Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Nietzsche

Fülle in die Geschöpfe, in die fühlenden und bewußten Wesen (die meta¬
physischen Fragen, ob die Welt den Lebensinhalt Gottes erschöpfe, ob Gott
mit einer bloß gedachten Welt, mit der unverwirklichten Weltidee denkbar sei,
ob demnach Gott ohne die Welt schon vor der Welt bestanden haben könne,
lassen wir beiseite). Die Bestimmung der Geschöpfe kann nur sein, das Wesen
Gottes auszudrücken und zu wiederholen, was jedes einzelne von ihnen, als
ein winziger Bruchteil, natürlich nur in sehr beschränktem Maße vermag. Ein
jedes hat also zunächst die göttliche Fülle wieder zu spiegeln, was Leibniz
meint, wenn er sagt, daß sich in jeder Monade das Universum spiegele. Es
hat ferner nach dem Vorbilde Gottes thätig zu sein, und falls sich ihm dabei
Hindernisse in den Weg stellen, sie zu überwinden. Es hat nach dem Vor¬
bilde Gottes seinen Inhalt andern Geschöpfen mitzuteilen, und es hat in
seinem Bereich Ordnung zu erstreben, da nur eine geordnete Umgebung Be¬
friedigung erzeugt. Damit sind die Ideen der Vollkommenheit, der Freiheit,
der Liebe oder des Wohlwollens, der Gerechtigkeit gegeben, und mit der letzten
zusammen, als der Ordnerin des geistigen Universums, zugleich die ästhetische
Idee der Schönheit, die ebenfalls auf der Ordnung beruht. In welchem
Maße nun ein vernünftiges Geschöpf diese Ideen verwirklicht, davon hängt
sein Wohlbefinden ab, dessen höchster Grad Seligkeit genannt wird. Das
also, was der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, ist die Gottähn¬
lichkeit, die Verwirklichung der Idee des Menschen nach den genannten vier
Seiten oder Beziehungen hin. Nun kann aber kein einzelner Mensch die
ganze Idee der Menschheit verwirklichen; würde er doch dadurch ein zweiter
Gott werden. Die Individuation bringt es mit sich, daß der eine mehr die
eine, der andre mehr die andre der Teilideen verwirklicht, in die sich die eine
Idee des Ebenbildes Gottes spaltet, und daß, wie ich oft gezeigt habe, die
Ideen einander widerstreiten, sodaß nicht zwei oder drei oder alle vier oder
fünf zugleich in einem und demselben Menschen in gleich hohem Grade ver¬
wirklicht werden können. Dazu kommen noch zwei andre Schranken. Die
eine wird von der Natur gezogen. Wir lassen wiederum eine metaphysische
Frage beiseite, nämlich die, ob unsre sinnliche Welt die einzige denkbare sei;
genug, für uns ist sie die einzige vorhandne.

Die Natur erzeugt nun zunächst mit Notwendigkeit physische Übel; wie
wäre organisches Leben denkbar ohne die Erwärmung unsrer Erde durch die
Sonnenstrahlen, wie könnte diese Erwärmung anders als ungleichmäßig gedacht
werden, und wie sollten sich die aus dieser Ungleichmäßigkeit entspringenden
Leidbringer: Kälte, Hitze, Stürme, Dürre, Überschwemmung beseitigen lassen?
Und wie konnte man sich ohne diese Leidbringer die Kulturthätigkeit denken,
zu der sie stacheln? Aber diese ganze physische Einrichtung bildet, während
sie einerseits das Seelenleben trägt, nährt und fördert, zugleich andrerseits ein
mauuigfciches Hemmnis für die Verwirklichung der Idee des Menschen, nicht


