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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Sprachrohr dieser Gruppe im Reichstage die Negierung (Berlepsch, Vvtticher)
ersuchen mußte, ein langsameres Tempo in der sozialpolitischen Gesetzgebung
einzuschlagen- Wie man mit den wenigen Mitgliedern der Partei, die es mit
der praktischen Sozialpolitik Ernst nahmen und nicht nur so thun wollten,
umzuspringen beliebte, davon weiß der Braunschweiger Kulemcmn zu erzählen.

Noch über 1879 hinaus waren die hannoverschen Nationalliberalen, wie
gelegentliche Äußerungen ihrer Presse kund thaten, mit dem größten Teile des
rechten Flügels der Partei in dem Wahne befangen, daß der Kanzler über
kurz oder lang ihre Parteigrößen an das Staatsregiment berufen, sich deutlich
für ihren gemäßigten Liberalismus erklären und die von manchem heiß ersehnte
Negicrungsfähigteit der Partei zugestehen werde. Es hatte sie kaum stutzig
gemacht, daß schon im Jahre 1876 das Kanzlerblatt sehr lebhaft für eine
"konservative" Führung der Dinge eingetreten war, daß seitdem Bismarck
durch den Kreuzzeitungswagner die Agrarier lebhaft unterstützte, und daß ihre
-- der Nativnalliberalen -- mächtige Stellung seit den Wahlen von 1878
und infolge der wirtschaftlichen Reformpläne des Kanzlers, denen sie un¬
sicher und teilweise feindlich gegenüberstanden, offenbar im Schwinden war.
Trotz der veränderten Lage hofften sie immer noch, daß der Fürst Bismarck
die frühern Unterhandlungen (Winter 1877/78) mit Herrn von Bennigsen über
dessen Eintritt in die Negierung wieder aufnehmen werde, und hannoversche
Verehrer Benuigseus träumten noch um die Mitte der achtziger Jahre davon,
in ihrem Führer den Nachfolger Bismarcks zu sehen; sie brachten diese Träume
selbst in die Presse, zum großen Befremden derer, die eher als die große
Menge erkannt hatten, daß Herr von Bennigsen wohl ein vortrefflicher Redner
war, nicht aber als ein Manu, dem eigne schöpferische Gedanken in der großen
Politik zu Gebote standen, geschätzt werden konnte.

In den hannoverschen Kreisen der Nationalliberalen betrachtete man nach
dem ersten Schrecken die Sezession des linken Flügels (1880) als eine Art
von Reinigung, und dieser Gedanke war sehr geeignet, ihren Glauben an die
Ncgierungsfähigkeit der Partei zu stärken. Sicher war dieser Glaube, der
auch von Parteigenossen außerhalb Hannovers noch geteilt wurde, mitbe¬
stimmend für die weitere Haltung der Partei: die Heidelberger Erklärung
sanktionirte ihren Zug nach rechts, ihre Nachgiebigkeit gegenüber den Regierungs¬
einflüssen wuchs, sie suchten und fanden noch innigere Fühlung mit den Gouver-
nementalen als bisher. Selbst mit dem Polizeiminister von Puttkamer wußten
sie sich abzufinden. Eine liberale Forderung nach der andern legten sie still
beiseite, wenn es zu handeln galt. In Worten freilich blieben sie "unentwegt"
"voll und ganz" die Verfechter der Volksfreiheit, und gelegentlich, namentlich
vor Wahlschlachten, strömte ihre Presse über von volksfreundlichen Beteue¬
rungen, die dann freilich in den parlamentarischen Schlußakten kaum je Be¬
thätigung fanden. Ihr Programm ward farbloser und phrasenhafter, ihr poli-


Sprachrohr dieser Gruppe im Reichstage die Negierung (Berlepsch, Vvtticher)
ersuchen mußte, ein langsameres Tempo in der sozialpolitischen Gesetzgebung
einzuschlagen- Wie man mit den wenigen Mitgliedern der Partei, die es mit
der praktischen Sozialpolitik Ernst nahmen und nicht nur so thun wollten,
umzuspringen beliebte, davon weiß der Braunschweiger Kulemcmn zu erzählen.

Noch über 1879 hinaus waren die hannoverschen Nationalliberalen, wie
gelegentliche Äußerungen ihrer Presse kund thaten, mit dem größten Teile des
rechten Flügels der Partei in dem Wahne befangen, daß der Kanzler über
kurz oder lang ihre Parteigrößen an das Staatsregiment berufen, sich deutlich
für ihren gemäßigten Liberalismus erklären und die von manchem heiß ersehnte
Negicrungsfähigteit der Partei zugestehen werde. Es hatte sie kaum stutzig
gemacht, daß schon im Jahre 1876 das Kanzlerblatt sehr lebhaft für eine
„konservative" Führung der Dinge eingetreten war, daß seitdem Bismarck
durch den Kreuzzeitungswagner die Agrarier lebhaft unterstützte, und daß ihre
— der Nativnalliberalen — mächtige Stellung seit den Wahlen von 1878
und infolge der wirtschaftlichen Reformpläne des Kanzlers, denen sie un¬
sicher und teilweise feindlich gegenüberstanden, offenbar im Schwinden war.
Trotz der veränderten Lage hofften sie immer noch, daß der Fürst Bismarck
die frühern Unterhandlungen (Winter 1877/78) mit Herrn von Bennigsen über
dessen Eintritt in die Negierung wieder aufnehmen werde, und hannoversche
Verehrer Benuigseus träumten noch um die Mitte der achtziger Jahre davon,
in ihrem Führer den Nachfolger Bismarcks zu sehen; sie brachten diese Träume
selbst in die Presse, zum großen Befremden derer, die eher als die große
Menge erkannt hatten, daß Herr von Bennigsen wohl ein vortrefflicher Redner
war, nicht aber als ein Manu, dem eigne schöpferische Gedanken in der großen
Politik zu Gebote standen, geschätzt werden konnte.

