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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neues zur Litteratur über Dante

Carl Winter) die Aufgabe gestellt, "eine Darstellung dessen zu geben, was
Natur und Kunst Italiens an Beziehungen zu Dante aufweist." Es wäre
nun für einen Büchermacher, der das große Publikum gewinnen will, sehr
leicht gewesen, alle Orte, in denen Dante gelebt, die er berührt oder auch in
seinen Dichtungen geschildert oder nur beiläufig erwähnt hat, durch Reproduk¬
tionen von Lichtbildern zu veranschaulichen, die in ganz Italien für wenige
Centesimi zu haben sind oder, wo sie fehlen, in wenigen Stunden durch rad¬
fahrende Amateurphotographen hergestellt werden können. Bassermann hat
aber dieser Versuchung widerstanden. Abgesehen davon, daß ein derartiges
Werk schon -- und zwar ausnahmsweise einmal von einem italienischen Buch¬
händler schweizerischer Abkunft -- begonnen worden ist, hat Bassermann
auf solche billige Hilfsmittel verzichtet, weil sie in Wirklichkeit zur Erklärung
des Lebens und der Dichtungen Dantes nichts beitragen können. Was Dante
sah, sieht man heute nicht mehr: daß das bei großen Städten wie z. B. Florenz,
dem Mittelpunkte von Dantes politischen und dichterischen Kämpfen, der Fall
ist, ist selbstverständlich. Aber auch Städte, die außerhalb der geschäftlichen
Berechnungen des modernen Staatswesens und der modernen Industrie liegen,
haben seit Dantes Zeit so gewaltige Veränderungen erfahren, daß es thöricht
wäre, ihre heutige Physiognomie zur Illustration der Göttlichen Komödie zu
benutzen. Selbst einsame Gebirgsthäler, Bergrücken, menschenleere Hochebenen,
wilde Engpässe sind durch kunstvolle Landstraßen und kühne Schienenwege zu¬
gänglich geworden, und damit hat man sie jeuer jungfräulichen Schönheit und
Strenge beraubt, die den vornehmsten Reiz der Dantischen Naturschilderungen
ausmachen. Ohnehin sind diese so allgemein, so absichtlich rätselhaft gehalten,
daß der Forscher die litterarischen Anhaltpunkte mit den örtlichen sehr scharf
vergleichen muß, um nur zu einem Ergebnis zu gelangen, das seine Gewissen¬
haftigkeit als einigermaßen sicher ausgeben darf. Die Phantasie muß er dabei
so streng zügeln, daß sie ihm niemals einen Streich spielen darf, und wenn
er wirklich die sichersten Beweise in den Händen zu haben glaubt, ist er noch
immer nicht über den Zweifel erhaben, daß Dante wirklich den Ort selbst ge¬
sehen hat, den er so wunderbar plastisch geschildert hat.

Die dichterische Phantasie kann, wenn sie sich auf mündliche oder litte¬
rarische Überlieferung zu stützen vermag, Unglaubliches und Unfaßbares ver¬
richten. Das allgemein bekannte klassische Beispiel dafür ist unser Schiller,
der die Schweiz nur aus sehr dürftigen Beschreibungen und vielleicht auch
aus den mündlichen Mitteilungen von heinigekehrten Reisenden kennen gelernt
hatte. Es muß etwas von einem Seher, wie die alten Griechen sagten, oder
von einem innern Gesicht, wie die Modernen sagen, in Schiller gesteckt haben.
Denn die eidgenössischen Behörden haben in spätern Jahren alles, was
Schiller gesehen und in seinem "Wilhelm Tell" dargestellt hat, amtlich be¬
glaubigt.


Neues zur Litteratur über Dante

Carl Winter) die Aufgabe gestellt, „eine Darstellung dessen zu geben, was
Natur und Kunst Italiens an Beziehungen zu Dante aufweist." Es wäre
nun für einen Büchermacher, der das große Publikum gewinnen will, sehr
leicht gewesen, alle Orte, in denen Dante gelebt, die er berührt oder auch in
seinen Dichtungen geschildert oder nur beiläufig erwähnt hat, durch Reproduk¬
tionen von Lichtbildern zu veranschaulichen, die in ganz Italien für wenige
Centesimi zu haben sind oder, wo sie fehlen, in wenigen Stunden durch rad¬
fahrende Amateurphotographen hergestellt werden können. Bassermann hat
aber dieser Versuchung widerstanden. Abgesehen davon, daß ein derartiges
Werk schon — und zwar ausnahmsweise einmal von einem italienischen Buch¬
händler schweizerischer Abkunft — begonnen worden ist, hat Bassermann
auf solche billige Hilfsmittel verzichtet, weil sie in Wirklichkeit zur Erklärung
des Lebens und der Dichtungen Dantes nichts beitragen können. Was Dante
sah, sieht man heute nicht mehr: daß das bei großen Städten wie z. B. Florenz,
dem Mittelpunkte von Dantes politischen und dichterischen Kämpfen, der Fall
ist, ist selbstverständlich. Aber auch Städte, die außerhalb der geschäftlichen
Berechnungen des modernen Staatswesens und der modernen Industrie liegen,
haben seit Dantes Zeit so gewaltige Veränderungen erfahren, daß es thöricht
wäre, ihre heutige Physiognomie zur Illustration der Göttlichen Komödie zu
benutzen. Selbst einsame Gebirgsthäler, Bergrücken, menschenleere Hochebenen,
wilde Engpässe sind durch kunstvolle Landstraßen und kühne Schienenwege zu¬
gänglich geworden, und damit hat man sie jeuer jungfräulichen Schönheit und
Strenge beraubt, die den vornehmsten Reiz der Dantischen Naturschilderungen
ausmachen. Ohnehin sind diese so allgemein, so absichtlich rätselhaft gehalten,
daß der Forscher die litterarischen Anhaltpunkte mit den örtlichen sehr scharf
vergleichen muß, um nur zu einem Ergebnis zu gelangen, das seine Gewissen¬
haftigkeit als einigermaßen sicher ausgeben darf. Die Phantasie muß er dabei
so streng zügeln, daß sie ihm niemals einen Streich spielen darf, und wenn
er wirklich die sichersten Beweise in den Händen zu haben glaubt, ist er noch
immer nicht über den Zweifel erhaben, daß Dante wirklich den Ort selbst ge¬
sehen hat, den er so wunderbar plastisch geschildert hat.

