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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard lvagners

Ernstes. Kein andres Volk hat es uns bis jetzt nachmachen können, noch
weniger als unsre Universitäten. Den jungen Komponisten kann man nur
zurufen: Geht hin und trinkt aus dieser poetischen Quelle und lernt an ihr,
was deutsches Leben außer verwegner oder zimperlicher Erotik noch zu bieten
hat. Das wird ein Schritt zur Besserung sein, aber nur einer. Des Wurzels
Übel liegt doch wohl darin, daß das neue Lied mit dieser Einseitigkeit einer
Neigung des heutigen Geschlechts entspricht. Künstler und Kunstfreunde müssen
sich jedoch gegenseitig erziehen. Ein Teil der Schuld fällt auch auf die That¬
sache, daß die Mehrzahl der Liederkomponisten und Musiker mit Dichtung und
Litteraturgeschichte nur wenig vertraut ist. Ein Rezensent der bekannten
"Signale" fragte neulich ziemlich von oben herab, wer denn eigentlich "dieser
Prinz Rosa Stramin" wäre. Er hielt ihn offenbar für einen obskuren Lieder¬
dichter. Tragikomisch ist es, daß bisher unsre deutschen Männerchöre die ein¬
stimmigen Sänger im Girren und Balzen tapfer unterstützt haben. Vielleicht
werden sie durch die Richtung, die mit den Hegarschen Balladen im Mäuner-
gesang eingeschlagen worden ist, auf einen bessern Weg gedrängt, auf den dann
möglicherweise das Sololied nachfolgt.

Gegen schädliche Einflüsse, gegen Unklarheit in den Grundsätzen giebt es
nur ein Mittel: hohe allgemeine Bildung. Wenn diese wie im Musikerstande
überhaupt, so unter den Liederkomponisten unleugbar einen Rückgang bemerken
läßt, so kommt das von den Mängeln des Konservatorienshstems. An spezifisch
musikalischer Begabung fürs Lied kann sich unsre Zeit mit den vomusgegangnen
Perioden wohl messen; sie übertrifft sie noch in Gediegenheit und Vornehmheit.
Es könnte sogar nichts schaden, wenn sich das Zwitschern leichterer Vögel wie
Erik Meyer-Helmund etwas häufiger vernehmen ließe. Die Richtung entscheidet
heute über das Geschick eines Liederkomponisten viel bestimmter als vor drei
Jahrzehnten. Ein Paul Frommer bleibt heute trotz allen Fleißes und aller
Bemühungen des Verlegers unten. Ebenso sind die Ansprüche an Individualität
gewachsen. Das ist zum Teil ein Übelstand, der sich aus der Verwöhnung
der vorhergehenden Periode ergiebt. Aber er ist eine Thatsache, und darunter
haben Liederkomponisten wie Al. von Fielitz, wie Robert Kahn zu leiden. Das
sind Künstler, die ein Menschenalter früher eine viel höhere Stellung ein¬
genommen Hütten.

Eine bemerkenswerte Erscheinung in der neuesten Liederproduktion ist die
Beteiligung hervorragend begabter Damen. In der That hat die Frau die
wichtigsten Talente, die die Gattung verlangt, lebhaftes und richtiges Gefühl,
Formensinn und Takt, von Natur aus.

Ganz natürlich erregen die Liederkomponisten die meiste Aufmerksamkeit,
die schon auf andern musikalischen Gebieten einen Namen haben. Diesem Um¬
stände hat es Eugen d'Albert zu danken, daß gleich von seinem ersten Lieder¬
hefte ab sich die Sänger seiner angenommen haben. Der Griff, den sie da


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard lvagners

Ernstes. Kein andres Volk hat es uns bis jetzt nachmachen können, noch
weniger als unsre Universitäten. Den jungen Komponisten kann man nur
zurufen: Geht hin und trinkt aus dieser poetischen Quelle und lernt an ihr,
was deutsches Leben außer verwegner oder zimperlicher Erotik noch zu bieten
hat. Das wird ein Schritt zur Besserung sein, aber nur einer. Des Wurzels
Übel liegt doch wohl darin, daß das neue Lied mit dieser Einseitigkeit einer
Neigung des heutigen Geschlechts entspricht. Künstler und Kunstfreunde müssen
sich jedoch gegenseitig erziehen. Ein Teil der Schuld fällt auch auf die That¬
sache, daß die Mehrzahl der Liederkomponisten und Musiker mit Dichtung und
Litteraturgeschichte nur wenig vertraut ist. Ein Rezensent der bekannten
„Signale" fragte neulich ziemlich von oben herab, wer denn eigentlich „dieser
Prinz Rosa Stramin" wäre. Er hielt ihn offenbar für einen obskuren Lieder¬
dichter. Tragikomisch ist es, daß bisher unsre deutschen Männerchöre die ein¬
stimmigen Sänger im Girren und Balzen tapfer unterstützt haben. Vielleicht
werden sie durch die Richtung, die mit den Hegarschen Balladen im Mäuner-
gesang eingeschlagen worden ist, auf einen bessern Weg gedrängt, auf den dann
möglicherweise das Sololied nachfolgt.

