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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die hannoverschen Nationalliberalen

als ob sie sich mehr als der Teil der Partei, der in der "Nationalzeitung"
seine Vertretung findet, von der augenblicklichen Zweckmäßigkeit des pluto-
kratischen Standpunktes haben überzeugen lassen. Dafür finden sich Belege
sowohl auf wirtschaftlichem als auf politischem Gebiete. Der Stillstand der
sozialpolitischen Gesetzgebung ist ihnen herzlich willkommen, ihr Widerstand
gegen die Ausbildung und Ausbreitung des Koalitionsrechts der Arbeiter ist
bekannt. Ihre Haltung bei der kläglich gescheiterten Umsturzvorlage und bei
dem neckischen Vereinsgesetzentwurfe, bei dem sie fast eine macchiavellistische
Taktik verfolgten, ist noch unvergessen. Nicht minder sonderbar war ihre
Gegnerschaft bei den Anträgen zur Sicherstellung des Wahlgeheimnisses, und
ihre Presse, vor allem der "Hannöversche Kurier," tritt hin und wieder mehr
oder weniger schüchtern, je nachdem der Wind weht, für Umgestaltungen und
Einschränkungen des allgemeinen und geheimen Stimmrechts ein; dagegen
geschieht von ihrer Seite nichts, um eine politisch gerechte Reform des von
allen Seiten verdammten preußischen Dreiklassenwahlrechts in die Wege zu
leiten. Die drei von der Regierung sehr milde rektifizirten Hildesheimischeu
Landräte, die neuerdings in einem Wahlaufrufe auf die großkapitalistischen und
einseitig industriellen Tendenzen der Nationalliberalen aufmerksam machten,
hatten sachlich keineswegs Unrecht.

Durch die ganze Partei, nicht zum wenigsten bei ihrem hannoverschen
Teile, geht seit Jahren ein matter, müder Zug. Überall Lauheit, keine Initiative,
oder diese höchstens in untergeordneten Fragen, desto mehr politisches "An-
empfinder." Unter allen Nationalliberalen, zumal unter den hannoverschen,
giebt es heute niemand mehr, der unter den jetzigen Verhältnissen die Partei
einer bessern Zukunft entgegenführen konnte. Herr von Bennigsen ist ein Greis,
dessen parlamentarische Thätigkeit abgeschlossen ist. Aber auch er würde nicht
helfen können, denn gerade in ihm sind die wesentlichen Schwächen der Partei
verkörpert. Ihm fehlt die Festigkeit, die Entschlossenheit, die Widerstandskraft
gegen andre, selbst sür verfehlt erkannte Meinungen. In den letzten Jahren
war seine Führerschaft nur äußerlich; die geistige Führerschaft hatte er längst
einem Konsortium von großen Arbeitgebern überlassen.

Unser oben ausgesprochner Gedanke von dem Mangel an werdender Kraft
gilt mehr oder minder von dem gesamten Liberalismus, insbesondre von dem
Parlamentsliberalismus. Es sehlt ihm häufig das Verständnis für die Schwin¬
gungen der Volksseele. Die mit den heutigen Zuständen unzufriednen Volksteile
von rechts und links strömen nicht mehr den liberalen Fähnlein zu, sie suchen
in immer größerer Anzahl bei neuen Parteigruppirungen Halt. Das haben
in den letzten Jahren auch die Nationalliberalen in der Provinz Hannover
erfahren. Dort hat namentlich die Entwicklung der agrarischen Bewegung die
ganze innere Schwäche und Haltlosigkeit des Liberalismus offenbart.

Die hannoversche Spielart des Nationalliberalismus hat sich durch ein
besondres Vermögen, die träge Menge, einen großen Bestandteil der nieder-


Die hannoverschen Nationalliberalen

als ob sie sich mehr als der Teil der Partei, der in der „Nationalzeitung"
seine Vertretung findet, von der augenblicklichen Zweckmäßigkeit des pluto-
kratischen Standpunktes haben überzeugen lassen. Dafür finden sich Belege
sowohl auf wirtschaftlichem als auf politischem Gebiete. Der Stillstand der
sozialpolitischen Gesetzgebung ist ihnen herzlich willkommen, ihr Widerstand
gegen die Ausbildung und Ausbreitung des Koalitionsrechts der Arbeiter ist
bekannt. Ihre Haltung bei der kläglich gescheiterten Umsturzvorlage und bei
dem neckischen Vereinsgesetzentwurfe, bei dem sie fast eine macchiavellistische
Taktik verfolgten, ist noch unvergessen. Nicht minder sonderbar war ihre
Gegnerschaft bei den Anträgen zur Sicherstellung des Wahlgeheimnisses, und
ihre Presse, vor allem der „Hannöversche Kurier," tritt hin und wieder mehr
oder weniger schüchtern, je nachdem der Wind weht, für Umgestaltungen und
Einschränkungen des allgemeinen und geheimen Stimmrechts ein; dagegen
geschieht von ihrer Seite nichts, um eine politisch gerechte Reform des von
allen Seiten verdammten preußischen Dreiklassenwahlrechts in die Wege zu
leiten. Die drei von der Regierung sehr milde rektifizirten Hildesheimischeu
Landräte, die neuerdings in einem Wahlaufrufe auf die großkapitalistischen und
einseitig industriellen Tendenzen der Nationalliberalen aufmerksam machten,
hatten sachlich keineswegs Unrecht.