Friedrich Nietzsche

Fülle in die Geschöpfe, in die fühlenden und bewußten Wesen (die meta¬
physischen Fragen, ob die Welt den Lebensinhalt Gottes erschöpfe, ob Gott
mit einer bloß gedachten Welt, mit der unverwirklichten Weltidee denkbar sei,
ob demnach Gott ohne die Welt schon vor der Welt bestanden haben könne,
lassen wir beiseite). Die Bestimmung der Geschöpfe kann nur sein, das Wesen
Gottes auszudrücken und zu wiederholen, was jedes einzelne von ihnen, als
ein winziger Bruchteil, natürlich nur in sehr beschränktem Maße vermag. Ein
jedes hat also zunächst die göttliche Fülle wieder zu spiegeln, was Leibniz
meint, wenn er sagt, daß sich in jeder Monade das Universum spiegele. Es
hat ferner nach dem Vorbilde Gottes thätig zu sein, und falls sich ihm dabei
Hindernisse in den Weg stellen, sie zu überwinden. Es hat nach dem Vor¬
bilde Gottes seinen Inhalt andern Geschöpfen mitzuteilen, und es hat in
seinem Bereich Ordnung zu erstreben, da nur eine geordnete Umgebung Be¬
friedigung erzeugt. Damit sind die Ideen der Vollkommenheit, der Freiheit,
der Liebe oder des Wohlwollens, der Gerechtigkeit gegeben, und mit der letzten
zusammen, als der Ordnerin des geistigen Universums, zugleich die ästhetische
Idee der Schönheit, die ebenfalls auf der Ordnung beruht. In welchem
Maße nun ein vernünftiges Geschöpf diese Ideen verwirklicht, davon hängt
sein Wohlbefinden ab, dessen höchster Grad Seligkeit genannt wird. Das
also, was der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, ist die Gottähn¬
lichkeit, die Verwirklichung der Idee des Menschen nach den genannten vier
Seiten oder Beziehungen hin. Nun kann aber kein einzelner Mensch die
ganze Idee der Menschheit verwirklichen; würde er doch dadurch ein zweiter
Gott werden. Die Individuation bringt es mit sich, daß der eine mehr die
eine, der andre mehr die andre der Teilideen verwirklicht, in die sich die eine
Idee des Ebenbildes Gottes spaltet, und daß, wie ich oft gezeigt habe, die
Ideen einander widerstreiten, sodaß nicht zwei oder drei oder alle vier oder
fünf zugleich in einem und demselben Menschen in gleich hohem Grade ver¬
wirklicht werden können. Dazu kommen noch zwei andre Schranken. Die
eine wird von der Natur gezogen. Wir lassen wiederum eine metaphysische
Frage beiseite, nämlich die, ob unsre sinnliche Welt die einzige denkbare sei;
genug, für uns ist sie die einzige vorhandne.

