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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Stimmenwert, nicht Stimmenzahl

mäßig diese Herrschaft ist, geht aus der nachstehenden Reihe von Gegensätzen
hervor: Der gebildete Fünfundzwanzigjährige hat den Kopf voll unverarbeiteten,
noch rein theoretischen Wissens; der Fünfzigjährige hat vieles von dem in der
Jugend Gelernten vergessen, das noch Vorhandne aber hat sich mit den Er¬
fahrungen eines Menschenalters zu einem lebendigen Ganzen, zu einer Welt¬
anschauung verbunden. Der ungebildete Fünfundzwanzigjährige ist nicht einmal
Theoretiker, er ist gar nichts. Beim Fünfzigjähriger hat die Erfahrung
den Vildungsmangel teilweise ausgeglichen. Der begüterte Fünfundzwanzig¬
jährige ist bloßer Erbe, der Nutznießer zufälliger Vorteile. Sein Vermögen
beherrscht zumeist ihn. Der schon von Hause aus wohlhabend gewesene
Fünfzigjährige hat von seinem Gute Besitz ergriffen, indem er es be¬
arbeitete. Er beherrscht sein Vermögen. Der besitzlose Fünfundzwanzigjährige
ist der richtige Proletarier. Der Fünfzigjährige, der mit nichts angefangen
hat, ist häufig 86ik manis man geworden, zum mindesten hat er sich eine
Stellung errungen, die ihm annähernd feste Lebensbedingungen gewährt. Der
Fünfundzwanzigjährige steht mitten im Liebesleben, das seine über die Erwerbs¬
thätigkeit überschüssigen Kräfte bindet; mit fünfzig Jahren ist der Geschlechts¬
trieb im Sinken, das politische Interesse aber mächtig entwickelt. Für das
Zustandekommen der folgenden Generation ist gesorgt, der Gattungssinn richtet
sich also auf die Ordnung ihrer Lebensbedingungen, der künftigen Verhältnisse
im Staate. In der Mundart Zarathustras ausgedrückt: Der Junge sagt:
^xrvs rwus le ävlnM! Der Alte spricht: Nach uns unsre Kinder! Endlich
sei auch die rechtliche Seite der Frage erwähnt. Der Fünfundzwanzigjährige
hat dem Staate noch nichts geleistet als die militärische Dienstzeit, steht aber
für die genossene Erziehung noch in der Schuld des Gemeinwesens. Der
Fünfzigjährige hat außer der Blutsteuer noch eine Menge andrer Steuern
entrichtet und die Erziehungsschuld vielfach zurückgezahlt, indem er seinerseits
dem Staate neue Bürger großziehen half.

Außer diesen Gegensätzen ist noch zu erwägen, daß in der jüngsten Alters¬
klasse auch eine große Zahl von Personen anstimme, die zum Irrsinn oder
zum Verbrechen neigen. Ihr Mitstimmen verschlechtert das Ergebnis. In
der Altersklasse der Fünfzigjähriger ist dieses schädliche Element zum größten
Teile ausgeschieden. Es sitzt in den Irrenhäusern und Strafanstalten, deren
Bewohner selbst in den am meisten demokratischen Staaten zur res pudUo-i
nichts zu sagen haben.

Diese Überlegungen zeigen uns also, daß der fünfzigjährige Staatsbürger
an politischem Werte jedenfalls höher steht und zugleich mehr Rechte an den
Staat hat als der fünfundzwanzigjährige. Wir haben also die Gegensätze:
1. Der politische Wert des Einzelbürgers steigt, die Zahl der in ihm vor-
handnen Werteinheiten wächst mit zunehmendem Alter, mochte diese Zahl an¬
fänglich hoch oder niedrig sein. 2. Die Kopfzahl, damit also auch die Stimmen-


Stimmenwert, nicht Stimmenzahl

mäßig diese Herrschaft ist, geht aus der nachstehenden Reihe von Gegensätzen
hervor: Der gebildete Fünfundzwanzigjährige hat den Kopf voll unverarbeiteten,
noch rein theoretischen Wissens; der Fünfzigjährige hat vieles von dem in der
Jugend Gelernten vergessen, das noch Vorhandne aber hat sich mit den Er¬
fahrungen eines Menschenalters zu einem lebendigen Ganzen, zu einer Welt¬
anschauung verbunden. Der ungebildete Fünfundzwanzigjährige ist nicht einmal
Theoretiker, er ist gar nichts. Beim Fünfzigjähriger hat die Erfahrung
den Vildungsmangel teilweise ausgeglichen. Der begüterte Fünfundzwanzig¬
jährige ist bloßer Erbe, der Nutznießer zufälliger Vorteile. Sein Vermögen
beherrscht zumeist ihn. Der schon von Hause aus wohlhabend gewesene
Fünfzigjährige hat von seinem Gute Besitz ergriffen, indem er es be¬
arbeitete. Er beherrscht sein Vermögen. Der besitzlose Fünfundzwanzigjährige
ist der richtige Proletarier. Der Fünfzigjährige, der mit nichts angefangen
hat, ist häufig 86ik manis man geworden, zum mindesten hat er sich eine
Stellung errungen, die ihm annähernd feste Lebensbedingungen gewährt. Der
Fünfundzwanzigjährige steht mitten im Liebesleben, das seine über die Erwerbs¬
thätigkeit überschüssigen Kräfte bindet; mit fünfzig Jahren ist der Geschlechts¬
trieb im Sinken, das politische Interesse aber mächtig entwickelt. Für das
Zustandekommen der folgenden Generation ist gesorgt, der Gattungssinn richtet
sich also auf die Ordnung ihrer Lebensbedingungen, der künftigen Verhältnisse
im Staate. In der Mundart Zarathustras ausgedrückt: Der Junge sagt:
^xrvs rwus le ävlnM! Der Alte spricht: Nach uns unsre Kinder! Endlich
sei auch die rechtliche Seite der Frage erwähnt. Der Fünfundzwanzigjährige
hat dem Staate noch nichts geleistet als die militärische Dienstzeit, steht aber
für die genossene Erziehung noch in der Schuld des Gemeinwesens. Der
Fünfzigjährige hat außer der Blutsteuer noch eine Menge andrer Steuern
entrichtet und die Erziehungsschuld vielfach zurückgezahlt, indem er seinerseits
dem Staate neue Bürger großziehen half.

