Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Friedrich Nietzsche bloß in solchen Füllen, wo ein Übermaß physischer Übel die Menschen bald In pädagogischer Hinsicht ist es nun ohne Zweifel vorteilhaft, wenn diese Die Orvyiker haben die Mischung von Gut und Böse im Menschen durch den Mythus
von Dionysos-Zagreus zu erklären versucht. Nietzsche hat diese Seite des Mythus, die Döllinger (Heidentum und Judentum S, >!',->) darstellt, nicht berührt. Friedrich Nietzsche bloß in solchen Füllen, wo ein Übermaß physischer Übel die Menschen bald In pädagogischer Hinsicht ist es nun ohne Zweifel vorteilhaft, wenn diese Die Orvyiker haben die Mischung von Gut und Böse im Menschen durch den Mythus
von Dionysos-Zagreus zu erklären versucht. Nietzsche hat diese Seite des Mythus, die Döllinger (Heidentum und Judentum S, >!',->) darstellt, nicht berührt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228120"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1330" prev="#ID_1329"> bloß in solchen Füllen, wo ein Übermaß physischer Übel die Menschen bald<lb/> niederdrückt und verkümmern läßt, bald zu wilder Wut und Grausamkeit an¬<lb/> stachelt, sondern schon im ruhigen und gesetzmäßigen Verlaufe des Lebens.<lb/> So z. B. fordert die Idee des Menschen, und zwar die Unteridee der Ord¬<lb/> nung, die Vereinigung je eines Mannes mit einem Weibe unter Ausschluß<lb/> jedes andern geschlechtlichen Verkehrs; dagegen fordert der eine der Zwecke der<lb/> geschlechtlichen Differenzirung: die Fortpflanzung des Menschengeschlechts,<lb/> wenigstens beim aktiven Teil eine solche Stärke des Geschlechtstriebs, daß die<lb/> strenge Beschränkung seiner Befriedigung auf die Ehe namentlich dort, wo<lb/> deren rechtzeitigen Abschluß Hindernisse im Wege stehen, dem Durchschnitts¬<lb/> mann meistens zu sauer vorkommt. Solche Hindernisse entspringen aus den<lb/> gesellschaftlichen Verhältnissen und Einrichtungen, und diese bilden nun die<lb/> andre Schranke, insbesondre durch die zahllosen Interessenkonflikte, die es mit<lb/> sich bringen, daß der eine um seiner Selbsterhaltung willen zur Schädigung<lb/> des andern, also zur Verletzung der Liebe und Gerechtigkeit gezwungen ist.<lb/> So erscheint denn die Sünde, wie die Bibel den Widerspruch gegen das<lb/> Menschheitsidcal nennt, als unvermeidlich. Wird sie als Widerspruch gegen<lb/> den Willen Gottes aufgefaßt, so ist das durch die Bemerkung zu ergänzen,<lb/> daß es sich hier eigentlich um einen Widerspruch zwischen zwei Willen Gottes<lb/> handelt, indem Gott einerseits will, daß die Geschöpfe ihm ähnlich seien,<lb/> andrerseits aber eine Einrichtung der Welt, die diese Ähnlichkeit — wenigstens<lb/> innerhalb des Bereichs des Irdischen — an der Vollendung hindert.") Dem<lb/> Glauben an die Güte Gottes thut das keinen Eintrag, da das Dasein der<lb/> Welt gerechtfertigt ist, wenn die Bilanz zwischen Weltseligkeit und Weltelend<lb/> zu Gunsten der ersten ausfüllt, was nach dem Glauben der Mehrzahl der Fall<lb/> ist. Dagegen sieht sich der Philosoph genötigt, den Begriff der Allmacht<lb/> Gottes einzuschränken und sein Walten und Wirken an Gesetze gebunden zu<lb/> denken, die er nicht ändern kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1331" next="#ID_1332"> In pädagogischer Hinsicht ist es nun ohne Zweifel vorteilhaft, wenn diese<lb/> Seite der Sache der Mehrzahl und namentlich der Jugend verborgen und der<lb/> Blick ausschließlich auf das zu erstrebende Ideal als den alleinigen Willen<lb/> Gottes gerichtet bleibt. Die Naturnotwendigkeit, die gesellschaftlichen Übel und<lb/> die Schranken der Individualität erscheinen dann als Wirkungen einer Gott<lb/> feindlichen Macht, die im Parsismus als Ahriman, in der jüdischen und der<lb/> christlichen Mythologie als Teufel erscheint. Da Christus den Volksscharen<lb/> unmöglich philosophische Vortrüge halten konnte, mußte er sich in seiner Aus¬<lb/> drucksweise dem Volksglauben anbequemen, der so natürlich ist, daß sich seiner<lb/> auch der Gebildete nur mit Mühe erwehren kann. Wenn ich einen am ganzen</p><lb/> <note xml:id="FID_30" place="foot"> Die Orvyiker haben die Mischung von Gut und Böse im Menschen durch den Mythus<lb/> von Dionysos-Zagreus zu erklären versucht. Nietzsche hat diese Seite des Mythus, die Döllinger<lb/> (Heidentum und Judentum S, >!',->) darstellt, nicht berührt.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0484]
Friedrich Nietzsche
bloß in solchen Füllen, wo ein Übermaß physischer Übel die Menschen bald
niederdrückt und verkümmern läßt, bald zu wilder Wut und Grausamkeit an¬
stachelt, sondern schon im ruhigen und gesetzmäßigen Verlaufe des Lebens.
