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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die hannoverschen Nationalliberalen

haben die Nationalliberalen zu ihrem Schaden in den Jahren 1881, 1884
und 1890, zu ihrem Vorteil bei den Wahlen von 1887 und 1893 erfahren.
Aber es ist bezeichnend, daß es sowohl 1893 als 1887 eine außerordentliche
Wahlparole war, von der die Nationalliberalen Nutzen zogen. Für sie war
es ein Glückszufall, daß die Opposition der Linken und des Zentrums bei den
Militärvorlagen aus der Verkennung der Stimmung großer Wühlermassen
hervorging und durch ihr Verhalten die Auflösung des Reichstags vorbereitete.
Ohne die Wahlparole -- und im Jahre 1887 ohne das Kartell -- hätten
sich in den Wahlkreisen, wo die Nationalliberalen der feste Kern waren, kaum
die übrigen Freunde der Militärvorlage bei den Neuwahlen um sie geschart,
und namentlich hätten bei den Wahlen von 1893 die Nationalliberalen in
Hannover ohne diesen Zuzug nicht die Erfolge gehabt, die sie thatsächlich er¬
zielt haben. Bei den diesjährigen Wahlen wird sich der Mangel einer alle
Kreise des Volks aufrüttelnden Wahlparole für die Nationalliberalen sehr fühl¬
bar machen, und gerade aus ihrer Mitte hört man die lautesten Klagen darüber,
daß die kluge Taktik des Zentrums die Marinewahlparole zu nichte gemacht
hat. Sie wissen sehr wohl, daß ihnen nur ein geschickt zu verwertendes,
das patriotische Empfinden aufrüttelndes Ereignis neue Wählermafsen zu¬
führen kann.

An eigner werdender Kraft gebricht es den Nationalliberalen im Hanno-
verschen wie in den übrigen Teilen Deutschlands seit geraumer Zeit ganz und
gar. Mit dem Kampfruf "für Kaiser und Reich," mit patriotischen Festreden,
mit großen Versprechungen und allgemeinen Redensarten ist es heutzutage
allein nicht gethan. Für das Mißverhältnis zwischen Worten und Thaten
hat denn doch das Volk jetzt ein deutlicheres Verständnis, als ihm von national¬
liberaler Seite zugetraut wird. Das Hin- und Herschwanken bei den wich¬
tigsten Tagesfragen, die Nachgiebigkeit, mit der sie sich einem fremden Willen
unterordnen, ihre engen Beziehungen zum Großkapital und zur Großindustrie
und in Verbindung damit die Aufstellung von Meinungen und Forderungen,
die mit den alten Überlieferungen der Partei schlechthin unvereinbar sind, alles
das und manches andre ist nicht geeignet, ihnen neue Anhänger zuzuführen.
Die Überzeugung, daß sie schon seit einer Reihe von Jahren in erster Linie für
die obern Zehntausend arbeiten, hat sich weiter Kreise bemächtigt, in denen
sie vor Zeiten ihre Freunde suchten und fanden.

Es ist bekannt, daß bei den Nationalliberalen gegenwärtig, was während
der Jugendblüte der Partei nicht der Fall war, die Großindustrie und das
Großkapital den Ton angeben. Die parlamentarische Thätigkeit ist von pluto-
kratischem Geiste erfüllt; kein Wunder also, daß nicht allein die niedern Volks¬
klassen von ihr abgefallen sind, sondern auch der Mittelstand ihr den Rücken
zuzukehren beginnt. Die Intelligenzen des Mittelstands, die früher wesentlich
die Vertretung der Partei ausmachten, Gelehrte, Richter und andre Juristen,
Gutsbesitzer. Fabrikanten und Kaufleute des Mittelstands, die sonst mit Eifer


Die hannoverschen Nationalliberalen

haben die Nationalliberalen zu ihrem Schaden in den Jahren 1881, 1884
und 1890, zu ihrem Vorteil bei den Wahlen von 1887 und 1893 erfahren.
Aber es ist bezeichnend, daß es sowohl 1893 als 1887 eine außerordentliche
Wahlparole war, von der die Nationalliberalen Nutzen zogen. Für sie war
es ein Glückszufall, daß die Opposition der Linken und des Zentrums bei den
Militärvorlagen aus der Verkennung der Stimmung großer Wühlermassen
hervorging und durch ihr Verhalten die Auflösung des Reichstags vorbereitete.
Ohne die Wahlparole — und im Jahre 1887 ohne das Kartell — hätten
sich in den Wahlkreisen, wo die Nationalliberalen der feste Kern waren, kaum
die übrigen Freunde der Militärvorlage bei den Neuwahlen um sie geschart,
und namentlich hätten bei den Wahlen von 1893 die Nationalliberalen in
Hannover ohne diesen Zuzug nicht die Erfolge gehabt, die sie thatsächlich er¬
zielt haben. Bei den diesjährigen Wahlen wird sich der Mangel einer alle
Kreise des Volks aufrüttelnden Wahlparole für die Nationalliberalen sehr fühl¬
bar machen, und gerade aus ihrer Mitte hört man die lautesten Klagen darüber,
daß die kluge Taktik des Zentrums die Marinewahlparole zu nichte gemacht
hat. Sie wissen sehr wohl, daß ihnen nur ein geschickt zu verwertendes,
das patriotische Empfinden aufrüttelndes Ereignis neue Wählermafsen zu¬
führen kann.