Außer diesen Gegensätzen ist noch zu erwägen, daß in der jüngsten Alters¬
klasse auch eine große Zahl von Personen anstimme, die zum Irrsinn oder
zum Verbrechen neigen. Ihr Mitstimmen verschlechtert das Ergebnis. In
der Altersklasse der Fünfzigjähriger ist dieses schädliche Element zum größten
Teile ausgeschieden. Es sitzt in den Irrenhäusern und Strafanstalten, deren
Bewohner selbst in den am meisten demokratischen Staaten zur res pudUo-i
nichts zu sagen haben.

Diese Überlegungen zeigen uns also, daß der fünfzigjährige Staatsbürger
an politischem Werte jedenfalls höher steht und zugleich mehr Rechte an den
Staat hat als der fünfundzwanzigjährige. Wir haben also die Gegensätze:
1. Der politische Wert des Einzelbürgers steigt, die Zahl der in ihm vor-
handnen Werteinheiten wächst mit zunehmendem Alter, mochte diese Zahl an¬
fänglich hoch oder niedrig sein. 2. Die Kopfzahl, damit also auch die Stimmen-


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[0477] Stimmenwert, nicht Stimmenzahl mäßig diese Herrschaft ist, geht aus der nachstehenden Reihe von Gegensätzen hervor: Der gebildete Fünfundzwanzigjährige hat den Kopf voll unverarbeiteten, noch rein theoretischen Wissens; der Fünfzigjährige hat vieles von dem in der Jugend Gelernten vergessen, das noch Vorhandne aber hat sich mit den Er¬ fahrungen eines Menschenalters zu einem lebendigen Ganzen, zu einer Welt¬ anschauung verbunden. Der ungebildete Fünfundzwanzigjährige ist nicht einmal Theoretiker, er ist gar nichts. Beim Fünfzigjähriger hat die Erfahrung den Vildungsmangel teilweise ausgeglichen. Der begüterte Fünfundzwanzig¬ jährige ist bloßer Erbe, der Nutznießer zufälliger Vorteile. Sein Vermögen beherrscht zumeist ihn. Der schon von Hause aus wohlhabend gewesene Fünfzigjährige hat von seinem Gute Besitz ergriffen, indem er es be¬ arbeitete. Er beherrscht sein Vermögen. Der besitzlose Fünfundzwanzigjährige ist der richtige Proletarier. Der Fünfzigjährige, der mit nichts angefangen hat, ist häufig 86ik manis man geworden, zum mindesten hat er sich eine Stellung errungen, die ihm annähernd feste Lebensbedingungen gewährt. Der Fünfundzwanzigjährige steht mitten im Liebesleben, das seine über die Erwerbs¬ thätigkeit überschüssigen Kräfte bindet; mit fünfzig Jahren ist der Geschlechts¬ trieb im Sinken, das politische Interesse aber mächtig entwickelt. Für das Zustandekommen der folgenden Generation ist gesorgt, der Gattungssinn richtet sich also auf die Ordnung ihrer Lebensbedingungen, der künftigen Verhältnisse im Staate. In der Mundart Zarathustras ausgedrückt: Der Junge sagt: ^xrvs rwus le ävlnM! Der Alte spricht: Nach uns unsre Kinder! Endlich sei auch die rechtliche Seite der Frage erwähnt. Der Fünfundzwanzigjährige hat dem Staate noch nichts geleistet als die militärische Dienstzeit, steht aber für die genossene Erziehung noch in der Schuld des Gemeinwesens. Der Fünfzigjährige hat außer der Blutsteuer noch eine Menge andrer Steuern entrichtet und die Erziehungsschuld vielfach zurückgezahlt, indem er seinerseits dem Staate neue Bürger großziehen half. Außer diesen Gegensätzen ist noch zu erwägen, daß in der jüngsten Alters¬ klasse auch eine große Zahl von Personen anstimme, die zum Irrsinn oder zum Verbrechen neigen. Ihr Mitstimmen verschlechtert das Ergebnis. In der Altersklasse der Fünfzigjähriger ist dieses schädliche Element zum größten Teile ausgeschieden. Es sitzt in den Irrenhäusern und Strafanstalten, deren Bewohner selbst in den am meisten demokratischen Staaten zur res pudUo-i nichts zu sagen haben. Diese Überlegungen zeigen uns also, daß der fünfzigjährige Staatsbürger an politischem Werte jedenfalls höher steht und zugleich mehr Rechte an den Staat hat als der fünfundzwanzigjährige. Wir haben also die Gegensätze: 1. Der politische Wert des Einzelbürgers steigt, die Zahl der in ihm vor- handnen Werteinheiten wächst mit zunehmendem Alter, mochte diese Zahl an¬ fänglich hoch oder niedrig sein. 2. Die Kopfzahl, damit also auch die Stimmen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/477>, abgerufen am 23.07.2024.