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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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packt zu haben und zu halten scheinen sollten, ziehen sich nun in dünnen Spi¬
ralen auseinander, wie Spinnenbeine oder Polypenarme. Also säßen wir einmal
erst ganz in diesem Stile drin, von dem Hause, das wir bauen, bis zu dem
Büchereinbande, den wir in der Hand halten, und dem Nachtleuchter, mit dem
wir zu Velde gehen -- ja dann! Aber einstweilen nehmen sich die neuen
Flicken auf den alten Kleidern noch seltsam genug aus. Wir glauben nicht,
daß der neue Stil das Feld gewinnen wird, schon weil er, wenn wir ihn uns
allgemein durchgedrungen denken, viel langweiliger, weniger ausdrucksvoll als
jeder frühere, wir mochten sagen: rein negativ sein würde. Könnte man nicht
auch aus der Vergangenheit etwas lernen? Mit welcher selbstverständlichen,
mühelosem Sicherheit nahm der Empirestil Besitz von seinem Reiche! Mit
welcher Rücksichtslosigkeit brach der Barockstil ein! Als Bernini das fehlende
Kapitell an der Vorhalle des Pantheons nicht nach dem Muster der übrigen,
sondern in seinem eignen Stil machte, dachte er sich gewiß kaum etwas dabei,
und ebenso selbstverständlich schien es dem Publikum, daß er es that. Diese
Stile hatten etwas positives, materielles, was die Massen gefangen nehmen
konnte. Hier in dieser neuen Verzierungsweise vermißt man die durchgehenden
Kennzeichen, es ist alles zu fein, zu überlegt, und auf die Art entsteht nach
unsern bisherigen Erfahrungen kein beherrschender Stil. Die Völker aber, auf
die wir uns berufen, und von denen wir die neuen Ornamente genommen
haben, hatten nach unsrer abendländischen Auffassung überhaupt in der hohen
Kunst keinen selbständigen Stil, sondern nur diese dekorative, stilisirende
Formgebung. Indessen das ist ja auch nur Theorie, auf beschränkte Erfahrung
gebaut, und jeder neue Tag kann neues bringen. Wir werden dem mit Interesse
entgegenkommen.

Ein sehr zeitgemäßes Unternehmen hat die Photographische Gesellschaft in
Berlin begonnen mit einer Sammlung von Porträts in großem Format unter
dem Titel: Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen. Vor uns
liegen sechs Lieferungen mit zusammen 48 Porträts und 44 Seiten eines
kurzen, gut geschriebnen biographischen Textes. Die Porträts sind mit Sach¬
kunde ausgewählt und ganz vortrefflich wiedergegeben. Im ganzen sind
75 Lieferungen vorgesehen, der Preis einer jeden (1 Mark 50 Pfennige) ist
lächerlich gering, das Blatt kostet noch nicht 20 Pfennige. Es ist ein wirk¬
licher Genuß, so vielen ausgezeichneten Menschen ins Angesicht sehen zu können
und sich dabei an ihre Lebensarbeit zu erinnern. Dem glücklichen Anfange
wird der Erfolg nicht fehlen, und diese ersten Lieferungen sind ausgezeichnet.

Und nun kommt noch zum Schluß der Humor in der Kunst: Italie¬
nische Landschaftsbilder von Emil Roland (Emmi Lewald), Oldenburg
und Leipzig, Schulzesche Hofbuchhandlung. So etwas kriegt man nicht leicht
wieder zu lesen. Wir geben aufs Geratewohl einige Proben, etwa für Meyer
und Bädeker, ihre trockne Reisetopographie zu garniren. "Vanucci . . . es


Grenzboten II 1808 g?
Neue Runstlitteratur

packt zu haben und zu halten scheinen sollten, ziehen sich nun in dünnen Spi¬
ralen auseinander, wie Spinnenbeine oder Polypenarme. Also säßen wir einmal
erst ganz in diesem Stile drin, von dem Hause, das wir bauen, bis zu dem
Büchereinbande, den wir in der Hand halten, und dem Nachtleuchter, mit dem
wir zu Velde gehen — ja dann! Aber einstweilen nehmen sich die neuen
Flicken auf den alten Kleidern noch seltsam genug aus. Wir glauben nicht,
daß der neue Stil das Feld gewinnen wird, schon weil er, wenn wir ihn uns
allgemein durchgedrungen denken, viel langweiliger, weniger ausdrucksvoll als
jeder frühere, wir mochten sagen: rein negativ sein würde. Könnte man nicht
auch aus der Vergangenheit etwas lernen? Mit welcher selbstverständlichen,
mühelosem Sicherheit nahm der Empirestil Besitz von seinem Reiche! Mit
welcher Rücksichtslosigkeit brach der Barockstil ein! Als Bernini das fehlende
Kapitell an der Vorhalle des Pantheons nicht nach dem Muster der übrigen,
sondern in seinem eignen Stil machte, dachte er sich gewiß kaum etwas dabei,
und ebenso selbstverständlich schien es dem Publikum, daß er es that. Diese
Stile hatten etwas positives, materielles, was die Massen gefangen nehmen
konnte. Hier in dieser neuen Verzierungsweise vermißt man die durchgehenden
Kennzeichen, es ist alles zu fein, zu überlegt, und auf die Art entsteht nach
unsern bisherigen Erfahrungen kein beherrschender Stil. Die Völker aber, auf
die wir uns berufen, und von denen wir die neuen Ornamente genommen
haben, hatten nach unsrer abendländischen Auffassung überhaupt in der hohen
Kunst keinen selbständigen Stil, sondern nur diese dekorative, stilisirende
Formgebung. Indessen das ist ja auch nur Theorie, auf beschränkte Erfahrung
gebaut, und jeder neue Tag kann neues bringen. Wir werden dem mit Interesse
entgegenkommen.

