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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

harte Maßregeln gegen diese Bewegung versucht, aber die stete Ausbreitung
nicht verhindern können. Ursprünglich auf das kleinrussische Volk beschränkt, hat
sich der Stundismus im ganzen südlich von Moskau und Smolensk liegenden
Gebiet ausgebreitet und umfaßt Hunderttausende, vielleicht schon Millionen.
Ursprünglich harmlos innerhalb der Kirche lebend, ist er heute eine Sekte, die
sich von der Kirche getrennt hat; den Abfall hat die Staatskirche selbst durch
die Bedrückung und den Angriff beschleunigt, zu dem sie schritt, als sie sah,
daß geistige Mittel nicht ausreichten. Der Stundismus ist so durchaus
evangelisch, daß er bei den deutschen Kolonisten, von denen er ausging, ruhig
innerhalb der protestantischen Kirche bleiben konnte. Aber während er sich
den Lehren und Bräuchen des Luthertums leicht einfügte, stieß er hart an
eine Kirche, deren kunstvoller Bau ebenso wenig der Schlichtheit des Evan¬
geliums der Fischer entspricht, wie die römische Schwesterkirche.

Eines Geistes mit dem Stnndismus ist die Gemeinde, an deren Spitze
der Gardeoberst Paschkow stand. Über diese Gemeinde ist bereits mehrfach in
deutschen Zeitschriften geschrieben worden, sodciß ich es unterlasse, hier näher
darauf einzugehen. Es ist bekannt, daß die Paschkower auf methodistischem
Wege das Evangelium von der Erlösung verkünden, daß sie sich von der
Staatskirche losgesagt haben, daß sie in freien Versammlungen die Schrift
auslegen, wie der Geist sie treibt; daß die Stifter und leitenden Glieder dieser
Gemeinde den höchsten und reichsten Kreisen Petersburgs angehören, daß ihre
sehr großen Geldmittel mit verschwenderischer Freigebigkeit für Zwecke der
Nächstenliebe, ohne alle Rücksicht auf Geburt, Nationalität oder Bekenntnis
verwandt werden -- oder richtiger wurden, solange als man sie und ihre
Thätigkeit duldete. Paschkow war eine Zeit laug (in den siebziger Jahren) in
Petersburg zwar kein Heiliger wie Vater Johann, weil er nicht Wunder that,
aber ein Mann, den jedermann kannte, den man mit Verwunderung und Be¬
wunderung betrachtete, der beim niedern Volk nicht fern von religiöser Ver¬
ehrung stand. "Unser Erlöser," so konnte man ihn oft von Droschkenkutschern
und Leuten ähnlicher Stellung nennen hören. Und in der That, er und seine
Anhänger haben so viel "wohlzuthun und mitzuteilen" verstanden, daß ihnen
Dank und Ehre nicht bloß vom Volke, sondern auch von Seiten der staat¬
lichen Gewalt gebührt Hütte. Aber es ist anders gekommen.

Alexander III. kam zur Negierung als ein Schüler Pobedonoszews und
blieb es bis an sein Lebensende. Die Macht des Oberprokureurs des Shnods
wuchs schnell weit hinaus über die Grenzen dieser obersten Behörde der
orthodoxen Kirchenleitung. Und diese Macht gebrauchte das thatsächliche,
wenn auch nicht förmliche Haupt der russisch-orthodoxen Kirche seitdem mit
der ganzen Grausamkeit, die von jeher den Eiferern, nicht der Religion,
sondern des Kirchentums eigen gewesen ist. Denn auch Vater Johann und
Paschkow sind Eiferer, aber ihr Fanatismus gilt dem Kern, der Fanatismus


Der Lvangelismus in Rußland

harte Maßregeln gegen diese Bewegung versucht, aber die stete Ausbreitung
nicht verhindern können. Ursprünglich auf das kleinrussische Volk beschränkt, hat
sich der Stundismus im ganzen südlich von Moskau und Smolensk liegenden
Gebiet ausgebreitet und umfaßt Hunderttausende, vielleicht schon Millionen.
Ursprünglich harmlos innerhalb der Kirche lebend, ist er heute eine Sekte, die
sich von der Kirche getrennt hat; den Abfall hat die Staatskirche selbst durch
die Bedrückung und den Angriff beschleunigt, zu dem sie schritt, als sie sah,
daß geistige Mittel nicht ausreichten. Der Stundismus ist so durchaus
evangelisch, daß er bei den deutschen Kolonisten, von denen er ausging, ruhig
innerhalb der protestantischen Kirche bleiben konnte. Aber während er sich
den Lehren und Bräuchen des Luthertums leicht einfügte, stieß er hart an
eine Kirche, deren kunstvoller Bau ebenso wenig der Schlichtheit des Evan¬
geliums der Fischer entspricht, wie die römische Schwesterkirche.

