal Beckmessermusik bietet.

Das Spezialistentum im Lied ist der Gefahr, in Manier zu verfallen,
leicht ausgesetzt. Aber im allgemeinen hat es in allen Perioden die Entwick¬
lung der Gattung bedeutend gefördert. Wir haben es daher zu begrüßen,
daß sich auch in der Gegenwart eine Reihe von Musikern ausschließlich der
Liedkomposition gewidmet hat. Ein Teil von ihnen kommt hier nicht in Frage,
weil er für den gröbsten Bedarf, für den Liederpöbel, fabrizirt. Andre haben
sich in ihrer Entwicklung noch nicht geklärt. Das ist z. B. mit Hermann
Behn der Fall, der in seinein Op. 1 mit unzulänglichen Kräften ein richtiges
Ziel, eine gehaltvolle Liedmusik in einfachster Form verfolgte, später aber einen
vollständigen Konfessionswechsel vollzogen hat und jetzt fleißig Klavierlieder
schreibt. Kräftige Männlichkeit und ein bedeutender Kunstverstand zeichnen
seine bessern und selbständigem Kompositionen aus. Genannt seien: "Der
Ritt in den Tod," "Das Gebet," "Am Rhein, dem heiligen Strom" -- alle
in Op. 2, und die vier Gesänge seines Op. 5, ganz besonders daraus "Ein¬
gelegte Unter." Das Talent des Komponisten neigt einem Zug, der durch
alle Kunst unsrer Zeit geht, entsprechend zum Ernster. Viele Hoffnungen
erweckt mit seinen noch nicht zahlreichen Liedern E. O. Nodnagel. Sie zeichnen
sich durch Kenntnis der gefänglichen Mittel, natürliches poetisches Empfinden
und dnrch originelle Kombinationen aus. In der "Gebrochnen Treue" fingt
der Baß im "/s-Takt, als Erinnerung zieht dazu durchs Klavier ein Walzer
in 2/4. Solche rhythmische Bündnisse begegnen uns ja im neuesten Liede
sehr häufig, aber in der Regel sind sie unnatürlich, reine Produkte der
Spekulation.

Unter den Spezialistin der Gegenwart darf Martin Plüddemann nicht
übergangen werden. Wenn auch sein Wollen das Können bedeutend überragte,


Das deutsche Tieb seit dem Tode Richard Ivagners

sehen den Himmel offen. Im übrigen ist dieses Heft, das den Titel „Schlichte
Weisen" führt, das beste, das Strauß bis jetzt vorgelegt hat. Hervorzuheben
ist namentlich die Nummer „Ach, weh mir unglückhaften Mann," in der er
einen Fuhrmann mit Peitschenknallen und den andern Allüren des Gewerbes
sehr hübsch zur Belebung des Ganzen einführt. Äußerlich zeichnet die Melodik
von Strauß der Gebrauch von Figuren aus.

Noch verdient unter den allgemeiner bekanntern Musikern Felix Model an
dieser Stelle wegen drei (ohne Opuszcihl veröffentlichten) Heften erwähnt zu
werden, die neunzehn deutsche Gedichte in Musik bringen. Sie sind in den
ernsten und schwermütigen Stücken zum Teil bedeutend, wenn auch nicht gleich¬
mäßig und nicht frei von barocken Elementen und von Anklängen an Vrahms
und an „Tristan." Die freundlichen Nummern stehen im Durchschnitt eine
Stufe tiefer, wenn sie auch manchen hübschen Schnbertschen Zug bringen. In
der Mehrzahl sind sie in erster Linie Klavierstücke. Eins von ihnen, „Don
Fadrique," erregt besondre Aufmerksamkeit, weil es außerhalb der Oper zum
erstenmal Beckmessermusik bietet.

Das Spezialistentum im Lied ist der Gefahr, in Manier zu verfallen,
leicht ausgesetzt. Aber im allgemeinen hat es in allen Perioden die Entwick¬
lung der Gattung bedeutend gefördert. Wir haben es daher zu begrüßen,
daß sich auch in der Gegenwart eine Reihe von Musikern ausschließlich der
Liedkomposition gewidmet hat. Ein Teil von ihnen kommt hier nicht in Frage,
weil er für den gröbsten Bedarf, für den Liederpöbel, fabrizirt. Andre haben
sich in ihrer Entwicklung noch nicht geklärt. Das ist z. B. mit Hermann
Behn der Fall, der in seinein Op. 1 mit unzulänglichen Kräften ein richtiges
Ziel, eine gehaltvolle Liedmusik in einfachster Form verfolgte, später aber einen
vollständigen Konfessionswechsel vollzogen hat und jetzt fleißig Klavierlieder
schreibt. Kräftige Männlichkeit und ein bedeutender Kunstverstand zeichnen
seine bessern und selbständigem Kompositionen aus. Genannt seien: „Der
Ritt in den Tod," „Das Gebet," „Am Rhein, dem heiligen Strom" — alle
in Op. 2, und die vier Gesänge seines Op. 5, ganz besonders daraus „Ein¬
gelegte Unter." Das Talent des Komponisten neigt einem Zug, der durch
alle Kunst unsrer Zeit geht, entsprechend zum Ernster. Viele Hoffnungen
erweckt mit seinen noch nicht zahlreichen Liedern E. O. Nodnagel. Sie zeichnen
sich durch Kenntnis der gefänglichen Mittel, natürliches poetisches Empfinden
und dnrch originelle Kombinationen aus. In der „Gebrochnen Treue" fingt
der Baß im "/s-Takt, als Erinnerung zieht dazu durchs Klavier ein Walzer
in 2/4. Solche rhythmische Bündnisse begegnen uns ja im neuesten Liede
sehr häufig, aber in der Regel sind sie unnatürlich, reine Produkte der
Spekulation.

