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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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aufgäbe, die noch im nämliche" Jahre 1875 vergriffen war. Eine zweite Auf¬
lage hat bis voriges Jahr gereicht. Schmoller verdient Dank, daß er sich, vom
Verleger (Duncker und Humblot) aufgefordert, zu einer neuen Auflage entschlossen
hat, dem, die Schrift hat heute noch eine ganz aktuelle Bedeutung und behält dabei
für alle Zeiten ihren bleibenden Wert als eine Zusammenfassung der Grundsätze, die
bei der Beurteilung sozialer Fragen maßgebend sein müssen. Der Verfasser hat zwei
weniger bedeutende Aufsätze beigefügt und dem Ganzen den ursprünglichen Titel der
ersten Schrift gelassen: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der
Volkswirtschaftslehre. Die ander" beiden Abhandlungen: "Die Volkswirtschaft,
die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode" und "Wechselnde Theorien und fest¬
stehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften," enthalten der
Hauptsache nach dasselbe, nämlich eine Kritik der volkswirtschaftlichen Theorien, nur
daß die erste die Form einer ausführlichen und gründlichen wissenschaftlichen Unter¬
suchung trägt, während die zweite -- es ist die vielbesprochne vorjährige Rektorats-
rede -- kürzer und mehr populär gehalten ist. Mit den "feststehenden Wahrheiten"
ist vor der Hand noch nicht viel Staat zu machen, "nur im Halbdunkel des Ahnens,
Hoffens und Glaubens liegen die letzten und größten der staatswissenschaftlicher
Fragen auch heute vor uns" (S. 339); aber wir bekommen wenigstens seite 30"
den Trost, daß wir uus auf dem rechte" Wege befinde", wenn wir uns nicht für
eine orthodoxe Theorie, etwa den Smithiauismus oder Marxismus, einfangen
lassen. -- Eine neue Ära englischer Sozialgesetzgebung betitelt Dr. Otto
Bielefeld seine (ebenfalls bei Duncker und Humblot erschienene) Geschichte der
Entstehung des voriges Jahr erlassenen Vorlcmöit's vomponWticm ^Vol, die er als
Ohrenzeuge der Parlamentsverhandlungen und aus Unterredungen mit den politischen
Führern geunu kenne" gelernt hat. Erst dnrch dieses Gesetz über Arbeiterversichernng,
meint er, habe England mit seinen alten Traditionen gebrochen und sich auf den
Boden der deutschen Sozialgesetzgebung gestellt. Unter "eigentlicher Sozialgesetz¬
gebung" versteht er eine "Regelung der gesellschaftlichen Hilfe gegen Störunge"
des Erwerbslebens im Arbeiterstande, die über das Maß der allgemeinen zivil-
rechtlichen Grundsätze hinausgeht." Wenn er demnach den Arbeitcrschntz nicht zur
Sozialgesetzgebung zu rechnen scheint, so läßt sich das am Ende rechtfertige", indem "in"
diesen als eine allgemeine kriminalrechtliche Maßregel auffaßt; durch Arbeiterschntz-
nesetze werden gewisse Arten von Menschenquälerei verboten, die nur besondre Fälle
der allgemein verbotne" Mißhandlung und Körperschädignng sind. Bielefelds Dar¬
stellung bestätigt deu Eindruck, den schon die Zeitungsberichte gemacht hatten, daß
das englische Gesetz hinter dem deutschen wen zurückbleibt, sowohl was den Umfang
der Verhinderungspflicht, als was die Höhe und Sicherheit der Entschädignngc"
""langt. Mit Recht wird es vou ihm zu den Mängel" des englische" Gesetzes
gerechnet, daß im Falle der Tötung des Arbeiters die Hinterbliebnen eine ein¬
malige Abfindung erhalten statt, wie in Deutschland, eine Rente. (Den Vorzug der
Rentenform erkennt much der "Vorwärts" an, und er polemisirt daher gage" den
Vorschlag der Post, an Stelle der Unfall- oder Invalidenrente ein Kapital zu ge¬
währen, wenn sich der Versicherte verpflichtet, damit ein ländliches Grundstück zu
erwerbe"; das soll natürlich ein Mittel gegen die Not der Landwirtschaft sein, die
sich in diesem Jahre der schönen Getreidepreise vorzugsweise in der Gestalt des
Mangels an Arbeiter" äußert.) Die Mängel des englischen Gesetzes werden dnrch
die sehr bedeutenden freiwilligen Leistungen von Arbeitervereinen, die ja vor¬
läufig fortdauern, erträglich gemacht; doch glaubt Bielefeld, daß d,c freiwilligen