Ein sehr zeitgemäßes Unternehmen hat die Photographische Gesellschaft in
Berlin begonnen mit einer Sammlung von Porträts in großem Format unter
dem Titel: Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen. Vor uns
liegen sechs Lieferungen mit zusammen 48 Porträts und 44 Seiten eines
kurzen, gut geschriebnen biographischen Textes. Die Porträts sind mit Sach¬
kunde ausgewählt und ganz vortrefflich wiedergegeben. Im ganzen sind
75 Lieferungen vorgesehen, der Preis einer jeden (1 Mark 50 Pfennige) ist
lächerlich gering, das Blatt kostet noch nicht 20 Pfennige. Es ist ein wirk¬
licher Genuß, so vielen ausgezeichneten Menschen ins Angesicht sehen zu können
und sich dabei an ihre Lebensarbeit zu erinnern. Dem glücklichen Anfange
wird der Erfolg nicht fehlen, und diese ersten Lieferungen sind ausgezeichnet.

Und nun kommt noch zum Schluß der Humor in der Kunst: Italie¬
nische Landschaftsbilder von Emil Roland (Emmi Lewald), Oldenburg
und Leipzig, Schulzesche Hofbuchhandlung. So etwas kriegt man nicht leicht
wieder zu lesen. Wir geben aufs Geratewohl einige Proben, etwa für Meyer
und Bädeker, ihre trockne Reisetopographie zu garniren. „Vanucci . . . es


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[0457] Neue Runstlitteratur packt zu haben und zu halten scheinen sollten, ziehen sich nun in dünnen Spi¬ ralen auseinander, wie Spinnenbeine oder Polypenarme. Also säßen wir einmal erst ganz in diesem Stile drin, von dem Hause, das wir bauen, bis zu dem Büchereinbande, den wir in der Hand halten, und dem Nachtleuchter, mit dem wir zu Velde gehen — ja dann! Aber einstweilen nehmen sich die neuen Flicken auf den alten Kleidern noch seltsam genug aus. Wir glauben nicht, daß der neue Stil das Feld gewinnen wird, schon weil er, wenn wir ihn uns allgemein durchgedrungen denken, viel langweiliger, weniger ausdrucksvoll als jeder frühere, wir mochten sagen: rein negativ sein würde. Könnte man nicht auch aus der Vergangenheit etwas lernen? Mit welcher selbstverständlichen, mühelosem Sicherheit nahm der Empirestil Besitz von seinem Reiche! Mit welcher Rücksichtslosigkeit brach der Barockstil ein! Als Bernini das fehlende Kapitell an der Vorhalle des Pantheons nicht nach dem Muster der übrigen, sondern in seinem eignen Stil machte, dachte er sich gewiß kaum etwas dabei, und ebenso selbstverständlich schien es dem Publikum, daß er es that. Diese Stile hatten etwas positives, materielles, was die Massen gefangen nehmen konnte. Hier in dieser neuen Verzierungsweise vermißt man die durchgehenden Kennzeichen, es ist alles zu fein, zu überlegt, und auf die Art entsteht nach unsern bisherigen Erfahrungen kein beherrschender Stil. Die Völker aber, auf die wir uns berufen, und von denen wir die neuen Ornamente genommen haben, hatten nach unsrer abendländischen Auffassung überhaupt in der hohen Kunst keinen selbständigen Stil, sondern nur diese dekorative, stilisirende Formgebung. Indessen das ist ja auch nur Theorie, auf beschränkte Erfahrung gebaut, und jeder neue Tag kann neues bringen. Wir werden dem mit Interesse entgegenkommen. Ein sehr zeitgemäßes Unternehmen hat die Photographische Gesellschaft in Berlin begonnen mit einer Sammlung von Porträts in großem Format unter dem Titel: Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen. Vor uns liegen sechs Lieferungen mit zusammen 48 Porträts und 44 Seiten eines kurzen, gut geschriebnen biographischen Textes. Die Porträts sind mit Sach¬ kunde ausgewählt und ganz vortrefflich wiedergegeben. Im ganzen sind 75 Lieferungen vorgesehen, der Preis einer jeden (1 Mark 50 Pfennige) ist lächerlich gering, das Blatt kostet noch nicht 20 Pfennige. Es ist ein wirk¬ licher Genuß, so vielen ausgezeichneten Menschen ins Angesicht sehen zu können und sich dabei an ihre Lebensarbeit zu erinnern. Dem glücklichen Anfange wird der Erfolg nicht fehlen, und diese ersten Lieferungen sind ausgezeichnet. Und nun kommt noch zum Schluß der Humor in der Kunst: Italie¬ nische Landschaftsbilder von Emil Roland (Emmi Lewald), Oldenburg und Leipzig, Schulzesche Hofbuchhandlung. So etwas kriegt man nicht leicht wieder zu lesen. Wir geben aufs Geratewohl einige Proben, etwa für Meyer und Bädeker, ihre trockne Reisetopographie zu garniren. „Vanucci . . . es Grenzboten II 1808 g?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/457>, abgerufen am 27.12.2024.