Unter den Spezialistin der Gegenwart darf Martin Plüddemann nicht
übergangen werden. Wenn auch sein Wollen das Können bedeutend überragte,


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[0548] Das deutsche Tieb seit dem Tode Richard Ivagners sehen den Himmel offen. Im übrigen ist dieses Heft, das den Titel „Schlichte Weisen" führt, das beste, das Strauß bis jetzt vorgelegt hat. Hervorzuheben ist namentlich die Nummer „Ach, weh mir unglückhaften Mann," in der er einen Fuhrmann mit Peitschenknallen und den andern Allüren des Gewerbes sehr hübsch zur Belebung des Ganzen einführt. Äußerlich zeichnet die Melodik von Strauß der Gebrauch von Figuren aus. Noch verdient unter den allgemeiner bekanntern Musikern Felix Model an dieser Stelle wegen drei (ohne Opuszcihl veröffentlichten) Heften erwähnt zu werden, die neunzehn deutsche Gedichte in Musik bringen. Sie sind in den ernsten und schwermütigen Stücken zum Teil bedeutend, wenn auch nicht gleich¬ mäßig und nicht frei von barocken Elementen und von Anklängen an Vrahms und an „Tristan." Die freundlichen Nummern stehen im Durchschnitt eine Stufe tiefer, wenn sie auch manchen hübschen Schnbertschen Zug bringen. In der Mehrzahl sind sie in erster Linie Klavierstücke. Eins von ihnen, „Don Fadrique," erregt besondre Aufmerksamkeit, weil es außerhalb der Oper zum erstenmal Beckmessermusik bietet. Das Spezialistentum im Lied ist der Gefahr, in Manier zu verfallen, leicht ausgesetzt. Aber im allgemeinen hat es in allen Perioden die Entwick¬ lung der Gattung bedeutend gefördert. Wir haben es daher zu begrüßen, daß sich auch in der Gegenwart eine Reihe von Musikern ausschließlich der Liedkomposition gewidmet hat. Ein Teil von ihnen kommt hier nicht in Frage, weil er für den gröbsten Bedarf, für den Liederpöbel, fabrizirt. Andre haben sich in ihrer Entwicklung noch nicht geklärt. Das ist z. B. mit Hermann Behn der Fall, der in seinein Op. 1 mit unzulänglichen Kräften ein richtiges Ziel, eine gehaltvolle Liedmusik in einfachster Form verfolgte, später aber einen vollständigen Konfessionswechsel vollzogen hat und jetzt fleißig Klavierlieder schreibt. Kräftige Männlichkeit und ein bedeutender Kunstverstand zeichnen seine bessern und selbständigem Kompositionen aus. Genannt seien: „Der Ritt in den Tod," „Das Gebet," „Am Rhein, dem heiligen Strom" — alle in Op. 2, und die vier Gesänge seines Op. 5, ganz besonders daraus „Ein¬ gelegte Unter." Das Talent des Komponisten neigt einem Zug, der durch alle Kunst unsrer Zeit geht, entsprechend zum Ernster. Viele Hoffnungen erweckt mit seinen noch nicht zahlreichen Liedern E. O. Nodnagel. Sie zeichnen sich durch Kenntnis der gefänglichen Mittel, natürliches poetisches Empfinden und dnrch originelle Kombinationen aus. In der „Gebrochnen Treue" fingt der Baß im "/s-Takt, als Erinnerung zieht dazu durchs Klavier ein Walzer in 2/4. Solche rhythmische Bündnisse begegnen uns ja im neuesten Liede sehr häufig, aber in der Regel sind sie unnatürlich, reine Produkte der Spekulation. Unter den Spezialistin der Gegenwart darf Martin Plüddemann nicht übergangen werden. Wenn auch sein Wollen das Können bedeutend überragte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/548>, abgerufen am 23.07.2024.