An eigner werdender Kraft gebricht es den Nationalliberalen im Hanno-
verschen wie in den übrigen Teilen Deutschlands seit geraumer Zeit ganz und
gar. Mit dem Kampfruf „für Kaiser und Reich," mit patriotischen Festreden,
mit großen Versprechungen und allgemeinen Redensarten ist es heutzutage
allein nicht gethan. Für das Mißverhältnis zwischen Worten und Thaten
hat denn doch das Volk jetzt ein deutlicheres Verständnis, als ihm von national¬
liberaler Seite zugetraut wird. Das Hin- und Herschwanken bei den wich¬
tigsten Tagesfragen, die Nachgiebigkeit, mit der sie sich einem fremden Willen
unterordnen, ihre engen Beziehungen zum Großkapital und zur Großindustrie
und in Verbindung damit die Aufstellung von Meinungen und Forderungen,
die mit den alten Überlieferungen der Partei schlechthin unvereinbar sind, alles
das und manches andre ist nicht geeignet, ihnen neue Anhänger zuzuführen.
Die Überzeugung, daß sie schon seit einer Reihe von Jahren in erster Linie für
die obern Zehntausend arbeiten, hat sich weiter Kreise bemächtigt, in denen
sie vor Zeiten ihre Freunde suchten und fanden.

Es ist bekannt, daß bei den Nationalliberalen gegenwärtig, was während
der Jugendblüte der Partei nicht der Fall war, die Großindustrie und das
Großkapital den Ton angeben. Die parlamentarische Thätigkeit ist von pluto-
kratischem Geiste erfüllt; kein Wunder also, daß nicht allein die niedern Volks¬
klassen von ihr abgefallen sind, sondern auch der Mittelstand ihr den Rücken
zuzukehren beginnt. Die Intelligenzen des Mittelstands, die früher wesentlich
die Vertretung der Partei ausmachten, Gelehrte, Richter und andre Juristen,
Gutsbesitzer. Fabrikanten und Kaufleute des Mittelstands, die sonst mit Eifer


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[0374] Die hannoverschen Nationalliberalen haben die Nationalliberalen zu ihrem Schaden in den Jahren 1881, 1884 und 1890, zu ihrem Vorteil bei den Wahlen von 1887 und 1893 erfahren. Aber es ist bezeichnend, daß es sowohl 1893 als 1887 eine außerordentliche Wahlparole war, von der die Nationalliberalen Nutzen zogen. Für sie war es ein Glückszufall, daß die Opposition der Linken und des Zentrums bei den Militärvorlagen aus der Verkennung der Stimmung großer Wühlermassen hervorging und durch ihr Verhalten die Auflösung des Reichstags vorbereitete. Ohne die Wahlparole — und im Jahre 1887 ohne das Kartell — hätten sich in den Wahlkreisen, wo die Nationalliberalen der feste Kern waren, kaum die übrigen Freunde der Militärvorlage bei den Neuwahlen um sie geschart, und namentlich hätten bei den Wahlen von 1893 die Nationalliberalen in Hannover ohne diesen Zuzug nicht die Erfolge gehabt, die sie thatsächlich er¬ zielt haben. Bei den diesjährigen Wahlen wird sich der Mangel einer alle Kreise des Volks aufrüttelnden Wahlparole für die Nationalliberalen sehr fühl¬ bar machen, und gerade aus ihrer Mitte hört man die lautesten Klagen darüber, daß die kluge Taktik des Zentrums die Marinewahlparole zu nichte gemacht hat. Sie wissen sehr wohl, daß ihnen nur ein geschickt zu verwertendes, das patriotische Empfinden aufrüttelndes Ereignis neue Wählermafsen zu¬ führen kann. An eigner werdender Kraft gebricht es den Nationalliberalen im Hanno- verschen wie in den übrigen Teilen Deutschlands seit geraumer Zeit ganz und gar. Mit dem Kampfruf „für Kaiser und Reich," mit patriotischen Festreden, mit großen Versprechungen und allgemeinen Redensarten ist es heutzutage allein nicht gethan. Für das Mißverhältnis zwischen Worten und Thaten hat denn doch das Volk jetzt ein deutlicheres Verständnis, als ihm von national¬ liberaler Seite zugetraut wird. Das Hin- und Herschwanken bei den wich¬ tigsten Tagesfragen, die Nachgiebigkeit, mit der sie sich einem fremden Willen unterordnen, ihre engen Beziehungen zum Großkapital und zur Großindustrie und in Verbindung damit die Aufstellung von Meinungen und Forderungen, die mit den alten Überlieferungen der Partei schlechthin unvereinbar sind, alles das und manches andre ist nicht geeignet, ihnen neue Anhänger zuzuführen. Die Überzeugung, daß sie schon seit einer Reihe von Jahren in erster Linie für die obern Zehntausend arbeiten, hat sich weiter Kreise bemächtigt, in denen sie vor Zeiten ihre Freunde suchten und fanden. Es ist bekannt, daß bei den Nationalliberalen gegenwärtig, was während der Jugendblüte der Partei nicht der Fall war, die Großindustrie und das Großkapital den Ton angeben. Die parlamentarische Thätigkeit ist von pluto- kratischem Geiste erfüllt; kein Wunder also, daß nicht allein die niedern Volks¬ klassen von ihr abgefallen sind, sondern auch der Mittelstand ihr den Rücken zuzukehren beginnt. Die Intelligenzen des Mittelstands, die früher wesentlich die Vertretung der Partei ausmachten, Gelehrte, Richter und andre Juristen, Gutsbesitzer. Fabrikanten und Kaufleute des Mittelstands, die sonst mit Eifer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/374>, abgerufen am 23.07.2024.