Die Natur erzeugt nun zunächst mit Notwendigkeit physische Übel; wie
wäre organisches Leben denkbar ohne die Erwärmung unsrer Erde durch die
Sonnenstrahlen, wie könnte diese Erwärmung anders als ungleichmäßig gedacht
werden, und wie sollten sich die aus dieser Ungleichmäßigkeit entspringenden
Leidbringer: Kälte, Hitze, Stürme, Dürre, Überschwemmung beseitigen lassen?
Und wie konnte man sich ohne diese Leidbringer die Kulturthätigkeit denken,
zu der sie stacheln? Aber diese ganze physische Einrichtung bildet, während
sie einerseits das Seelenleben trägt, nährt und fördert, zugleich andrerseits ein
mauuigfciches Hemmnis für die Verwirklichung der Idee des Menschen, nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0483" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228119"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1328" prev="#ID_1327"> Fülle in die Geschöpfe, in die fühlenden und bewußten Wesen (die meta¬<lb/>
physischen Fragen, ob die Welt den Lebensinhalt Gottes erschöpfe, ob Gott<lb/>
mit einer bloß gedachten Welt, mit der unverwirklichten Weltidee denkbar sei,<lb/>
ob demnach Gott ohne die Welt schon vor der Welt bestanden haben könne,<lb/>
lassen wir beiseite). Die Bestimmung der Geschöpfe kann nur sein, das Wesen<lb/>
Gottes auszudrücken und zu wiederholen, was jedes einzelne von ihnen, als<lb/>
ein winziger Bruchteil, natürlich nur in sehr beschränktem Maße vermag. Ein<lb/>
jedes hat also zunächst die göttliche Fülle wieder zu spiegeln, was Leibniz<lb/>
meint, wenn er sagt, daß sich in jeder Monade das Universum spiegele. Es<lb/>
hat ferner nach dem Vorbilde Gottes thätig zu sein, und falls sich ihm dabei<lb/>
Hindernisse in den Weg stellen, sie zu überwinden. Es hat nach dem Vor¬<lb/>
bilde Gottes seinen Inhalt andern Geschöpfen mitzuteilen, und es hat in<lb/>
seinem Bereich Ordnung zu erstreben, da nur eine geordnete Umgebung Be¬<lb/>
friedigung erzeugt. Damit sind die Ideen der Vollkommenheit, der Freiheit,<lb/>
der Liebe oder des Wohlwollens, der Gerechtigkeit gegeben, und mit der letzten<lb/>
zusammen, als der Ordnerin des geistigen Universums, zugleich die ästhetische<lb/>
Idee der Schönheit, die ebenfalls auf der Ordnung beruht. In welchem<lb/>
Maße nun ein vernünftiges Geschöpf diese Ideen verwirklicht, davon hängt<lb/>
sein Wohlbefinden ab, dessen höchster Grad Seligkeit genannt wird. Das<lb/>
also, was der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, ist die Gottähn¬<lb/>
lichkeit, die Verwirklichung der Idee des Menschen nach den genannten vier<lb/>
Seiten oder Beziehungen hin. Nun kann aber kein einzelner Mensch die<lb/>
ganze Idee der Menschheit verwirklichen; würde er doch dadurch ein zweiter<lb/>
Gott werden. Die Individuation bringt es mit sich, daß der eine mehr die<lb/>
eine, der andre mehr die andre der Teilideen verwirklicht, in die sich die eine<lb/>
Idee des Ebenbildes Gottes spaltet, und daß, wie ich oft gezeigt habe, die<lb/>
Ideen einander widerstreiten, sodaß nicht zwei oder drei oder alle vier oder<lb/>
fünf zugleich in einem und demselben Menschen in gleich hohem Grade ver¬<lb/>
wirklicht werden können. Dazu kommen noch zwei andre Schranken. Die<lb/>
eine wird von der Natur gezogen. Wir lassen wiederum eine metaphysische<lb/>
Frage beiseite, nämlich die, ob unsre sinnliche Welt die einzige denkbare sei;<lb/>
genug, für uns ist sie die einzige vorhandne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1329" next="#ID_1330"> Die Natur erzeugt nun zunächst mit Notwendigkeit physische Übel; wie<lb/>
wäre organisches Leben denkbar ohne die Erwärmung unsrer Erde durch die<lb/>
Sonnenstrahlen, wie könnte diese Erwärmung anders als ungleichmäßig gedacht<lb/>
werden, und wie sollten sich die aus dieser Ungleichmäßigkeit entspringenden<lb/>
Leidbringer: Kälte, Hitze, Stürme, Dürre, Überschwemmung beseitigen lassen?<lb/>
Und wie konnte man sich ohne diese Leidbringer die Kulturthätigkeit denken,<lb/>
zu der sie stacheln? Aber diese ganze physische Einrichtung bildet, während<lb/>
sie einerseits das Seelenleben trägt, nährt und fördert, zugleich andrerseits ein<lb/>
mauuigfciches Hemmnis für die Verwirklichung der Idee des Menschen, nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0483] Friedrich Nietzsche Fülle in die Geschöpfe, in die fühlenden und bewußten Wesen (die meta¬ physischen Fragen, ob die Welt den Lebensinhalt Gottes erschöpfe, ob Gott mit einer bloß gedachten Welt, mit der unverwirklichten Weltidee denkbar sei, ob demnach Gott ohne die Welt schon vor der Welt bestanden haben könne, lassen wir beiseite). Die Bestimmung der Geschöpfe kann nur sein, das Wesen Gottes auszudrücken und zu wiederholen, was jedes einzelne von ihnen, als ein winziger Bruchteil, natürlich nur in sehr beschränktem Maße vermag. Ein jedes hat also zunächst die göttliche Fülle wieder zu spiegeln, was Leibniz meint, wenn er sagt, daß sich in jeder Monade das Universum spiegele. Es hat ferner nach dem Vorbilde Gottes thätig zu sein, und falls sich ihm dabei Hindernisse in den Weg stellen, sie zu überwinden. Es hat nach dem Vor¬ bilde Gottes seinen Inhalt andern Geschöpfen mitzuteilen, und es hat in seinem Bereich Ordnung zu erstreben, da nur eine geordnete Umgebung Be¬ friedigung erzeugt. Damit sind die Ideen der Vollkommenheit, der Freiheit, der Liebe oder des Wohlwollens, der Gerechtigkeit gegeben, und mit der letzten zusammen, als der Ordnerin des geistigen Universums, zugleich die ästhetische Idee der Schönheit, die ebenfalls auf der Ordnung beruht. In welchem Maße nun ein vernünftiges Geschöpf diese Ideen verwirklicht, davon hängt sein Wohlbefinden ab, dessen höchster Grad Seligkeit genannt wird. Das also, was der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, ist die Gottähn¬ lichkeit, die Verwirklichung der Idee des Menschen nach den genannten vier Seiten oder Beziehungen hin. Nun kann aber kein einzelner Mensch die ganze Idee der Menschheit verwirklichen; würde er doch dadurch ein zweiter Gott werden. Die Individuation bringt es mit sich, daß der eine mehr die eine, der andre mehr die andre der Teilideen verwirklicht, in die sich die eine Idee des Ebenbildes Gottes spaltet, und daß, wie ich oft gezeigt habe, die Ideen einander widerstreiten, sodaß nicht zwei oder drei oder alle vier oder fünf zugleich in einem und demselben Menschen in gleich hohem Grade ver¬ wirklicht werden können. Dazu kommen noch zwei andre Schranken. Die eine wird von der Natur gezogen. Wir lassen wiederum eine metaphysische Frage beiseite, nämlich die, ob unsre sinnliche Welt die einzige denkbare sei; genug, für uns ist sie die einzige vorhandne. Die Natur erzeugt nun zunächst mit Notwendigkeit physische Übel; wie wäre organisches Leben denkbar ohne die Erwärmung unsrer Erde durch die Sonnenstrahlen, wie könnte diese Erwärmung anders als ungleichmäßig gedacht werden, und wie sollten sich die aus dieser Ungleichmäßigkeit entspringenden Leidbringer: Kälte, Hitze, Stürme, Dürre, Überschwemmung beseitigen lassen? Und wie konnte man sich ohne diese Leidbringer die Kulturthätigkeit denken, zu der sie stacheln? Aber diese ganze physische Einrichtung bildet, während sie einerseits das Seelenleben trägt, nährt und fördert, zugleich andrerseits ein mauuigfciches Hemmnis für die Verwirklichung der Idee des Menschen, nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/483
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/483>, abgerufen am 23.07.2024.