Durch die ganze Partei, nicht zum wenigsten bei ihrem hannoverschen
Teile, geht seit Jahren ein matter, müder Zug. Überall Lauheit, keine Initiative,
oder diese höchstens in untergeordneten Fragen, desto mehr politisches „An-
empfinder." Unter allen Nationalliberalen, zumal unter den hannoverschen,
giebt es heute niemand mehr, der unter den jetzigen Verhältnissen die Partei
einer bessern Zukunft entgegenführen konnte. Herr von Bennigsen ist ein Greis,
dessen parlamentarische Thätigkeit abgeschlossen ist. Aber auch er würde nicht
helfen können, denn gerade in ihm sind die wesentlichen Schwächen der Partei
verkörpert. Ihm fehlt die Festigkeit, die Entschlossenheit, die Widerstandskraft
gegen andre, selbst sür verfehlt erkannte Meinungen. In den letzten Jahren
war seine Führerschaft nur äußerlich; die geistige Führerschaft hatte er längst
einem Konsortium von großen Arbeitgebern überlassen.

Unser oben ausgesprochner Gedanke von dem Mangel an werdender Kraft
gilt mehr oder minder von dem gesamten Liberalismus, insbesondre von dem
Parlamentsliberalismus. Es sehlt ihm häufig das Verständnis für die Schwin¬
gungen der Volksseele. Die mit den heutigen Zuständen unzufriednen Volksteile
von rechts und links strömen nicht mehr den liberalen Fähnlein zu, sie suchen
in immer größerer Anzahl bei neuen Parteigruppirungen Halt. Das haben
in den letzten Jahren auch die Nationalliberalen in der Provinz Hannover
erfahren. Dort hat namentlich die Entwicklung der agrarischen Bewegung die
ganze innere Schwäche und Haltlosigkeit des Liberalismus offenbart.

Die hannoversche Spielart des Nationalliberalismus hat sich durch ein
besondres Vermögen, die träge Menge, einen großen Bestandteil der nieder-


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[0376] Die hannoverschen Nationalliberalen als ob sie sich mehr als der Teil der Partei, der in der „Nationalzeitung" seine Vertretung findet, von der augenblicklichen Zweckmäßigkeit des pluto- kratischen Standpunktes haben überzeugen lassen. Dafür finden sich Belege sowohl auf wirtschaftlichem als auf politischem Gebiete. Der Stillstand der sozialpolitischen Gesetzgebung ist ihnen herzlich willkommen, ihr Widerstand gegen die Ausbildung und Ausbreitung des Koalitionsrechts der Arbeiter ist bekannt. Ihre Haltung bei der kläglich gescheiterten Umsturzvorlage und bei dem neckischen Vereinsgesetzentwurfe, bei dem sie fast eine macchiavellistische Taktik verfolgten, ist noch unvergessen. Nicht minder sonderbar war ihre Gegnerschaft bei den Anträgen zur Sicherstellung des Wahlgeheimnisses, und ihre Presse, vor allem der „Hannöversche Kurier," tritt hin und wieder mehr oder weniger schüchtern, je nachdem der Wind weht, für Umgestaltungen und Einschränkungen des allgemeinen und geheimen Stimmrechts ein; dagegen geschieht von ihrer Seite nichts, um eine politisch gerechte Reform des von allen Seiten verdammten preußischen Dreiklassenwahlrechts in die Wege zu leiten. Die drei von der Regierung sehr milde rektifizirten Hildesheimischeu Landräte, die neuerdings in einem Wahlaufrufe auf die großkapitalistischen und einseitig industriellen Tendenzen der Nationalliberalen aufmerksam machten, hatten sachlich keineswegs Unrecht. Durch die ganze Partei, nicht zum wenigsten bei ihrem hannoverschen Teile, geht seit Jahren ein matter, müder Zug. Überall Lauheit, keine Initiative, oder diese höchstens in untergeordneten Fragen, desto mehr politisches „An- empfinder." Unter allen Nationalliberalen, zumal unter den hannoverschen, giebt es heute niemand mehr, der unter den jetzigen Verhältnissen die Partei einer bessern Zukunft entgegenführen konnte. Herr von Bennigsen ist ein Greis, dessen parlamentarische Thätigkeit abgeschlossen ist. Aber auch er würde nicht helfen können, denn gerade in ihm sind die wesentlichen Schwächen der Partei verkörpert. Ihm fehlt die Festigkeit, die Entschlossenheit, die Widerstandskraft gegen andre, selbst sür verfehlt erkannte Meinungen. In den letzten Jahren war seine Führerschaft nur äußerlich; die geistige Führerschaft hatte er längst einem Konsortium von großen Arbeitgebern überlassen. Unser oben ausgesprochner Gedanke von dem Mangel an werdender Kraft gilt mehr oder minder von dem gesamten Liberalismus, insbesondre von dem Parlamentsliberalismus. Es sehlt ihm häufig das Verständnis für die Schwin¬ gungen der Volksseele. Die mit den heutigen Zuständen unzufriednen Volksteile von rechts und links strömen nicht mehr den liberalen Fähnlein zu, sie suchen in immer größerer Anzahl bei neuen Parteigruppirungen Halt. Das haben in den letzten Jahren auch die Nationalliberalen in der Provinz Hannover erfahren. Dort hat namentlich die Entwicklung der agrarischen Bewegung die ganze innere Schwäche und Haltlosigkeit des Liberalismus offenbart. Die hannoversche Spielart des Nationalliberalismus hat sich durch ein besondres Vermögen, die träge Menge, einen großen Bestandteil der nieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/376>, abgerufen am 23.07.2024.