Die dichterische Phantasie kann, wenn sie sich auf mündliche oder litte¬
rarische Überlieferung zu stützen vermag, Unglaubliches und Unfaßbares ver¬
richten. Das allgemein bekannte klassische Beispiel dafür ist unser Schiller,
der die Schweiz nur aus sehr dürftigen Beschreibungen und vielleicht auch
aus den mündlichen Mitteilungen von heinigekehrten Reisenden kennen gelernt
hatte. Es muß etwas von einem Seher, wie die alten Griechen sagten, oder
von einem innern Gesicht, wie die Modernen sagen, in Schiller gesteckt haben.
Denn die eidgenössischen Behörden haben in spätern Jahren alles, was
Schiller gesehen und in seinem „Wilhelm Tell" dargestellt hat, amtlich be¬
glaubigt.


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[0495] Neues zur Litteratur über Dante Carl Winter) die Aufgabe gestellt, „eine Darstellung dessen zu geben, was Natur und Kunst Italiens an Beziehungen zu Dante aufweist." Es wäre nun für einen Büchermacher, der das große Publikum gewinnen will, sehr leicht gewesen, alle Orte, in denen Dante gelebt, die er berührt oder auch in seinen Dichtungen geschildert oder nur beiläufig erwähnt hat, durch Reproduk¬ tionen von Lichtbildern zu veranschaulichen, die in ganz Italien für wenige Centesimi zu haben sind oder, wo sie fehlen, in wenigen Stunden durch rad¬ fahrende Amateurphotographen hergestellt werden können. Bassermann hat aber dieser Versuchung widerstanden. Abgesehen davon, daß ein derartiges Werk schon — und zwar ausnahmsweise einmal von einem italienischen Buch¬ händler schweizerischer Abkunft — begonnen worden ist, hat Bassermann auf solche billige Hilfsmittel verzichtet, weil sie in Wirklichkeit zur Erklärung des Lebens und der Dichtungen Dantes nichts beitragen können. Was Dante sah, sieht man heute nicht mehr: daß das bei großen Städten wie z. B. Florenz, dem Mittelpunkte von Dantes politischen und dichterischen Kämpfen, der Fall ist, ist selbstverständlich. Aber auch Städte, die außerhalb der geschäftlichen Berechnungen des modernen Staatswesens und der modernen Industrie liegen, haben seit Dantes Zeit so gewaltige Veränderungen erfahren, daß es thöricht wäre, ihre heutige Physiognomie zur Illustration der Göttlichen Komödie zu benutzen. Selbst einsame Gebirgsthäler, Bergrücken, menschenleere Hochebenen, wilde Engpässe sind durch kunstvolle Landstraßen und kühne Schienenwege zu¬ gänglich geworden, und damit hat man sie jeuer jungfräulichen Schönheit und Strenge beraubt, die den vornehmsten Reiz der Dantischen Naturschilderungen ausmachen. Ohnehin sind diese so allgemein, so absichtlich rätselhaft gehalten, daß der Forscher die litterarischen Anhaltpunkte mit den örtlichen sehr scharf vergleichen muß, um nur zu einem Ergebnis zu gelangen, das seine Gewissen¬ haftigkeit als einigermaßen sicher ausgeben darf. Die Phantasie muß er dabei so streng zügeln, daß sie ihm niemals einen Streich spielen darf, und wenn er wirklich die sichersten Beweise in den Händen zu haben glaubt, ist er noch immer nicht über den Zweifel erhaben, daß Dante wirklich den Ort selbst ge¬ sehen hat, den er so wunderbar plastisch geschildert hat. Die dichterische Phantasie kann, wenn sie sich auf mündliche oder litte¬ rarische Überlieferung zu stützen vermag, Unglaubliches und Unfaßbares ver¬ richten. Das allgemein bekannte klassische Beispiel dafür ist unser Schiller, der die Schweiz nur aus sehr dürftigen Beschreibungen und vielleicht auch aus den mündlichen Mitteilungen von heinigekehrten Reisenden kennen gelernt hatte. Es muß etwas von einem Seher, wie die alten Griechen sagten, oder von einem innern Gesicht, wie die Modernen sagen, in Schiller gesteckt haben. Denn die eidgenössischen Behörden haben in spätern Jahren alles, was Schiller gesehen und in seinem „Wilhelm Tell" dargestellt hat, amtlich be¬ glaubigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/495>, abgerufen am 23.07.2024.