Leistungen der Arbeiter mit den jetzt vom Staate den Unternehmern auferlegten


aufgäbe, die noch im nämliche» Jahre 1875 vergriffen war. Eine zweite Auf¬
lage hat bis voriges Jahr gereicht. Schmoller verdient Dank, daß er sich, vom
Verleger (Duncker und Humblot) aufgefordert, zu einer neuen Auflage entschlossen
hat, dem, die Schrift hat heute noch eine ganz aktuelle Bedeutung und behält dabei
für alle Zeiten ihren bleibenden Wert als eine Zusammenfassung der Grundsätze, die
bei der Beurteilung sozialer Fragen maßgebend sein müssen. Der Verfasser hat zwei
weniger bedeutende Aufsätze beigefügt und dem Ganzen den ursprünglichen Titel der
ersten Schrift gelassen: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der
Volkswirtschaftslehre. Die ander» beiden Abhandlungen: „Die Volkswirtschaft,
die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode" und „Wechselnde Theorien und fest¬
stehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften," enthalten der
Hauptsache nach dasselbe, nämlich eine Kritik der volkswirtschaftlichen Theorien, nur
daß die erste die Form einer ausführlichen und gründlichen wissenschaftlichen Unter¬
suchung trägt, während die zweite — es ist die vielbesprochne vorjährige Rektorats-
rede — kürzer und mehr populär gehalten ist. Mit den „feststehenden Wahrheiten"
ist vor der Hand noch nicht viel Staat zu machen, „nur im Halbdunkel des Ahnens,
Hoffens und Glaubens liegen die letzten und größten der staatswissenschaftlicher
Fragen auch heute vor uns" (S. 339); aber wir bekommen wenigstens seite 30»
den Trost, daß wir uus auf dem rechte» Wege befinde», wenn wir uns nicht für
eine orthodoxe Theorie, etwa den Smithiauismus oder Marxismus, einfangen
lassen. — Eine neue Ära englischer Sozialgesetzgebung betitelt Dr. Otto
Bielefeld seine (ebenfalls bei Duncker und Humblot erschienene) Geschichte der
Entstehung des voriges Jahr erlassenen Vorlcmöit's vomponWticm ^Vol, die er als
Ohrenzeuge der Parlamentsverhandlungen und aus Unterredungen mit den politischen
Führern geunu kenne» gelernt hat. Erst dnrch dieses Gesetz über Arbeiterversichernng,
meint er, habe England mit seinen alten Traditionen gebrochen und sich auf den
Boden der deutschen Sozialgesetzgebung gestellt. Unter „eigentlicher Sozialgesetz¬
gebung" versteht er eine „Regelung der gesellschaftlichen Hilfe gegen Störunge»
des Erwerbslebens im Arbeiterstande, die über das Maß der allgemeinen zivil-
rechtlichen Grundsätze hinausgeht." Wenn er demnach den Arbeitcrschntz nicht zur
Sozialgesetzgebung zu rechnen scheint, so läßt sich das am Ende rechtfertige», indem »in»
diesen als eine allgemeine kriminalrechtliche Maßregel auffaßt; durch Arbeiterschntz-
nesetze werden gewisse Arten von Menschenquälerei verboten, die nur besondre Fälle
der allgemein verbotne» Mißhandlung und Körperschädignng sind. Bielefelds Dar¬
stellung bestätigt deu Eindruck, den schon die Zeitungsberichte gemacht hatten, daß
das englische Gesetz hinter dem deutschen wen zurückbleibt, sowohl was den Umfang
der Verhinderungspflicht, als was die Höhe und Sicherheit der Entschädignngc»
""langt. Mit Recht wird es vou ihm zu den Mängel» des englische» Gesetzes
gerechnet, daß im Falle der Tötung des Arbeiters die Hinterbliebnen eine ein¬
malige Abfindung erhalten statt, wie in Deutschland, eine Rente. (Den Vorzug der
Rentenform erkennt much der „Vorwärts" an, und er polemisirt daher gage» den
Vorschlag der Post, an Stelle der Unfall- oder Invalidenrente ein Kapital zu ge¬
währen, wenn sich der Versicherte verpflichtet, damit ein ländliches Grundstück zu
erwerbe»; das soll natürlich ein Mittel gegen die Not der Landwirtschaft sein, die
sich in diesem Jahre der schönen Getreidepreise vorzugsweise in der Gestalt des
Mangels an Arbeiter» äußert.) Die Mängel des englischen Gesetzes werden dnrch
die sehr bedeutenden freiwilligen Leistungen von Arbeitervereinen, die ja vor¬
läufig fortdauern, erträglich gemacht; doch glaubt Bielefeld, daß d,c freiwilligen
Leistungen der Arbeiter mit den jetzt vom Staate den Unternehmern auferlegten


