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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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vorzugehen, wie sie gegen deren Glaubensverwandte, die Molokanen und die
Duchoborzen vorgegangen sind. Diese russischen Sekten verwerfen gleichfalls
auf Grund der Gebote Christi den Kriegsdienst und haben sich von der Staats¬
kirche gelöst. Mit welchen Mitteln sich die Staatskirche und der Staat gegen
diese Sekten schützen, haben im Laufe des letzten Jahres mancherlei in die
Öffentlichkeit gedrungne Beispiele gezeigt. Verbannung nach Sibirien, Kon¬
fiskation des Eigentums, Wegnahme der Kinder sind die Strafen, durch die
diese Sekten zersprengt und ausgerottet werden sollen. Tolstoi hat mit rück¬
sichtsloser Schärfe in verschiednen Schriften und zuletzt zu Anfang dieses
Jahres in einem schwedischen Blatt gegen diese Verfolgungen protestirt und
sich thatsächlich zum Beschützer und Helfer der Verfolgten aufgeworfen.

Von weit größerer Tragweite als die Thätigkeit Johanns von Kron¬
stäbe und Tolstois ist die evcmgelisirende Bewegung des Stundismus.

Den Ursprung des russischen Stundismus führt Dalton ("Der Stundismus
in Nußland") auf ein paar deutsche Kolonistendörfer im Gubernium Cherson
zurück. Wie dem auch sei, gewiß ist, daß es in den großen und reichen
deutschen Kolonien des südlichen Rußlands an amtlichen Predigern oft mangelte,
und daß dieser Mangel oft durch Bibelstunden von den Gemeindegliedern er¬
setzt zu werden pflegte. Die Kolonisten, meist Oberdeutsche aus Schwaben,
waren Protestanten, und ihre Bibelstunden erhielten den evangelischen Sinn
aufrecht, den sie aus der Heimat mitgebracht hatten. Da keinerlei missionirendc
Thätigkeit von diesen Kolonisten ausging, so blieb das umwohnende Russentum
lange unberührt von dem deutsche" Evangelismus. Fast ein Jahrhundert
haben die Deutschen dort gesessen, ohne daß man von ihren religiösen, von
kirchlichen Einflüssen auf die orthodoxe Bevölkerung vernahm. Erst die Ver¬
breitung der russischen Bibel unter Alexander II. und die Aufhebung der
Leibeigenschaft haben gemeinsam die Wirkung gehabt, daß der russische Nachbar
von den Deutschen das selbständige Lesen der Bibel und wohl auch die Auf¬
fassung des Evangeliums annahm, die sich dem einen und andern gelegentlich
durch die Beteiligung an einer deutschen Bibelstunde eingeprägt hatte. Diese
Auffassung war von der einfachsten Art: das Evangelium und nichts als das
Evangelium befriedigte das religiöse Bedürfnis. Das allgemeine Priestertum,
wie wir es in manchen protestantischen Sekten längst kennen, ersetzte das
Kirchentum, und die Kraft des Glaubens ersetzte die Kraft des kirchlichen
Priestertums. Wie ein Steppenbrand züngelte seit dem Anfang der sechziger
Jahre dieser evangelische Stundismus nach allen Seiten hin, Dorf auf Dorf
verließ die Staatskirche, um zur Bibelstunde zu gehen, das Evangelium zu
hören, Choräle und Lieder protestantischen Gepräges zu singen und oft auch
um ruhig den Hohn, die Schläge und Mißhandlungen zu erdulden, die ihnen
autorisirte und nicht autorisirte Anhänger der Staatskirche zu teil werden ließen.
Seitdem hat der Staat uuter Alexander II. milde, später, unter dessen Nachfolger,


vorzugehen, wie sie gegen deren Glaubensverwandte, die Molokanen und die
Duchoborzen vorgegangen sind. Diese russischen Sekten verwerfen gleichfalls
auf Grund der Gebote Christi den Kriegsdienst und haben sich von der Staats¬
kirche gelöst. Mit welchen Mitteln sich die Staatskirche und der Staat gegen
diese Sekten schützen, haben im Laufe des letzten Jahres mancherlei in die
Öffentlichkeit gedrungne Beispiele gezeigt. Verbannung nach Sibirien, Kon¬
fiskation des Eigentums, Wegnahme der Kinder sind die Strafen, durch die
diese Sekten zersprengt und ausgerottet werden sollen. Tolstoi hat mit rück¬
sichtsloser Schärfe in verschiednen Schriften und zuletzt zu Anfang dieses
Jahres in einem schwedischen Blatt gegen diese Verfolgungen protestirt und
sich thatsächlich zum Beschützer und Helfer der Verfolgten aufgeworfen.

Von weit größerer Tragweite als die Thätigkeit Johanns von Kron¬
stäbe und Tolstois ist die evcmgelisirende Bewegung des Stundismus.

Den Ursprung des russischen Stundismus führt Dalton („Der Stundismus
in Nußland") auf ein paar deutsche Kolonistendörfer im Gubernium Cherson
zurück. Wie dem auch sei, gewiß ist, daß es in den großen und reichen
deutschen Kolonien des südlichen Rußlands an amtlichen Predigern oft mangelte,
und daß dieser Mangel oft durch Bibelstunden von den Gemeindegliedern er¬
setzt zu werden pflegte. Die Kolonisten, meist Oberdeutsche aus Schwaben,
waren Protestanten, und ihre Bibelstunden erhielten den evangelischen Sinn
aufrecht, den sie aus der Heimat mitgebracht hatten. Da keinerlei missionirendc
Thätigkeit von diesen Kolonisten ausging, so blieb das umwohnende Russentum
lange unberührt von dem deutsche» Evangelismus. Fast ein Jahrhundert
haben die Deutschen dort gesessen, ohne daß man von ihren religiösen, von
kirchlichen Einflüssen auf die orthodoxe Bevölkerung vernahm. Erst die Ver¬
breitung der russischen Bibel unter Alexander II. und die Aufhebung der
Leibeigenschaft haben gemeinsam die Wirkung gehabt, daß der russische Nachbar
von den Deutschen das selbständige Lesen der Bibel und wohl auch die Auf¬
fassung des Evangeliums annahm, die sich dem einen und andern gelegentlich
durch die Beteiligung an einer deutschen Bibelstunde eingeprägt hatte. Diese
Auffassung war von der einfachsten Art: das Evangelium und nichts als das
Evangelium befriedigte das religiöse Bedürfnis. Das allgemeine Priestertum,
wie wir es in manchen protestantischen Sekten längst kennen, ersetzte das
Kirchentum, und die Kraft des Glaubens ersetzte die Kraft des kirchlichen
Priestertums. Wie ein Steppenbrand züngelte seit dem Anfang der sechziger
Jahre dieser evangelische Stundismus nach allen Seiten hin, Dorf auf Dorf
verließ die Staatskirche, um zur Bibelstunde zu gehen, das Evangelium zu
hören, Choräle und Lieder protestantischen Gepräges zu singen und oft auch
um ruhig den Hohn, die Schläge und Mißhandlungen zu erdulden, die ihnen
autorisirte und nicht autorisirte Anhänger der Staatskirche zu teil werden ließen.
Seitdem hat der Staat uuter Alexander II. milde, später, unter dessen Nachfolger,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/227>, abgerufen am 23.07.2024.