Eines Geistes mit dem Stnndismus ist die Gemeinde, an deren Spitze
der Gardeoberst Paschkow stand. Über diese Gemeinde ist bereits mehrfach in
deutschen Zeitschriften geschrieben worden, sodciß ich es unterlasse, hier näher
darauf einzugehen. Es ist bekannt, daß die Paschkower auf methodistischem
Wege das Evangelium von der Erlösung verkünden, daß sie sich von der
Staatskirche losgesagt haben, daß sie in freien Versammlungen die Schrift
auslegen, wie der Geist sie treibt; daß die Stifter und leitenden Glieder dieser
Gemeinde den höchsten und reichsten Kreisen Petersburgs angehören, daß ihre
sehr großen Geldmittel mit verschwenderischer Freigebigkeit für Zwecke der
Nächstenliebe, ohne alle Rücksicht auf Geburt, Nationalität oder Bekenntnis
verwandt werden — oder richtiger wurden, solange als man sie und ihre
Thätigkeit duldete. Paschkow war eine Zeit laug (in den siebziger Jahren) in
Petersburg zwar kein Heiliger wie Vater Johann, weil er nicht Wunder that,
aber ein Mann, den jedermann kannte, den man mit Verwunderung und Be¬
wunderung betrachtete, der beim niedern Volk nicht fern von religiöser Ver¬
ehrung stand. „Unser Erlöser," so konnte man ihn oft von Droschkenkutschern
und Leuten ähnlicher Stellung nennen hören. Und in der That, er und seine
Anhänger haben so viel „wohlzuthun und mitzuteilen" verstanden, daß ihnen
Dank und Ehre nicht bloß vom Volke, sondern auch von Seiten der staat¬
lichen Gewalt gebührt Hütte. Aber es ist anders gekommen.

Alexander III. kam zur Negierung als ein Schüler Pobedonoszews und
blieb es bis an sein Lebensende. Die Macht des Oberprokureurs des Shnods
wuchs schnell weit hinaus über die Grenzen dieser obersten Behörde der
orthodoxen Kirchenleitung. Und diese Macht gebrauchte das thatsächliche,
wenn auch nicht förmliche Haupt der russisch-orthodoxen Kirche seitdem mit
der ganzen Grausamkeit, die von jeher den Eiferern, nicht der Religion,
sondern des Kirchentums eigen gewesen ist. Denn auch Vater Johann und
Paschkow sind Eiferer, aber ihr Fanatismus gilt dem Kern, der Fanatismus


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[0228] Der Lvangelismus in Rußland harte Maßregeln gegen diese Bewegung versucht, aber die stete Ausbreitung nicht verhindern können. Ursprünglich auf das kleinrussische Volk beschränkt, hat sich der Stundismus im ganzen südlich von Moskau und Smolensk liegenden Gebiet ausgebreitet und umfaßt Hunderttausende, vielleicht schon Millionen. Ursprünglich harmlos innerhalb der Kirche lebend, ist er heute eine Sekte, die sich von der Kirche getrennt hat; den Abfall hat die Staatskirche selbst durch die Bedrückung und den Angriff beschleunigt, zu dem sie schritt, als sie sah, daß geistige Mittel nicht ausreichten. Der Stundismus ist so durchaus evangelisch, daß er bei den deutschen Kolonisten, von denen er ausging, ruhig innerhalb der protestantischen Kirche bleiben konnte. Aber während er sich den Lehren und Bräuchen des Luthertums leicht einfügte, stieß er hart an eine Kirche, deren kunstvoller Bau ebenso wenig der Schlichtheit des Evan¬ geliums der Fischer entspricht, wie die römische Schwesterkirche. Eines Geistes mit dem Stnndismus ist die Gemeinde, an deren Spitze der Gardeoberst Paschkow stand. Über diese Gemeinde ist bereits mehrfach in deutschen Zeitschriften geschrieben worden, sodciß ich es unterlasse, hier näher darauf einzugehen. Es ist bekannt, daß die Paschkower auf methodistischem Wege das Evangelium von der Erlösung verkünden, daß sie sich von der Staatskirche losgesagt haben, daß sie in freien Versammlungen die Schrift auslegen, wie der Geist sie treibt; daß die Stifter und leitenden Glieder dieser Gemeinde den höchsten und reichsten Kreisen Petersburgs angehören, daß ihre sehr großen Geldmittel mit verschwenderischer Freigebigkeit für Zwecke der Nächstenliebe, ohne alle Rücksicht auf Geburt, Nationalität oder Bekenntnis verwandt werden — oder richtiger wurden, solange als man sie und ihre Thätigkeit duldete. Paschkow war eine Zeit laug (in den siebziger Jahren) in Petersburg zwar kein Heiliger wie Vater Johann, weil er nicht Wunder that, aber ein Mann, den jedermann kannte, den man mit Verwunderung und Be¬ wunderung betrachtete, der beim niedern Volk nicht fern von religiöser Ver¬ ehrung stand. „Unser Erlöser," so konnte man ihn oft von Droschkenkutschern und Leuten ähnlicher Stellung nennen hören. Und in der That, er und seine Anhänger haben so viel „wohlzuthun und mitzuteilen" verstanden, daß ihnen Dank und Ehre nicht bloß vom Volke, sondern auch von Seiten der staat¬ lichen Gewalt gebührt Hütte. Aber es ist anders gekommen. Alexander III. kam zur Negierung als ein Schüler Pobedonoszews und blieb es bis an sein Lebensende. Die Macht des Oberprokureurs des Shnods wuchs schnell weit hinaus über die Grenzen dieser obersten Behörde der orthodoxen Kirchenleitung. Und diese Macht gebrauchte das thatsächliche, wenn auch nicht förmliche Haupt der russisch-orthodoxen Kirche seitdem mit der ganzen Grausamkeit, die von jeher den Eiferern, nicht der Religion, sondern des Kirchentums eigen gewesen ist. Denn auch Vater Johann und Paschkow sind Eiferer, aber ihr Fanatismus gilt dem Kern, der Fanatismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/228>, abgerufen am 27.12.2024.