Gegen schädliche Einflüsse, gegen Unklarheit in den Grundsätzen giebt es
nur ein Mittel: hohe allgemeine Bildung. Wenn diese wie im Musikerstande
überhaupt, so unter den Liederkomponisten unleugbar einen Rückgang bemerken
läßt, so kommt das von den Mängeln des Konservatorienshstems. An spezifisch
musikalischer Begabung fürs Lied kann sich unsre Zeit mit den vomusgegangnen
Perioden wohl messen; sie übertrifft sie noch in Gediegenheit und Vornehmheit.
Es könnte sogar nichts schaden, wenn sich das Zwitschern leichterer Vögel wie
Erik Meyer-Helmund etwas häufiger vernehmen ließe. Die Richtung entscheidet
heute über das Geschick eines Liederkomponisten viel bestimmter als vor drei
Jahrzehnten. Ein Paul Frommer bleibt heute trotz allen Fleißes und aller
Bemühungen des Verlegers unten. Ebenso sind die Ansprüche an Individualität
gewachsen. Das ist zum Teil ein Übelstand, der sich aus der Verwöhnung
der vorhergehenden Periode ergiebt. Aber er ist eine Thatsache, und darunter
haben Liederkomponisten wie Al. von Fielitz, wie Robert Kahn zu leiden. Das
sind Künstler, die ein Menschenalter früher eine viel höhere Stellung ein¬
genommen Hütten.

Eine bemerkenswerte Erscheinung in der neuesten Liederproduktion ist die
Beteiligung hervorragend begabter Damen. In der That hat die Frau die
wichtigsten Talente, die die Gattung verlangt, lebhaftes und richtiges Gefühl,
Formensinn und Takt, von Natur aus.

Ganz natürlich erregen die Liederkomponisten die meiste Aufmerksamkeit,
die schon auf andern musikalischen Gebieten einen Namen haben. Diesem Um¬
stände hat es Eugen d'Albert zu danken, daß gleich von seinem ersten Lieder¬
hefte ab sich die Sänger seiner angenommen haben. Der Griff, den sie da


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[0546] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard lvagners Ernstes. Kein andres Volk hat es uns bis jetzt nachmachen können, noch weniger als unsre Universitäten. Den jungen Komponisten kann man nur zurufen: Geht hin und trinkt aus dieser poetischen Quelle und lernt an ihr, was deutsches Leben außer verwegner oder zimperlicher Erotik noch zu bieten hat. Das wird ein Schritt zur Besserung sein, aber nur einer. Des Wurzels Übel liegt doch wohl darin, daß das neue Lied mit dieser Einseitigkeit einer Neigung des heutigen Geschlechts entspricht. Künstler und Kunstfreunde müssen sich jedoch gegenseitig erziehen. Ein Teil der Schuld fällt auch auf die That¬ sache, daß die Mehrzahl der Liederkomponisten und Musiker mit Dichtung und Litteraturgeschichte nur wenig vertraut ist. Ein Rezensent der bekannten „Signale" fragte neulich ziemlich von oben herab, wer denn eigentlich „dieser Prinz Rosa Stramin" wäre. Er hielt ihn offenbar für einen obskuren Lieder¬ dichter. Tragikomisch ist es, daß bisher unsre deutschen Männerchöre die ein¬ stimmigen Sänger im Girren und Balzen tapfer unterstützt haben. Vielleicht werden sie durch die Richtung, die mit den Hegarschen Balladen im Mäuner- gesang eingeschlagen worden ist, auf einen bessern Weg gedrängt, auf den dann möglicherweise das Sololied nachfolgt. Gegen schädliche Einflüsse, gegen Unklarheit in den Grundsätzen giebt es nur ein Mittel: hohe allgemeine Bildung. Wenn diese wie im Musikerstande überhaupt, so unter den Liederkomponisten unleugbar einen Rückgang bemerken läßt, so kommt das von den Mängeln des Konservatorienshstems. An spezifisch musikalischer Begabung fürs Lied kann sich unsre Zeit mit den vomusgegangnen Perioden wohl messen; sie übertrifft sie noch in Gediegenheit und Vornehmheit. Es könnte sogar nichts schaden, wenn sich das Zwitschern leichterer Vögel wie Erik Meyer-Helmund etwas häufiger vernehmen ließe. Die Richtung entscheidet heute über das Geschick eines Liederkomponisten viel bestimmter als vor drei Jahrzehnten. Ein Paul Frommer bleibt heute trotz allen Fleißes und aller Bemühungen des Verlegers unten. Ebenso sind die Ansprüche an Individualität gewachsen. Das ist zum Teil ein Übelstand, der sich aus der Verwöhnung der vorhergehenden Periode ergiebt. Aber er ist eine Thatsache, und darunter haben Liederkomponisten wie Al. von Fielitz, wie Robert Kahn zu leiden. Das sind Künstler, die ein Menschenalter früher eine viel höhere Stellung ein¬ genommen Hütten. Eine bemerkenswerte Erscheinung in der neuesten Liederproduktion ist die Beteiligung hervorragend begabter Damen. In der That hat die Frau die wichtigsten Talente, die die Gattung verlangt, lebhaftes und richtiges Gefühl, Formensinn und Takt, von Natur aus. Ganz natürlich erregen die Liederkomponisten die meiste Aufmerksamkeit, die schon auf andern musikalischen Gebieten einen Namen haben. Diesem Um¬ stände hat es Eugen d'Albert zu danken, daß gleich von seinem ersten Lieder¬ hefte ab sich die Sänger seiner angenommen haben. Der Griff, den sie da

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/546>, abgerufen am 23.07.2024.