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[0309] aufgäbe, die noch im nämliche» Jahre 1875 vergriffen war. Eine zweite Auf¬ lage hat bis voriges Jahr gereicht. Schmoller verdient Dank, daß er sich, vom Verleger (Duncker und Humblot) aufgefordert, zu einer neuen Auflage entschlossen hat, dem, die Schrift hat heute noch eine ganz aktuelle Bedeutung und behält dabei für alle Zeiten ihren bleibenden Wert als eine Zusammenfassung der Grundsätze, die bei der Beurteilung sozialer Fragen maßgebend sein müssen. Der Verfasser hat zwei weniger bedeutende Aufsätze beigefügt und dem Ganzen den ursprünglichen Titel der ersten Schrift gelassen: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. Die ander» beiden Abhandlungen: „Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode" und „Wechselnde Theorien und fest¬ stehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften," enthalten der Hauptsache nach dasselbe, nämlich eine Kritik der volkswirtschaftlichen Theorien, nur daß die erste die Form einer ausführlichen und gründlichen wissenschaftlichen Unter¬ suchung trägt, während die zweite — es ist die vielbesprochne vorjährige Rektorats- rede — kürzer und mehr populär gehalten ist. Mit den „feststehenden Wahrheiten" ist vor der Hand noch nicht viel Staat zu machen, „nur im Halbdunkel des Ahnens, Hoffens und Glaubens liegen die letzten und größten der staatswissenschaftlicher Fragen auch heute vor uns" (S. 339); aber wir bekommen wenigstens seite 30» den Trost, daß wir uus auf dem rechte» Wege befinde», wenn wir uns nicht für eine orthodoxe Theorie, etwa den Smithiauismus oder Marxismus, einfangen lassen. — Eine neue Ära englischer Sozialgesetzgebung betitelt Dr. Otto Bielefeld seine (ebenfalls bei Duncker und Humblot erschienene) Geschichte der Entstehung des voriges Jahr erlassenen Vorlcmöit's vomponWticm ^Vol, die er als Ohrenzeuge der Parlamentsverhandlungen und aus Unterredungen mit den politischen Führern geunu kenne» gelernt hat. Erst dnrch dieses Gesetz über Arbeiterversichernng, meint er, habe England mit seinen alten Traditionen gebrochen und sich auf den Boden der deutschen Sozialgesetzgebung gestellt. Unter „eigentlicher Sozialgesetz¬ gebung" versteht er eine „Regelung der gesellschaftlichen Hilfe gegen Störunge» des Erwerbslebens im Arbeiterstande, die über das Maß der allgemeinen zivil- rechtlichen Grundsätze hinausgeht." Wenn er demnach den Arbeitcrschntz nicht zur Sozialgesetzgebung zu rechnen scheint, so läßt sich das am Ende rechtfertige», indem »in» diesen als eine allgemeine kriminalrechtliche Maßregel auffaßt; durch Arbeiterschntz- nesetze werden gewisse Arten von Menschenquälerei verboten, die nur besondre Fälle der allgemein verbotne» Mißhandlung und Körperschädignng sind. Bielefelds Dar¬ stellung bestätigt deu Eindruck, den schon die Zeitungsberichte gemacht hatten, daß das englische Gesetz hinter dem deutschen wen zurückbleibt, sowohl was den Umfang der Verhinderungspflicht, als was die Höhe und Sicherheit der Entschädignngc» ""langt. Mit Recht wird es vou ihm zu den Mängel» des englische» Gesetzes gerechnet, daß im Falle der Tötung des Arbeiters die Hinterbliebnen eine ein¬ malige Abfindung erhalten statt, wie in Deutschland, eine Rente. (Den Vorzug der Rentenform erkennt much der „Vorwärts" an, und er polemisirt daher gage» den Vorschlag der Post, an Stelle der Unfall- oder Invalidenrente ein Kapital zu ge¬ währen, wenn sich der Versicherte verpflichtet, damit ein ländliches Grundstück zu erwerbe»; das soll natürlich ein Mittel gegen die Not der Landwirtschaft sein, die sich in diesem Jahre der schönen Getreidepreise vorzugsweise in der Gestalt des Mangels an Arbeiter» äußert.) Die Mängel des englischen Gesetzes werden dnrch die sehr bedeutenden freiwilligen Leistungen von Arbeitervereinen, die ja vor¬ läufig fortdauern, erträglich gemacht; doch glaubt Bielefeld, daß d,c freiwilligen Leistungen der Arbeiter mit den jetzt vom Staate den Unternehmern auferlegten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/309>, abgerufen am 27.12.2024.