In den hannoverschen Kreisen der Nationalliberalen betrachtete man nach
dem ersten Schrecken die Sezession des linken Flügels (1880) als eine Art
von Reinigung, und dieser Gedanke war sehr geeignet, ihren Glauben an die
Ncgierungsfähigkeit der Partei zu stärken. Sicher war dieser Glaube, der
auch von Parteigenossen außerhalb Hannovers noch geteilt wurde, mitbe¬
stimmend für die weitere Haltung der Partei: die Heidelberger Erklärung
sanktionirte ihren Zug nach rechts, ihre Nachgiebigkeit gegenüber den Regierungs¬
einflüssen wuchs, sie suchten und fanden noch innigere Fühlung mit den Gouver-
nementalen als bisher. Selbst mit dem Polizeiminister von Puttkamer wußten
sie sich abzufinden. Eine liberale Forderung nach der andern legten sie still
beiseite, wenn es zu handeln galt. In Worten freilich blieben sie „unentwegt"
„voll und ganz" die Verfechter der Volksfreiheit, und gelegentlich, namentlich
vor Wahlschlachten, strömte ihre Presse über von volksfreundlichen Beteue¬
rungen, die dann freilich in den parlamentarischen Schlußakten kaum je Be¬
thätigung fanden. Ihr Programm ward farbloser und phrasenhafter, ihr poli-


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[0320] Sprachrohr dieser Gruppe im Reichstage die Negierung (Berlepsch, Vvtticher) ersuchen mußte, ein langsameres Tempo in der sozialpolitischen Gesetzgebung einzuschlagen- Wie man mit den wenigen Mitgliedern der Partei, die es mit der praktischen Sozialpolitik Ernst nahmen und nicht nur so thun wollten, umzuspringen beliebte, davon weiß der Braunschweiger Kulemcmn zu erzählen. Noch über 1879 hinaus waren die hannoverschen Nationalliberalen, wie gelegentliche Äußerungen ihrer Presse kund thaten, mit dem größten Teile des rechten Flügels der Partei in dem Wahne befangen, daß der Kanzler über kurz oder lang ihre Parteigrößen an das Staatsregiment berufen, sich deutlich für ihren gemäßigten Liberalismus erklären und die von manchem heiß ersehnte Negicrungsfähigteit der Partei zugestehen werde. Es hatte sie kaum stutzig gemacht, daß schon im Jahre 1876 das Kanzlerblatt sehr lebhaft für eine „konservative" Führung der Dinge eingetreten war, daß seitdem Bismarck durch den Kreuzzeitungswagner die Agrarier lebhaft unterstützte, und daß ihre — der Nativnalliberalen — mächtige Stellung seit den Wahlen von 1878 und infolge der wirtschaftlichen Reformpläne des Kanzlers, denen sie un¬ sicher und teilweise feindlich gegenüberstanden, offenbar im Schwinden war. Trotz der veränderten Lage hofften sie immer noch, daß der Fürst Bismarck die frühern Unterhandlungen (Winter 1877/78) mit Herrn von Bennigsen über dessen Eintritt in die Negierung wieder aufnehmen werde, und hannoversche Verehrer Benuigseus träumten noch um die Mitte der achtziger Jahre davon, in ihrem Führer den Nachfolger Bismarcks zu sehen; sie brachten diese Träume selbst in die Presse, zum großen Befremden derer, die eher als die große Menge erkannt hatten, daß Herr von Bennigsen wohl ein vortrefflicher Redner war, nicht aber als ein Manu, dem eigne schöpferische Gedanken in der großen Politik zu Gebote standen, geschätzt werden konnte. In den hannoverschen Kreisen der Nationalliberalen betrachtete man nach dem ersten Schrecken die Sezession des linken Flügels (1880) als eine Art von Reinigung, und dieser Gedanke war sehr geeignet, ihren Glauben an die Ncgierungsfähigkeit der Partei zu stärken. Sicher war dieser Glaube, der auch von Parteigenossen außerhalb Hannovers noch geteilt wurde, mitbe¬ stimmend für die weitere Haltung der Partei: die Heidelberger Erklärung sanktionirte ihren Zug nach rechts, ihre Nachgiebigkeit gegenüber den Regierungs¬ einflüssen wuchs, sie suchten und fanden noch innigere Fühlung mit den Gouver- nementalen als bisher. Selbst mit dem Polizeiminister von Puttkamer wußten sie sich abzufinden. Eine liberale Forderung nach der andern legten sie still beiseite, wenn es zu handeln galt. In Worten freilich blieben sie „unentwegt" „voll und ganz" die Verfechter der Volksfreiheit, und gelegentlich, namentlich vor Wahlschlachten, strömte ihre Presse über von volksfreundlichen Beteue¬ rungen, die dann freilich in den parlamentarischen Schlußakten kaum je Be¬ thätigung fanden. Ihr Programm ward farbloser und phrasenhafter, ihr poli-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/320>, abgerufen am 23.07.2024.