So z. B. fordert die Idee des Menschen, und zwar die Unteridee der Ord¬
nung, die Vereinigung je eines Mannes mit einem Weibe unter Ausschluß
jedes andern geschlechtlichen Verkehrs; dagegen fordert der eine der Zwecke der
geschlechtlichen Differenzirung: die Fortpflanzung des Menschengeschlechts,
wenigstens beim aktiven Teil eine solche Stärke des Geschlechtstriebs, daß die
strenge Beschränkung seiner Befriedigung auf die Ehe namentlich dort, wo
deren rechtzeitigen Abschluß Hindernisse im Wege stehen, dem Durchschnitts¬
mann meistens zu sauer vorkommt. Solche Hindernisse entspringen aus den
gesellschaftlichen Verhältnissen und Einrichtungen, und diese bilden nun die
andre Schranke, insbesondre durch die zahllosen Interessenkonflikte, die es mit
sich bringen, daß der eine um seiner Selbsterhaltung willen zur Schädigung
des andern, also zur Verletzung der Liebe und Gerechtigkeit gezwungen ist.
So erscheint denn die Sünde, wie die Bibel den Widerspruch gegen das
Menschheitsidcal nennt, als unvermeidlich. Wird sie als Widerspruch gegen
den Willen Gottes aufgefaßt, so ist das durch die Bemerkung zu ergänzen,
daß es sich hier eigentlich um einen Widerspruch zwischen zwei Willen Gottes
handelt, indem Gott einerseits will, daß die Geschöpfe ihm ähnlich seien,
andrerseits aber eine Einrichtung der Welt, die diese Ähnlichkeit — wenigstens
innerhalb des Bereichs des Irdischen — an der Vollendung hindert.") Dem
Glauben an die Güte Gottes thut das keinen Eintrag, da das Dasein der
Welt gerechtfertigt ist, wenn die Bilanz zwischen Weltseligkeit und Weltelend
zu Gunsten der ersten ausfüllt, was nach dem Glauben der Mehrzahl der Fall
ist. Dagegen sieht sich der Philosoph genötigt, den Begriff der Allmacht
Gottes einzuschränken und sein Walten und Wirken an Gesetze gebunden zu
denken, die er nicht ändern kann.
In pädagogischer Hinsicht ist es nun ohne Zweifel vorteilhaft, wenn diese
Seite der Sache der Mehrzahl und namentlich der Jugend verborgen und der
Blick ausschließlich auf das zu erstrebende Ideal als den alleinigen Willen
Gottes gerichtet bleibt. Die Naturnotwendigkeit, die gesellschaftlichen Übel und
die Schranken der Individualität erscheinen dann als Wirkungen einer Gott
feindlichen Macht, die im Parsismus als Ahriman, in der jüdischen und der
christlichen Mythologie als Teufel erscheint. Da Christus den Volksscharen
unmöglich philosophische Vortrüge halten konnte, mußte er sich in seiner Aus¬
drucksweise dem Volksglauben anbequemen, der so natürlich ist, daß sich seiner
auch der Gebildete nur mit Mühe erwehren kann. Wenn ich einen am ganzen
Die Orvyiker haben die Mischung von Gut und Böse im Menschen durch den Mythus
von Dionysos-Zagreus zu erklären versucht. Nietzsche hat diese Seite des Mythus, die Döllinger
(Heidentum und Judentum S, >!',->) darstellt, nicht berührt.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |